von Sven F. Goergens
Die Forellen nehmen gerade ein leichtes Frühstück aus frischer Flugware zu sich, weshalb ich eine helle Sedge mitten unter die Ringe segeln lasse. Den ersten Biss eines arglos steigenden Fisches vermassele ich mit einem verfrühten Anschlag. Die zweite Chance verpatze ich auch. Ein stattlicher Insektenfreund dreht im allerletzten Moment ab. Ich habe versäumt, genug Schnur nachzufüttern, sodass die Fliege verräterisch zu furchen beginnt.
Also ein drittes Mal: Jetzt muss alles sitzen. Ein paar schnelle Trockenwürfe, dann die Rute in den Vorwärtsschwung und die Fliege schwebt sanft wie ein Schneeflöckchen auf dem fischhaltigen Kehrwasser hinter einem Felsbrocken hernieder. Nur etwa zehn Sekunden bleiben der Attrappe zum Verführungsspiel. Dann wird die schnellere Uferströmung an der Schwimmschnur zerren und die Fliege mitreißen. Trockenfliegenfischen ist ein Wettkampf gegen die Zeit und nervenaufreibende Präzisionsarbeit. Ich verfolge mit ganzer Konzentration die kurz bemessene Reise meiner Imitation, noch 20 Zentimeter, noch zehn, jetzt endlich schnellt der Fisch vom Grund herauf, gleich wird er zupacken. Im selben Augenblick ertönt aus dem Unterholz in meinem Rücken ein schriller Schrei. Ich fahre herum, reiße dabei der verdutzten Forelle den Köder aus dem Maul und blicke in das tränennasse Gesicht meines dreijährigen Sohnes, der gerade seinen Kampf gegen eine Kolonie roter Waldameisen verloren hat.
Nun ja, alles futsch. Zu solchen Momenten des Coitus interruptus passt das Zitat des fabelhaften Zeichners und Kinderbuchautors Tomi Ungerer, der ganz freimütig bekannte: ≫Familienleben raubt Kraft und zerstört die Konzentration.≪
Nun sind wir Fliegenfischer beileibe keine hochkarätigen Kreativen wie Ungerer, der sich sein kokettes Statement wohl leisten kann. Aber dennoch scheint manchmal ein glückliches Familienleben mit einem ebenso glücklichen Fischerleben nahezu unvereinbar, und voller Groll und Trotz sinnen wir angelnden Väter auf kleine und große Fluchten.
Weil ich aber kein Freund von Männergesellschaft und einsamen Schlafsacken bin, und hübsche Fliegenfischerinnen sich an Isar, Inn oder einem irischen Loch rar machen, packe ich gerne meine ganze hübsche Familie mit auf die Angelreise ein.
Kleinere Zwiste lassen sich in dieser Konstellation allerdings nicht vermeiden. Meine geduldige Lebenspartnerin hat über die Jahre zwar große Gelassenheit für meinen Spleen entwickelt, weniger allerdings aus Verständnis für meine zeitraubende Leidenschaft als aus der Einsicht, dass man Besessenen besser nicht widerspricht. Manchmal aber weiß sie so treffsicher zu sticheln, dass schlechtes Gewissen meinen Anglerinstinkt besiegt. ≫Die Leute hier auf der Ferien-Insel sagen, sie sahen dich viel öfter mit der Angel in der Hand als mit mir im Arm.≪ Oder: ≫Hattest du nicht deinem Sohn versprochen, ein Gehege für seine Gummi-Dinos zu bauen?≪
Dann gebe ich klein bei, lasse die Doraden oder Meerforellen unbehelligt und gebe den perfekten Urlaubs-Papa.
Einmal, ich war damals noch blutiger Anfänger in der schwierigen Disziplin des Fliegenfischens, reisten wir gemeinsam nach Irland. Mein Sohn war noch nicht auf der Welt, meine Tochter erst zwei oder drei Jahre alt.
In den Angelkatalogen, die die Atlantikinsel anpriesen, waren stramme Lachse, kapitale Meerforellen oder gruselige Congers abgebildet, und die Verfasser der Begleittexte versicherten einhellig, dass auch das größte Greenhorn in diesen höchst fischreichen Revieren fängig würde. Leider hatten sie weder mein besonderes Maß an Unbeholfenheit noch die Wetterkapriolen in Rechnung gestellt.
Kaum hatten wir den Flug und die lange Autofahrt zum grünen und sehr malerischen Sudwestende der Insel hinter uns gebracht und unser abgelegenes Ferienhaus über den Klippen bezogen, legte sich eine dicke, wattige Decke aus Nebelwolken über die Landschaft. Als wir am ersten Morgen unseres Urlaubs erwachten, drückten wir unsere Nasen an der Fensterscheibe platt und staunten: Wir schwebten samt unseres spartanischen Feriendomizils in einem milchigen Nichts.
Die Umgebung hatte sich restlos in einer keltischen Wettersuppe aufgelöst. Irgendwo aus dem Nirwana blökten körperlose Schafe. Wir tasteten uns mit Kind im Arm zum Auto, das man in Ermangelung einer Wendemöglichkeit rückwärts die steile Auffahrt bis zur Landstraße manövrieren musste – schon bei günstigeren Sichtverhältnissen kein einfaches Unterfangen. Dann schlichen wir im Schneckentempo die gewundene Küstenstraße bis zum Dorf am Meer hinunter. Mittags hob sich das Leichentuch ein wenig, und während die Damen bei Tee und Toast im Café der Uferpromenade Trost fanden, machte ich mich auf die Suche nach einem gewissen Frank Donelly, der mir als mein Guilly, also Angelführer, zugedacht war.
Mr. Donelly war ein wortkarger Ire um die fünfzig, er trug einen Seemannsbart im Gesicht, eine Thermoskanne in der Hand und maß mich ganz unverhohlen mit prüfendem Blick. Er musste als Menschenkenner und Profi-Angler schnell zu dem Schluss gekommen sein, dass von mir nicht viel zu erwarten sei und er wieder einmal so eine ahnungslose Landratte vom Kontinent vor sich hatte, die seinen schönen Lachssee ohne leiseste Chance auf einen anständigen Fisch durchpflügen würde. ≫Are you sure, Sir, you want to go fishing now?≪, fragte er höflich und wahrscheinlich auch ein wenig verzweifelt. ≫There might be better days≪ – ≫es könnte günstigere Tage geben≪, fügte er vorsichtig hinzu.
Hätte ich in meinem blinden Eifer nicht darauf bestanden, sofort mit dem Boot eine erste Angeltour zu unternehmen, hätte ich vom besonnenen, klugen Donelly vielleicht ein paar entscheidende Informationen bekommen. Sein Angelrevier, der dunkle Lough Currane war durch einen kurzen Fluss mit dem Atlantik verbunden. Und weil es in den vergangenen Wochen kaum geregnet hatte, blieben die meisten Lachse und Meerforellen vor der flachen Mündung stehen und warteten auf steigenden Pegel und eine bequemere Gelegenheit, hinauf in den See zu wandern. So aber fügte sich der gute Donelly in meinen Wunsch (er hielt mich wohl ohnehin für beratungsresistent) und machte ergeben eines seiner robusten Holzboote mit Außenbordmotor startklar.
Weil die wenigen Lachse oder Sea-Trouts, die der düstere See zudiesem Zeitpunkt beherbergte, sich ein gutes Stück unter die Oberflache verdrückt hatten, tat R. Donelly das, was jeder vernünftige Angler mit Erfahrung und Revier-Kenntnis getan hatte. Er drückte mir eine kräftige Spinnrute mit einem mittelschweren Toby-Blinker in die Hand. Ich solle der Metall-Attrappe etwa 30 Yards Leine geben und hinter dem Boot herschleppen. Der gute Mann konnte ja nicht ahnen, dass ich damals frisch vom Fliegenfischer-Virus infiziert und wild entschlossen war, nie mehr anderes Angelgerät als eine Fliegenrute zu berühren.
Ich wies also seine Gerte entrüstet zurück, steckte meine Fliegenrute zusammen und erkundigte mich nach der geeigneten Fliege. Mr. Donelly seufzte tief. Für den höflichen Herrn muss es damals ein besonders schwarzer Tag in seiner langen Laufbahn als Angelführer gewesen sein. Allerdings wusste der Routinier, wie mit Greenhorns wie mir umzugehen war. Er verlor kein Wort über meine ungeeignete Rute (sie war zu kurz, für effektive Schwunge aus dem Boot braucht es eine 9er Gerte, mindesten 14 Fuß lang), denn danach hatte ich ihn ja nicht gefragt. Er band mir kurzerhand an meine Schwimmschnur ein bereits geknüpftes Vorfach mit zwei dunklen Nassfliegen und einer rötlichen Springerfliege.
Dann stachen wir endlich in See, glitten über das dunkle Wasser, das überall völlig gleich aussah und nirgends einen Einblick in seine schwärzliche, undurchdringliche Tiefe erlaubte. Unweit eines Inselchens mit Büschen und einem hübschen schmalen Kiesstreifen am Ufer, schaltete mein Angel-Cicerone den Motor aus. Totale Stille umfing uns.
Keiner spricht gerne über seine Blamagen, es sei mir also gestattet den traurigen Bericht über meinen ersten irischen Angeltag kurz zu fassen. Mr. Donelly wies mich an, meine Leine mit ein paar Schwüngen aufs Wasser zu legen und dann in Intervallen von 20, 30 Zentimeter flott einzuholen. Was ich an Würfen aus dem schaukelnden Gefährt und der ungewohnten Sitzposition zustande brachte, war so kümmerlich, dass es mir selbst graute. Das Vorfach kringelte sich, die Schnur planschte, das Bötchen geriet gefährlich ins Schwanken und Mr. Donelly schüttete sich den heißen Tee aus seiner Thermoskanne über die Hand. Sollten sich in diesem irischen Lough wirklich Lachse oder Meerforellen aufhalten, dann hatten sie angesichts meiner Stümperei längst das Weite gesucht.
Ziemlich verzweifelt versuchte ich es im Stehen. Dadurch erhöhte ich zwar meine Wurfweite, aber durch die ständige Gewichtsverlagerung drohte unsere Barke nun ernsthaft in Seenot zu geraten. Ich muss ein Bild vollendeter Lächerlichkeit abgegeben haben: Wie ein Schwerbetrunkener, dem der Gleichgewichtssinn abhanden gekommen ist, stieß ich mich an der Bordwand, verhedderte mich mit den Füßen in der eingeholten Leine und erzeugte mit meiner unfreiwilligen Akrobatik auf dem sonst spiegelglatten Wasser einen Wellengang wie bei aufkommendem Sturm.
Mein Guide trocknete sich mit einem gebügelten Schnupftuch in aller Ruhe die teenasse Hand, drückte mich sanft, aber resolut auf die Sitzbank und warf den Motor an. Schweigend tuckerte er zurück ans Ufer und ließ mich dort mit einem lapidaren Rat stehen: ≫Sie versuchen es besser am Fluss. Für den Inny gibt es Tageskarten im hiesigen Angelladen. Good Luck.≪
Meine Frau auf der Uferpromenade hatte einen strahlenden Helden erwartet, beladen mit armlangen Lachsen und einem Siegerlächeln im Gesicht. Was ihr entgegentrat, war ein zerknirschtes Männlein mit einem Selbstvertrauen, das auf die Größe eines Moderlieschen-Eies geschrumpft war.
Ich war sehr trostbedürftig. Deshalb verfügten wir uns stante pede in den nächsten Supermarkt, wo wir uns für unser neues Heim einen ordentlichen Weinvorrat zulegten. Wir staunten über die gepfefferten Alkoholpreise in einem Land, in dem das Wohlbefinden seiner Einwohner ja bekanntlich in direkter Abhängigkeit zur Zufuhr geistiger Getränke steht.
Überhaupt lernten wir auf diesem naturschönen Eiland das Staunen. Da gab es holperige Sträßchen, die von üppiger, tropisch anmutender Vegetation so überwuchert waren, dass man kilometerweit durch dunkelgrüne Tunnel reiste. Selten kam ein Fahrzeug entgegen, und einige der wenigen Autos, die sich mit einem freundlichen Hupen an uns vorbeidrückten, transportierten in einer Halterung bereits zusammengesteckte Angelruten auf Kühler und Dach. Dann wieder öffnete sich die Landschaft zu weiten Schotterhalden, baumlos und unwirtlich. Und alle naselang standen aufrechte Findlinge in ganzen oder halben Kreisen, als hätten Titanen Kegeln gespielt oder für Stonehenge geübt.
Wie um dem klimatischen Klischee vom kühlen, feuchten Irland zu spotten, wölbte sich schon am dritten Morgen nach unserer Ankunft ein tiefblauer Himmel über uns. Die Sonne brannte tagein, tagaus in hochsommerlicher Pracht herunter, eine Stunde vor Mitternacht erst versank der Feuerball für eine kurze Verschnaufpause im Atlantik. Meine kleine Tochter kugelte juchzend im Abendrot den sanften Hang vor unserer Terrasse hinunter, und die Eltern hielten sich wie der Fischer und ≫sin Fruu≪ im Arm und lauschten selig dem Kinderlachen oder der flüsternden Brise im hohen Gras.
Aber ein wenig trügte das Familienidyll doch. Man war ja nicht bis zum Atlantik gereist, um Urlaub wie auf einer mallorquinischen Finca zu machen. Zumindest der Fischer, wenn schon nicht seine selige Fruu, wollte ja Beute machen, wünschte zu kurbeln und zu drillen, bis die Arme schmerzten und die Bratpfanne statt mit irischen Lammkoteletts vom teuren Dorfmetzger mit Lachstranchen zu füllen.
Also bat ich mir zumindest halbtags Urlaub vom Urlaub aus und unternahm alles Mögliche und Unmögliche, um trotz anhaltender Trockenheit und niedriger Pegel dem schönen Irland wenigstens noch einen Fisch abzutrotzen. Immer wieder versuchte ich mein Glück an Mr. Donellys vermaledeitem See, allerdings nunmehr ohne seine Begleitung. Der Guide überließ mir nach einiger Überzeugungsarbeit und einer großzügigen Kaution eines seiner soliden Boote zur selbstständigen Benutzung. Ich glaube, so war es ihm auch deutlich lieber. Er bangte zwar nicht wenig um sein Eigentum in den Händen einer Landratte, musste aber dafür meiner dilettantischen Fischerei nicht zusehen. Dabei machte ich durchaus kleine Fortschritte. Nachdem ich zu einer 9er Rute gewechselt hatte, gelangen mir ab und zu auch im Sitzen ganz passable Wurfe, und das Boot kippelte kaum mehr. Freilich blieben meine Anstrengungen fruchtlos. Abends kehrte ich mit leeren Händen heim zur wartenden Familie, nicht ohne das Versprechen, es für den nächsten Tag mit meinen vergeblichen Versuchen bewenden zu lassen und stattdessen bei gemeinsamem Sonnenbaden herrliche Stunden in den blitzsauberen, feinsandigen Buchten zu verbringen. Doch auch dort ergab ich mich nicht ganz tatenlos meinem fischlosen Schicksal. Ich kramte den Katalog des Angelreiseveranstalters heraus, der für unseren Badeplatz Spaß und Spannung für Mama, Papa, Kind verhieß: ≫Die Darrynane Bay≪, stand da zu lesen, ≫ist ein traumhafter Strand für die ganze Familie. Der Vater geht in der Zwischenzeit mit der Brandungsrute auf Plattfisch oder Wolfsbarsch, oder mit der Spinnrute von den Felsen auf Makrele und Pollack.≪
Der Papa nahm die optimistische Gebrauchsanweisung beim Wort, oder fast beim Wort. Statt der empfohlenen Spinnrute schwang ich meine Fliegengerte, hatte Sinkschnur und Streamer angebunden und rechnete bei jedem Wurf mit kapitalen Meeresbewohnern, die ich unter Beifallsstürmen der Badenden am flachen Strand zu landen gedachte. Makrele und Co. aber blieben aus, sei es, weil nur stärkere Brandung die Fische in Ufernähe zog oder ich mit den wechselnden Gezeiten nicht zu Rande kam und just dann zur Stelle war, wenn Ebbe die Räuber ins tiefere Meer trieb.
Und so verwandelte sich unsere Irlandreise, die ich als großes atlantisches Angelabenteuer gebucht hatte, in einen beschaulichen Bade- und Faulenzerurlaub. Die gleißende Sonne blieb uns treu, die Temperaturen stiegen tropisch und die Messstationen der Flüsse meldeten rekordverdächtiges Niedrigwasser.
Ich wäre ein schlechter Verlierer gewesen, hätte ich meiner glücklichen Familie das Geschenk nicht gegönnt, das ihr das irische Ausnahmewetter und meine Erfolglosigkeit machten. Mama und Kind verfügten ganz unverhofft über einen Vollzeitvater. Und so wurden es glückliche Ferien, wenn ich auch oft unter meinem ungestillten Angler-Trieb litt.
Vielleicht war es auch nur ausgleichende Gerechtigkeit, die mir irisches Fischerglück versagte. Oft genug traten wir ja gemeinsam lange ägäische Familienferien an, und dort ließ ich meine Lieben verwaist am Strand zurück, fehlte beim Sandburgenbau, schwänzte das Frühstück in der Morgensonne und brachte mich um große Augenblicke: Einmal stahl ich mich in aller Herrgottsfrühe mit meiner Angeltasche aus unserem Haus am Meer, die Sterne verblassten gerade erst im Morgengrauen. Als ich zurückkam, standen sie bereits wieder am nachtschwarzen Himmel. Für meinen noch nicht ganz vierjährigen Sohn war es einer der denkwürdigsten Tage in seinem kurzen Dasein gewesen: Er lernte Schwimmen, hatte plötzlich den Bogen raus und glühte vor Stolz und Freude. Sein Glück wäre vollkommen gewesen, hätte der Vater nur Zeuge seines Triumphes (≫Papa, schau doch mal, was ich kann!≪) sein können. Aber der fehlte im entscheidenden Moment, und es war für beide nur ein kleiner Trost, dass Papa viel später noch ans Bettchen trat, um sich die unglaubliche Metamorphose vom kleinen Planschbeckenkind zum hochseetüchtigen Wassermann im Detail berichten zu lassen.
Das ist der Preis, den wir Fischer für unsere Besessenheit zahlen: Wir erleben große, einsame Momente und versäumen dabei familiäre Sternstunden.
Paartherapeuthen wissen freilich, dass Urlaube nicht nur wegen der Angelpassion der Väter eine gefährliche Sprengkraft entfalten können. Zwei Drittel aller Paare, rechnet eine Statistik vor, geraten just in den Ferien in heftigen Streit. Jede dritte Scheidung wird nach einem gemeinsamen Urlaub eingereicht. Besonders nach den Weihnachts- und Sommerferien brummen die Kanzleien der Scheidungsanwälte. Glücklicherweise existiert keine gesonderte Erhebung, die die strapazierte Urlaubsharmonie bei Familien mit Angelvirus untersucht. Es steht zu befürchten, dass dort partnerschaftliche Totalausfälle in sozialunverträglicher Menge nachgewiesen würden.
Unlängst las ich von einem britischen Kollegen, der sein Nachtlager regelmäßig und über mehrere Wochen am Teich einer ostenglischen Grafschaft aufschlägt. Ob der Mann, dessen ganzes Glück darin besteht, kapitale Karpfen zu mitternächtlicher Stunde mittels selbst zubereiteter Leckerbissen zu verführen, noch einen Job oder gar Kinder hat, ging leider nicht aus dem Bericht hervor. Dass seine zehnjährige Ehe mittlerweile beträchtlich an partnerschaftlicher Nahe eingebüßt hat, erschließt sich hingegen aus seinem selbstgerechten Zitat, das seiner sehr vereinsamten Gattin gilt: ≫Ich treibe mich ja nicht in Kneipen herum, sondern sitze brav mit meiner Angel am Seeufer.≪
Dabei handelt es sich um eine alarmierende Unkenntnis weiblicher Bedürfnisse. Auf einem Foto kann man den Herrn übrigens in eindeutiger Pose bewundern. Der selig Lächelnde hält einen riesenhaften, eindeutig übergewichtigen Spiegelkarpfen zärtlich wie eine dralle Geliebte in seinen Armen. Und aus den kleinen goldenen Augen des behäbigen Tieres leuchtet bei dieser Behandlung fast so etwas wie Zuneigung. Da haben sich offensichtlich zwei gefunden. Einem gemeinsamen Lebensweg scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Er röstet seiner Karpfendame knusprige Schoko-Boilies und sie dümpelt derweil behaglich in der lauwarmen Badewanne. Und des Fischers Fruu? Die reicht schließlich doch noch wegen Untreue und Lieblosigkeit die Scheidung ein.
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Diese Leseprobe ist der Anfang einer Kurzgeschichte aus dem Buch Gone Fishing von Sven F. Goergens. Auch auf den folgenden Seiten verliert er weder seinen Humor, noch seinen Mut.
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Gone Fishing – Bekenntnisse eines Besessenen
Autor: Sven F. Goergens
Verlag: Franckh-Kosmos Verlag
ISBN: 978-3440124475
Verlagslink: https://www.kosmos.de/4639/gone-fishing
Foto: © Sven F. Goergens privat
Weitere Leseproben aus dem Buch:
https://krautjunker.com/2017/06/02/ferien-fische/
https://krautjunker.com/2017/04/20/mit-der-fliege/
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