Die Marmorata

von Sven F. Goergens

Früher oder später beseelt die meisten Fliegenfischer der Wunsch, sich mit einem Lachs zu messen. Als Großwild unter den Fischen umgibt ihn der Nimbus abenteuerlicher Weltläufigkeit, denn Lachse sind weit herumgekommen. Bevor der Salmo Salar in einem Fluss Schottlands oder Kanadas auf einen klassischen Durham Ranger hereinfällt, hat er oft viele Hundert Meilen Wanderschaft auf dem Buckel. Das verbindet ihn mit der Klientel, die ihm nachstellt. Lachs und Lachsfischer sind beide Globetrotter. Wenn sie aufeinandertreffen, dann meist nach einer langen Reise. Dass der eine sie mit Flossenkraft zurückgelegt hat und der andere in der Businessclass eines Fliegers, tut dem großen Augenblick der Begegnung keinen Abbruch. Der erste Lachs ist für den Angler wie ein Ritterschlag.
Als unlängst ein alter Angelfreund von mir aus der Tundra Südwestalaskas heimkehrte, hatte der Familientherapeut einer kirchlichen Einrichtung so an Selbstvertrauen, Souveränität und Flottheit zugelegt, dass man ihm ohne Bedenken den heiklen Posten eines Pressesprechers der Hypo Real Estate hätte anvertrauen können. Mit jedem gedrillten Hundslachs oder Rotlachs war das Gewicht seiner Persönlichkeit beträchtlich gewachsen. Der gute alte Wolfgang erzählte mir – ganz ernsthaft – von »unbeschreiblichen Selbsterfahrungen in der Wildnis«, die »ihn zum Mann gemacht hätten.«
Wolfgang ist Anfang vierzig und hat drei Kinder im Grundschulalter. Der Beweis also, dass zumindest seine biologische Mannwerdung schon etwas weiter zurückliegt. Wie auch immer, der tapfere Alaska-Kämpfer war nicht wiederzuerkennen und schwamm noch Wochennach seinen Lachsbezwingungen auf einer Woge überschäumender Lebensfreude. Vielleicht wirkte seine Landung in einem wackligen Wasserflugzeug auf dem grandiosen Lachsfluss wie ein Initiationsritus, vielleicht hatte er seine verspätete Reifeprüfung in der Bärenschule abgelegt. »Bärenschule«, fragte ich Wolfgang verständnislos, »was für eine Bärenschule?« »Bevor man im Katmai-Nationalpark die Lizenz zum Fischen bekommt«, erklärte er mir nicht ohne Stolz, »lernt man den Umgang mit Grizzlies. Eines darf man beispielsweise bei einer Begegnung mit den Raubtieren auf keinen Fall tun.« »Und was?«, fragte ich. »Auf Bäume flüchten. Schwarzbären klettern nämlich hinterher und Grizzlies schütteln einen wie einen reifen Apfel herunter. « »Aha.«

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Abb.: Grizzly beimm Lachsfischen; Bildquelle: Photo by Mark Morones on Unsplash

Ich kann mir weder einen Bären-Orden, noch einen Lachs-Orden anheften. Den arktischen Bären-Test musste ich noch nicht bestehen, und mit dem König der Fische hatte ich bisher auch nur eine sehr flüchtige Begegnung. Bei meiner schon gebeichteten Irland-Angelei blieben einmal zwei Schüppchen an meiner Hakenspitze hängen, die der sachkundige Gillie einem großen, frisch aufgestiegenen Lachs zuordnete. Das ist die einzige Trophäe, mit der ich dienen kann. Alles andere wäre Flunkerei.
Ich habe aber trotzdem keinen Minderwertigkeitskomplex. Ichbevorzuge ohnehin die kleineren Geschwister des Lachses. Forellen sind auch aus guter Familie, wenn auch (mit Ausnahme mancher Meerforelle) nicht ganz so weit herumgekommen. Ästhetisch am überzeugendsten finde ich die Bachforelle. Sie besitzt die unaufdringliche Eleganz eines alten britischen Sportwagens. Wohlproportioniert und schlank, potent aber nicht protzig. Alle Bachforellen sind Unikate. Goldbraun lackiert mit handgemalten roten Tupfen. Oder dunkelsilbern wie ein Jaguar-E-Typ mit Patina. Und auch was die Launenhaftigkeit der kapriziösen Bachforelle anbelangt, empfiehlt sich der Vergleich mit einem alten Roadster. Der springt ja auch nur an, wenn ihm Witterung und Fahrer passen.

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Abb.: Bachforelle, mit der Fliege gefangen; Bildquelle: Wikipedia

Wenn ich der Bachforelle manchmal dennoch untreu werde, dann nur aus einem Grund. Sie ist kein Riese. Exemplare über 60 Zentimeter sind schon rar. Und die noch selteneren Fische jenseits dieser Marke haben meist einen zweifelhaften Stammbaum, der gerade mal bis zum nächsten Zuchtteich zurückreicht. Außerdem neigen übergroße Bachforellen zu Hängebäuchen (KRAUTJUNKER-Kommentar: Das ist bei Anglern nicht anders, aber alles ist schön, was man mit Liebe betrachtet).
Die Bachforelle ist meine Geliebte. Aber manchmal lässt man eine alte Geliebte für eine neue sitzen.
Als Bayer muss ich nur über die Alpen klettern, um mir in Südtirol oder Slowenien eine größere Mätresse zu angeln. Dort ist mein persönlicher Lachs-Ersatz, die legendäre marmorierte Forelle, zu Hause. Ein Ungetüm mit Rasse und Klasse, das fast die kapitale Größe eines Huchens erreicht. Ausgewachsene Marmorata erinnern mich an die kupferglänzenden U-Boot-Torpedos, die im Deutschen Museum zu besichtigen sind. An der Angel sind sie auch fast so explosiv.

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Abb.: Marmorata; Bildquelle: Wikipedia

Die erste Marmorata meines Lebens habe ich in Slowenien gesehen. Allerdings nur von Weitem. Nach nervenaufreibendem Drill zeigte sie kurz ihren bronzefarbenen Luxuskörper, dann spuckte sie meine Fliege aus und verschwand im tiefen Blau der Idrijica.

Abb.: Fliegenfischen im Soca Tal, auch bekannt als Isonzo; Bildquelle: Carl Christian Bittorf, RhönJagd


Als ich damals in Slowenien angelte, hatte ich wenig Glück und noch weniger Zeit. Eigentlich war ich auch gar nicht zum Fischen dort. Ich hatte einen dienstlichen Auftrag: Ich sollte meiner Redaktion eine Reportage über die Europabegeisterung der Slowenen liefern.
Das ehemals jugoslawische Land war gerade der EU beigetreten, und ich durchforstete seine Dörfer und Städte nach auskunftswilligen Einheimischen und atmosphärischen Eindrücken. Ich übernachtete am Bleder See in der protzigen Sommerresidenz Titos, die ein Investor zum Luxushotel umfunktioniert hatte. Im venezianischen Adria-Städtchen Piran spendierte ich in einer Studenten-Taverne eine Lokalrunde nach der anderen und kritzelte meinen Notizblock mit Statements voll. Ich reiste in die Hauptstadt Lubljana und führte ein paar Interviews mit DJs und Avantgardemusikern, um den Herzschlag des kleinen Landes zu fühlen.
Aber ich war nicht recht bei der Sache. Auf der Hinfahrt hatte ich im Postkarten-Dörfchen Kobarid Station gemacht und einen halben Nachmittag an der gleißend blauen Idrijica verbracht – ein Eindruck, der alle späteren überstrahlte.

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Abb.: Kobarid; Bildquelle Wikipedia

Der Fluss fluoreszierte wie ein Swimmingpool mit eingeschalteten Unterwasserscheinwerfern. Durchs frische Maigrün der lieblichen Landschaft zog er eine Leuchtspur, als gelte es ortsfremden Anglern den Weg zum schönsten Revier zu weisen. Sloweniens schimmernde Wasseradern bergen ein Geheimnis. Bis heute konnte keiner ergründen, welches hydrologische oder chemische Phänomen den Alpenflüssen solche Strahlkraft und Farbigkeit verleiht.

Abb.: Soca Tal, auch bekannt als Isonzo; Bildquelle: Carl Christian Bittorf, RhönJagd


Leider hatte mittags Regen eingesetzt. Auch die Tage zuvor war schon lang anhaltender, kräftiger Niederschlag gefallen. Die größere Soca hatte ihre Tönung bereits dem grauen Himmel angepasst und schwoll stündlich an.
Wenn ich fischen wollte, musste ich es rasch tun. Im Hotel in Kobarid kaufte ich eine Tageskarte, holte die wichtigsten Wegbeschreibungen ein, montierte meine Fliegenrute vor, warf sie in den Kofferraum und brauste los.
Eine Flussbiegung schien mir für die ersten Würfe geeignet zu sein. Von einem Kiesstrand ließ sich das tiefe Wasser am Prallufer gegenüber befischen. Dunkle Schatten standen verführerisch über dem hellen Grund. Erst als ich hastig meine Gerte zusammensteckte, wurde ich der Katastrophe gewahr. Die Spitze war gebrochen, wahrscheinlich zerdrückt von einem Gepäckstück, das während der kurvenreichen Fahrt auf die Angel gerutscht war. Ich wollte es nicht glauben. Himmelherrgottnochmal, warum denn ausgerechnet jetzt ein Rutenbruch? Ich drosch mit den Stiefeln in den Kies, dass die Steine flogen. Die Zeit verrann, der Regen fiel, das Wasser im Fluss stieg. Aber es half nichts. Ich musste zurück zum Hotel fahren und hoffen, dass man ir dort eine Fliegenrute auslieh.
Eineinhalb Stunden später stand ich wieder am selben Platz, nassgeschwitzt und außer Atem, in den nden eine geborgte Orvis-Forellenrute, Klasse fünf. Ich wählte eine matte Goldkopfnymphe und warf stromaufwärts.

Abb.: Fliegenfischen im Soca Tal, auch bekannt als Isonzo; Bildquelle: Carl Christian Bittorf, RhönJagd

Die Nymphe sank zügig ab und schwebte knapp über Grund, als sie den ersten Schatten passierte. Der regte sich nicht. Auch der zweite blieb steif wie ein Stock. Beim dritten meinte ich mit viel Fantasie und gutem Willen ein nervöses Zittern der Schwanzflosse wahrzunehmen. Also von Neuem.

Abb.: Rollwurf beim Fliegenfischen im Soca Tal, auch bekannt als Isonzo; Bildquelle: Carl Christian Bittorf, RhönJagd

Nichts. Noch einmal schickte ich die Nymphe auf ihren Ausflug. Gar nichts. Die Fische schienen ausgestopft und festgeschraubt zu sein. Wäre ja auch zu einfach gewesen.

Fliegenfischen im Soca Tal, auch bekannt als Isonzo; Bildquelle: Michael Fottner mit Guide Uroš Kristan

Gerade zog ich in Betracht für den nächsten Wurf einen saftigen Streamer anzubinden, als die Schwimmschnur, die längst über das Ziel hinausgetrieben war, sich ruckartig straffte. Eine halbe Sekunde später knarrte schon die Rolle. Etwas war aus dem Nichts gekommen und hatte die aufsteigende Nymphe gepackt. Die Reise ging im Eiltempo flussabwärts, nach dem Olivgrün der Fliegenschnur schnellte das Alarmrot des Backings durch die Ringe. Der Fisch hatte sich offensichtlich vorgenommen, ohne Zwischenstopp bis zur Soča-Mündung zu sprinten. Ich wollte gerade die Notbremse ziehen und den slowenischen Regionalzug zum Stehen bringen, als die Rolle plötzlich stillstand. Ich kurbelte behutsam ein. Keine Gegenwehr, nur das Eigengewicht der Schnur. Ich wickelte entgeistert weiter auf. Der Vorrat war fast auf der Rolle, als es wieder an der Gerte riss. Der neugierige Bursche hatte einfach kehrtgemacht und schwamm nun geradewegs auf mich zu. Wahrscheinlich wollte er feststellen, welcher Haderlump ihm die Siesta verdarb. Aus dem türkisen Swimmingpoolwasser schimmerte der Kupferglanz eines mächtigen Körpers. Für den Bruchteil einer Sekunde buckelte der Prachtkerl durch die Wasseroberfläche und ließ seinen wie mit Grünspan gesprenkelten Rücken sehen. Im selben Moment schüttelte das imposante Tier unwirsch den dicken Kopf und die widerhakenlose Nymphe aus dem Kiefer. Ende der Vorstellung. Tauchstation. Ein paar Augenblicke noch kräuselte sich das Wasser, dann glitt die Idrijica wieder blank dahin. Am schwarzen Himmel kündigte sich der nächste Guss an.
Solch spektakuläre Niederlagen lassen sich nur mit der Aussicht auf eine Revanche verwinden. Aufgewühlt und rachsüchtig schwor ich mir, in ein paar Tagen nach Erledigung meiner journalistischen Geschäfte wieder an Ort und Stelle zu sein. Ich war es auch. Nur der blaue Fluss war verschwunden. Stattdessen rauschte eine Sintflut durchs Tal, genauso braun wie mein Morgenkaffee. Das Dörfchen Most na Soči am Zusammenfluss von Idrijica, Soča und Baca drohte abzusaufen. Die hübsche Märklin-Landschaft mit ihren geschwungenen Eisenbahnbrücken, schlanken Kirchtürmen und roten Ziegeldächern hüllte sich übellaunig in Nebelschwaden.

Abb.: Michael Fottner mit Marmorata in Idrija; Bildquelle: Michael Fottner

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KRAUTJUNKER-Kommentar: Diese Leseprobe ist der Anfang einer Kurzgeschichte aus dem Buch Gone Fishing (siehe unten). Zur Marmorata auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Marmorierte_Forelle

Abb.: Fliegenfischen im Soca Tal, auch bekannt als Isonzo; Bildquelle: Carl Christian Bittorf, RhönJagd

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Gone Fishing


Titel: Gone Fishing – Bekenntnisse eines Besessenen

Autor: Sven F. Goergens 

Verlag: Franckh Kosmos Verlag

ISBN: 978-3440124475

Verlagslink: https://www.kosmos.de/4639/gone-fishing

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Weitere Leseproben aus dem Buch:
https://krautjunker.com/2017/06/02/ferien-fische/
https://krautjunker.com/2017/04/20/mit-der-fliege/
https://krautjunker.com/2017/06/20/urlaubsfrieden/

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