Dies ist eine Leseprobe aus In 80 Bäumen um die Welt. Wie in meiner bereits veröffentlichten Buchvorstellung beschrieben, stellt der Autor 80 Bäume auf allen Längen- und Breitengraden vor. Die ohnehin fesselnden Texte wurden von Lucille Clerc illustriert. Dieses Essay widmet sich der Hänge-Birke in Finnland.
Ich kann mir den Hinweis nicht verkneifen, dass es auf KRAUTJUNKER weitere spannende Texte zu Birkenwasser, Fliegenpilzen und schamanistischen Rausch-Ritualen gibt.

von Jonathan Drori
Die Hänge-Birke ist eine echte Pionierin. Pollenwolken stieben aus ihren Kätzchen, und der Wind trägt ganze Pulks geflügelter Samen davon. Während der Gletscherschmelze der letzten Eiszeit vor rund 12.000 Jahren gehörte die Birke zu den ersten Bäumen, die sich auf dem nackten Boden ansiedelten. Deswegen ist sie in einem großen Lebensraum heimisch: von Irland über Nordeuropa, das Baltikum und den Ural bis nach Sibirien. Birkenwälder weisen eine große biologische Vielfalt auf. Die Birkenwurzeln befördern Nährstoffe nach oben, die wiederum den Boden verbessern, wenn die Blätter fallen, und die feingliedrigen Kronen lassen anderen Pflanzen genügend Licht.
Mit zarten, hängenden Zweigen, die sich leicht im Wind bewegen, wirkt dieser Baum anmutig wie eine Balletttänzerin. Auf den Blättern – rautenförmig mit doppelt gesägtem Rand – sitzen warzenartige Harzdrüsen. Die auffällige weiße Rinde stellt eine Anpassung dar: So bleiben die Stämme, denen kein dichtes Laub Schatten spendet, bei der intensiven Sonneneinstrahlung im nordischen Sommer bzw. im Schnee gleichmäßig temperiert. Die Rinde junger Birken ist angenehm glatt. Mit zunehmendem Alter reißt der Stamm von unten her in breite, dunkle Furchen auf. Aus der dicken Borke kann man durch Verkochen ein teerartiges Pech gewinnen, dem der Baum seinen lateinischen Namen Betula verdankt (eine ähnliche Herkunft hat das Wort „Bitumen“). Und unsere Vorfahren haben Birkenharz schon vor rund 5.000 Jahren als antiseptisches Kaugummi verwendet – man hat Stücke mit Zahnabdrücken darauf gefunden.
Die demokratisch eingestellten Finnen wählten die Hänge-Birke 1998 zum Nationalbaum. Das lag weniger am kommerziellen Nutzen der Birke, die eine hervorragende Holzlieferantin ist, als an ihrem emotionalen Stellenwert. Schneebedeckte finnische Birkenwälder mögen tagsüber blendend hell und etwas unübersichtlich aussehen, aber in langen Winternächten haben die mondbeschienenen Baumsilhouetten etwas Geisterhaftes. In etlichen nordischen Märchen spielen Birken eine Rolle, Aberglauben und Rituale ranken sich um sie. Als Frühlingselixier trinkt man z. B. Birkensaft, der im Baum aufsteigt, bevor die Knospen aufgehen. Abzapfen ist einfach: Man bohrt ein kleines Loch in die Südseite des Stamms und setzt ein Röhrchen an. Die austretende farblose Flüssigkeit schmeckt wie leicht gesüßtes Wasser. Birkensaft enthält einige wichtige Vitamine und Mineralien, allerdings nicht genug, um ein Allheilmittel zu sein.
Seit Jahrhunderten wird die Birke verehrt, weil sie regenerierende Kräfte hat – und weil sie vor Hexerei schützen soll. Manche Finnen stellen heute noch Birkenruten vor die Haustür, um Unheil abzuwehren. Wenn Birkenzweige von einem Pilz der Gattung Taphrina befallen sind, verwachsen sie zu strubbeligen Nestern („Hexenbesen“), denen in vielen Kulturen übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden.
Während Taphrina Birken schwächt und Wuchsstörungen auslöst, gibt es andere Pilze, die mit den Bäumen eine Lebensgemeinschaft (Mykorrhiza) eingehen. Mykorrhizapilze besiedeln die Wurzeln und breiten sich in Form eines Netzes aus hauchdünnen Fasern über diese hinaus aus. Dieses Feinwurzelsystem entzieht der Erde wirksam Nährstoffe und gibt diese in gut „verdaulicher“ Form an den Baum weiter. Die Pilze erhalten ihrerseits Zuckerstoffe vom Baum. Für diese besondere Form der Symbiose braucht jeder Baum ganz bestimmte Pilze. Der Lebenspartner der Birke ist Amanita muscaria: der Fliegenpilz. Mit seinem roten Hut und den weißen Punkten darauf (sichtbar ist der Fruchtkörper) verkörpert er den klassischen Giftpilz aus dem Märchen. Fliegenpilze enthalten Halluzinogene, die früher auf der ganzen Nordhalbkugel bei schamanistischen Ritualen genutzt wurden, besonders von sibirischen Völkern, und den Samen in Finnland und Nordschweden. So weit, so menschlich – Rauschmittel gibt es in vielen Kulturen. Interessant ist allerdings, dass die Fliegenpilzgifte im Körper nicht vollständig abgebaut, sondern teilweise unverändert wieder ausgeschieden werden. Das bietet die verlockende Möglichkeit, einen Rausch zu bekommen, indem man den drogenhaltigen Urin anderer trinkt. Im hohen Norden sind die Winternächte ja lang, und in den Wäldern war sonst vermutlich nichts los. Dennoch kann ich mir kaum vorstellen, dass diese Praxis wirklich so weit verbreitet war, wie man den wenigen Besuchern damals weisgemacht hat, die begeistert von den Pisse-Trinkritualen berichtet haben.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.

Titel: In 80 Bäumen um die Welt
Autor: Jonathan Drori
Illustratorin: Lucille Clerc # https://lucilleclerc.bigcartel.com/
Abb.: © Lucille Clerc für Laurence King
Verlag: Laurence King Verlag GmbH
Verlagslink: https://www.laurencekingverlag.de/produkt/in-80-baeumen-um-die-welt/
ISBN: 978-3-96244-016-9
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Buchvorstellung: https://krautjunker.com/2019/05/04/in-80-baumen-um-die-welt/
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