Freud’ am Wasser

von Bertram Graf v. Quadt

Es gab bei uns zu Haus’ ein Schrankl, da durften wir Kinder unter höchsten Strafen nie dran. Es stand in der väterlichen Bibliothek links neben der Tür, und darin war der Plattenspieler meines Vaters. Manchmal, an den Wochenenden, oder wenn der Betrieb Ferien hatte, ging er daran, zog eine Schallplatte heraus, nahm sie mit vorsichtigen Fingern aus ihrer Hülle, legte sie umsichtig auf den Plattenteller und lies sanft die Nadel darauf fallen. Und wenn es ein ganz guter Tag war, dann spielte diese Platte die alte, bairische Volksmusik, so wie sie der Kiem Pauli, der Tobi Reiser oder der Wastl Fanderl gesammelt hatten, gerettet hatten vor dem Vergessen und vor der viel größeren Gefahr der Fellachisierung durch die Industrie der volkstümlichen oder besser volksdümmlichen Musik.

Grad der Wastl Fanderl, der war mein Held. Den kannte ich aus dem Fernsehen! Denn eine der wenigen Sendungen, die ich als kleines Büble unter der liebevollen Drachenkuratel meiner Kinderschwester, die schon meine Mutter und ihre Geschwister gehütet hatte, die ich also mit meiner alten Deta anschauen durfte, die kam immer um zwei Minuten nach Sieben im bairischen Fernsehen, hieß „Unter unserem Himmel“, und das Eingangsbild, die Titelmusik, die haben sich mir ganz tief eingeprägt: Die Kamera richtete sich auf das Schallloch einer Zither, die spielte ein ganz altes Lied, das noch der Kiem Pauli geschrieben hatte: „Üba d’Alma, då gibt’s Kalma, da gibt’s weichslbraune Küah“. Und öfter als oft kam dann die tiefe Stimme vom Fanderl Wastl, der erzählte, wo er wieder gewesen sei und wem er beim musizieren zugehört hatte, tauchte sein schmales Gesicht auf, immer das Pfeiferl im Fang. Dann saß er wieder in irgendeiner einfachen Stub‘ irgendwo im Bairischen, im Salzburgischen, im Tirol oder halt sonst wo im Gebirg und zeigte mir, wie schön, wie reich diese Musik ist an der sich große Musiker wie Mozart, wie Haydn, wie Richard Strauss und andere mehr bedient hatten.

Mein Bruder, der viel älter und reifer war als ich, der kannte nicht nur den Wastl, der kannte auch eine ganze Reihe der Musikanten in den jeweiligen Sendungen. Zum einen war er der Älteste bei uns, zum anderen hatte er die ganze Musikalität, die vor allem in der mütterlichen Familie war, in konzentrierter Form abbekommen, konnte er diese Musik nicht nur verstehen, er konnte sie selber machen. Gern hätte ich auch sagen können: „Den kenn’ ich gut, und mit dem da haben wir damals in Kreuth oder auf der Schanz oder am Tegernsee oder in Berg oder sonst wo soviel gelacht!“. Ich kannte halt nur den Wastl Fanderl, und den auch nur aus dem Fernsehen, damals. Der Fanderl hatte für die Volksmusik ein ganz extra Gutes getan: er hatte auf Schallplatten heraus gebracht was er als sein Bairisches Bilder- und Notenbüchl genannt hatte. Das waren schöne Weisen und Lieder, die er nach Themen und Sujets geordnet hatte. Diese Schallplatten hießen dann Am Tanzboden, Jäger im Gebirg oder Bairisches Spectaculum und dergleichen mehr. Alle hatten sie besonders schön gezeichnete und gemalte Hüllen. Aber besonders hatte es mir eine angetan, und die hieß wie dieses Geschichtlein hier: Freud am Wasser.

Das Bild auf der Hülle zeigte einen Fluss, darauf ein großer Lastkahn fuhr mit blau-weiß gestrichenem Rumpf gesteuert von zwei Schiffern in Lechtaler Tracht. Im Hintergrund hantierten zwei Männer auf einer Zille mit dem Netz, Tegernseer von der Tracht her mit ihren Spitzhüten und der braunwollenen Weste und ganz vorn im Bildl saß einer mit Sauschneiderhütl, Langschäftern, schwarzlederner Hos und brauner Joppe, der hatte die Pfeif im Maul und die Angel in der Hand, und um seinen Köder schwammen dicke Karpfen und Brassen. Das Bild habe ich als ganz kleiner Bub immer wieder betrachtet und mich selbst ans Wasser gewünscht, so eine Rute in der Hand und einen Fisch daran. Denn immer, wenn das Frühjahr gekommen war, dann standen Vater, Mutter und Bruder des Nachmittags in der Halle, in Watstiefeln und Weste, lange, schmale Ruten in der Hand und fuhren hinaus ans Wasser, zum Fischen. Wie sehr wünschte ich mir, da einmal dabei sein zu dürfen! Aber so sehr ich bettelte und greinte, ich war halt einmal noch zu klein dazu. Denn die Art der Fischerei, der Eltern, Bruder und manche Gäste nachhingen war nicht das beschauliche Wurmbaden am Gestade eines stillen Sees oder Teiches. Bis zum Knie, bis zur Hüfte, und manches missliche Mal auch noch tiefer standen sie im schnellen Wasser eines Vorgebirgsflusses und schwangen ihre biegsamen Gerten im präzisen Rhythmus, ließen die Leine im kühnen Flug schießen und landeten ihren Köder auf den Meter genau: High speed, high line, dry fly. Fliegenfischen.

Ich hatte diese hohe Kunst vom Kinderzimmer aus schon beobachten können: wann immer die Gäste zum Fischen kamen, stand mein Vater unweigerlich nach dem Mittagessen mit ihnen vor dem Haus auf der Wiese und ließ sie werfen: entweder galt es neue Ruten, Rollen und Schnüre zu erproben, oder er wollte sich schlicht überzeugen davon, wie weit es der jeweilige Gast in der hohen Kunst des Casting gebracht hatte, welche Wasserstrecken ihm somit zuzutrauen waren – und welche nicht. Noch heute, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn: Pfeife oder später Zigarre schräg im Mundwinkel, seine lange, weiche Orvis in der Hand, den Daumen auf den Griff gelegt, Schulter und Ellbogen wie ein feinabgestimmtes Pleuel bewegend. Die Schnurhand verkürzte im Rückschwung und ließ im Vorschwung schießen, immer länger wurde die fliegende Leine, bis sie endlich mit sirrendem Geräusch vollends ausschießend am vorbezeichneten Punkt, einem Blatt oder Ast landete. Mir schien das damals reine Hexerei, höchst erstrebenswerte reine Hexerei!

Das Zauberwerkzeug zu dieser Kunst verwahrte mein Vater in einigen Schränken in der Anrichte des Elternhauses. Manches Mal, wenn ich der Kinderschwester entwischen konnte, spitze ich da hinein. Den Geruch dieser Schränke habe ich heute noch in der Nase: Das Gummi der Regenjacken und der Watstiefel, der Lack der gesplissten Bambusruten, das Wachs, mit dem die seidenen Angelschnüre imprägniert wurden, Algen, Fisch und Schweiß. Wahrlich weder Nektar noch Ambrosia. Mir kleinem Buben aber war es der Duft von Freiheit, von Grenzenlosigkeit, von Abenteuer! Vorerst konnte ich davon nur träumen, und das tat ich in extenso, vor allem, wenn ich heimlich vor dem geöffneten Schrank stand und die Pracht bewunderte. Oder wenn ich den Gästen meiner Eltern zusah, wie sie auf dem Rasen die Ruten erprobten. Ich war damals noch zu klein, um die Gäste zu kennen, aber aus Aufzeichnungen wusste ich, dass darunter große und größte Namen der Fliegenfischerei waren: Charles Ritz war einer, oder der Belgier Pierre Creusevaut, Frank Sawyer, der Stream Keeper am Avon und Autor des Buches Nymphs and the Trout ein anderer. Den für mich wichtigsten von allen aber, den durfte ich mit der Zeit persönlich kennenlernen.

Es war ein besonders schöner Frühsommer, ich war sechs Jahre alt, und die großen Ferien, meine ersten großen Ferien hatten begonnen. Das Haus war voller Fischergäste, enge Freunde meiner Eltern und nachmalig auch meiner Frau und meiner selbst, Mavourneen und Bobby Schiff waren aus England nach Isny gekommen, um zu fischen. Und dann war da noch ein Herr aus Österreich, mit großen, schweren Händen, einem immer lachenden Gesicht, einer großen, scharf gebogenen Nase und zwei blitzenden Augen, so dass er selbst beinahe aussah wie eine Forelle. Der stand eines Tages mit meinem Vater auf dem Rasen, probierte mehrere Ruten aus und winkte mich mit einem Mal zu sich heran. Uns Kindern war eingeschärft worden, dass wir, wenn die Erwachsenen warfen, nicht auf den Rasen zu kommen hätten, da wir sonst von den peitschenden Schnurenden bös zugerichtet würden. So kam ich nur sehr scheu und zögerlich auf diesen Mann zu, denn ich hatte Angst. Sein breites, freundliches Lachen machte mir aber genügend Mut, und so war ich dann doch endlich bei seiner Seite, stets in der Angst vor dem Donnerwetter, da ich doch ein väterliches Gebot übertreten und auf den Rasen gekommen war. Der Mann griff neben sich ins Gras und hob eine kurze, steife Bambusrute auf. Sie war nur um eine Spanne länger als ich. Eine kleine Rolle war am zigarrenförmigen Korkgriff befestigt, die gelbe Schnur darauf lief durch die Schlangenringe, die mit roter Seide am sechskantigen Tonkin-Rohr befestigt waren, und vorne am Spitzel, das kaum stärker schien als die Leine selbst, fiel sie herab ins Gras.

Der Mann legte mir den Rutengriff so in meine Rechte, dass der Zeigefinger an der Stange anlag und die anderen vier Finger sich um den Griff schlossen. „Locker halten, aber nicht loslassen“, sagte er. Dann kniete er sich hinter mich, umfasste meine Bubenhand mit seiner großen Pranke und begann, meine Hand in einem Zweitakt-Rhythmus nach hinten und wieder nach vorne zu bewegen. Die Schnur auf dem Boden tat nur ein paar kleine Hopser und ihre Bewegung glich in nichts den kühnen und sausenden Bögen und Schleifen, die die Erwachsenen in die Sommerluft zeichneten. „Lass den Arm ganz locker, dann geht es schon“, flüsterte er mir ins Ohr und bewegte meinen Arm weiter vor und zurück. Ich begann mich, so gut ich es halt konnte, auf diese Bewegung einzulassen, ihr nichts entgegenzusetzen, mich ihr hinzugeben. Erst machte die Schnur ein paar schleifende Bewegungen auf dem Boden, aber dann kam mit einem Mal Leben in sie: sie löste sich aus dem Gras, als mein Arm nach hinten schwang, das Ende sauste in Kniehöhe an mir vorbei und streckte sich in einer graden, aufsteigenden Linie nach hinten durch. Mein Lehrer hielt meinen Arm in diesem Augenblick für einen Sekundenbruchteil am Ende des Rückschwungs fest, dann schob er ihn mit etwas Kraft nach vorne, und ich konnte mit einem Mal das Leben der Schnur in meiner Hand fühlen, konnte spüren, wie sie sich erst gegen den Schwung nach vorne sträubte, dann aber nachgab und in hohem Bogen über meine Rutenspitze nach vorne schoss und immer weiter nach vorne, bis mein Lehrer ihr Einhalt gebot und sie mit stetigem Zug meines Armes wieder nach hinten holte, sie wieder nach vorne schoss, abermals zurückgeholt wurde um wieder, diesmal in noch kühnerem Bogen nach vorne zu schießen und endlich gerade und völlig gestreckt sanft im Gras landete. „Halt die Rute einmal ganz waagrecht. So, siehst Du, das ist Neun Uhr. Die Uhr kennst Du doch, oder?“ Ich nickte. „Dann geh mit der Rute jetzt einmal auf Elf, und dann auf Ein Uhr. Genau. Zwischen diesen beiden Punkten darfst Du die Rute bewegen, weiter nicht. Gib der Schnur Zeit, sich nach hinten oder vorne zu strecken, bevor Du sie wieder zurückholst. Und lass das Handgelenk immer fest, es darf sich nicht abwinkeln!“ Mit diesen Worten ließ er mich stehen.

Ich schwang meine Leine wohl den ganzen Nachmittag hin und her, ließ sie fliegen, befahl ihr die Gegenrichtung an, spürte ihr Leben, ihr Gewicht in meiner kleinen, aber elastischen Angelrute zucken und vibrieren und konnte dieses Zaubers mich satt nicht spielen, fühlen, sehen, sein. Ich vergaß völlig die Welt um mich her, es gab nur noch die Rute und mich, und die glitzernden, sausenden Bögen meiner Schnur. Irgendwann nach Zeit und Ewigkeit merkte ich, dass mein Vater neben mir stand und mich anlächelte. Er mochte da schon seit Minuten gestanden haben, ich hatte ihn nicht bemerkt. Ich ließ meine Schnur noch einmal nach hinten steigen, holte sie dann nach vorne zurück und legte sie gerade und gestreckt ab. „Bravo!“Mein Vater lobte nur selten, umso stolzer war ich über dies eine Wort. Er nahm meine Rute in seine Hand und zeigte mit dem Finger auf die Stange, grade überm Griff, der mit eben der gleichen roten Seide abschloss, die auch die Ringe an der Rute hielt.. Da stand in kleinen, geschwungenen schwarzen Lettern unter dem durchsichtigen Lack: „Super Hans Petit, 160 cm“. „Dein Bruder Alexander hat auch so eine, die hat grüne Markierungen. Die hier hat Dein Lehrer für Dich gebaut, sie gehört Dir!“ Ich blickte meinen Vater ungläubig an und brachte nur mit Mühe die Worte heraus: „Papi, wer ist dieser Mann?“ – „Das ist der Hans Gebetsroither.“ Er war mein Lehrer.

Ich muss nun ein wenig ausholen um zu erzählen, wie es überhaupt zur Bekanntschaft mit all diesen Fischergrößen gekommen war. Charles C. Ritz, der große Hotelier und Fischer, hatte den Anstoß dazu geliefert. Er hatte von einem Fluss in den Allgäuer Voralpen gehört, der schöne Besätze an Äschen und Bachforellen habe. Dieses Wasser, die Obere Argen, war im Besitz meines Vaters, und so kam Charles Ritz denn eines schönen Tages in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts zum Fischen nach Isny. Meine Mutter kannte das Fischen mit der trockenen Fliege von ihrem Vater, mein Vater hatte wenig Ahnung davon. Hans Gebetsroither, der seinerzeit vom Ghillie oder Lagelträger, sprich von dem, der den hohen Herren ihren Krempel am Wasser hinterher schleifte und dafür sorgte, dass sie die Fische fanden, Hans, der zum Stream Keeper an der Traun aufgestiegen war, war damals schon eine bekannte Größe. Er hatte sich selbst das Werfen von den Gästen abgeschaut, hatte die Wurftechnik verbessert und begonnen – als reiner Autodidakt – seine eigenen Ruten aus gesplisstem Tonkinrohr zu bauen. Ihm war aufgefallen, dass die langen und weichen Ruten von Orvis oder Hardy nicht für die engen und stark überwachsenen Flüsse der Alpen und Voralpen taugten. So baute er kurze, steife, aber dennoch sensible und ungemein schnelle Ruten. Mein Vater war in den frühen sechziger Jahren zu ihm nach Gmunden gereist, um von ihm die Fliegenfischerei zu lernen. Denn wenn schon ein Herr Ritz am eigenen Wasser fischt, dann darf der Besitzer nicht einfach nur zusehen.

Zwischen Charles Ritz und meinen Eltern war eine enge Freundschaft entstanden, und sie wurden Mitglieder im 1958 gegründeten International Fario Club, der sich einmal im Jahr in Paris traf: Castingwettbewerbe im Bois de Boulogne füllten den Tag, am Abend traf man sich zu einem Dinér im Hotel des Präsidenten. Zum zweiten oder dritten dieser Treffen nahm mein Vater dann auf Einladung von Charles Ritz Hans Gebetsroither mit, und beide nahmen an den Castingwettbewerben teil. Was sich hier so en passant schreibt, war keine Kleinigkeit: bei diesen Wettbewerben im International Fario Club trat die Weltspitze gegeneinander an, mit speziell für diesen Zweck des Hochleistungscastings gebauten Ruten, die meist sehr lang waren und auf der ganzen Länge Aktion zeigten. Dazu wurden sie noch mit speziellen shooting-head-Schnüren geworfen und brachten erstaunliche Wurfweiten. Gegen diese „hochgerüsteten“ Spezialisten traten Hans und mein Vater nun mit ihren Zahnstochern der Marke Eigenbau an – und gewannen. Aus diesen Jahren her rührte die Fischereitradition bei uns zu Hause, und ich hatte in Hans Gebetsroither sicherlich mit den besten Lehrer, den man je für die Fliegenfischerei im Gebirg haben konnte.

Das alles wusste ich damals, als ich meine erste Rute von Hans bekam, natürlich nicht. Aber ich wusste instinktiv eines: ich hatte einen Freund gefunden, und noch dazu einen, der mir eine völlig neue und ungemein faszinierende Welt erschloss. Das alles lag in den Worten meines Vaters an jenem Sommertag: „Das ist der Hans Gebetsroither.“ Dieser Tag war, nebstbei bemerkt, mit diesem Satz noch nicht zu Ende. Wenn wir Fischergäste hatten, dann fand das Abendessen erst lang nach Dunkelwerden statt, und wir Kinder hatten zu der Zeit längst im Bett zu sein. Bestenfalls durften mein Bruder und die ältere meiner beiden Schwestern dabei sein, aber ich bezweifle, dass sie viel davon hatten, denn die Konversation lief auf Englisch oder Französisch. Aber: bevor alles an die Argen hinausfuhr um zu fischen, gab es eine große Jause, da durften wir alle dabei sein und uns an ungeahnten Köstlichkeiten gut tun. Bei dieser speziellen Jause tuschelte Hans Gebetsroither immer wieder mit meinen Eltern, und ein ums andere Mal fielen die Blicke dabei auf mich. Ich war furchtbar aufgeregt, weil ich im Stillen hoffte, ja, ahnte, was kommen würde, und bekam keinen Bissen herunter. Noch während die Gäste aßen, stand meine Mutter auf, kam um den Tisch herum auf mich zu, nahm mich bei der Hand und führte mich aus dem Esszimmer. Draußen in der Küche sah sie mich lange an und fragte: „Bist Du schon so weit, dass Du mit ans Wasser kannst?“ Mir schoss es siedendheiß auf, ich lief dunkelrot an, die Zunge versagte mir und so konnte ich meine Zustimmung nur heftig herausnicken. Sie sah mir forschend in die Augen und führte mich dann zu dem besagten Schrank, entnahm ihm ein altes Paar Watstiefel, drückte sie mir in die Hand und sagte nur: „Fall nicht in den Fluss.“

Ich weiß, dass manch ein Leser sich vielleicht wundert und fragt, ob meine Eltern nicht überstreng, lieblos und arg distanziert mit uns Kindern umgingen. Ich habe mir selbst oft diese Frage gestellt, habe oft genug darauf Anklage gegen Vater und Mutter geführt und ihnen heftige Vorwürfe gemacht darum in meinen wilden Jahren. Heute, mit etwas mehr Wissen und Verstehen, weiß ich, dass ich falsch lag. Beiden, Vater und Mutter, ist die Liebe zur Natur, die Achtung vor der Kreatur so hoher Wert, so hohes Gut, so tief verwurzelt, dass sie natürlich ihre Kinder, die sie über alles liebten, genau prüften und erforschten, bevor sie sie auf lebende Wesen losließen, sei es auf die Jagd oder auf die Fischwaid. Und dass sie uns überhaupt darauf losließen, dass sie uns davor prüften, das werte ich als Beweis einer großen Liebe – auch wenn es etwas Nachdenken brauchte, um sie zu erkennen.

Die Jause jenes Sommernachmittages wollte und wollte nicht zu Ende gehen. Ich saß in meinen Watstiefeln auf der Treppe vor dem Haus, meine neue Fliegenrute in den Händen und fieberte dem Moment entgegen, da mein Vater mit den Gästen aus dem Haus treten würde, um endlich aufzubrechen zum Abendsprung, meinem ersten Abendsprung. Es scheint mir heute ein Wunder, wie langsam die Zeit damals verrinnen konnte. Bei jedem Geräusch, jedem Schritt, den ich im Hause hörte, bei jedem Stimmenlaut, jedem drinnen gesprochenen Wort zuckte ich zusammen und wollte aufspringen. Aber immer noch kam keiner heraus vor die Tür, blieb ich mit meiner Sehnsucht, meinem Nicht-Mehr-Warten-Können allein. Eine Uhr nannte ich damals noch nicht mein Eigen, und wohl war das gut so: sie hätte mir nur, wieder und wieder besehen, noch deutlicher gezeigt, wie langsam die Minuten verstrichen.

Endlich einmal war es dann doch so weit: die Gäste kamen heraus, mein Vater und Hans Gebetsroither endlich auch, und verteilten sich auf die Autos. Ich wurde hinten in den grünen VW Variant meines Vaters verfrachtet, er setzte sich ans Volant und Hans auf den Beifahrersitz. So ging es hinaus ans Wasser, und den Weg, den ich damals noch nicht kannte, den bin ich danach so oft gefahren, dass ich ihn heute mit allen Kreuzungen und Abzweigen blind noch träfe auf den Meter genau: zum unteren Tor hinaus, dann beim Bäck links ab, hinter dem Sauweiher durch nach der Brauerei hin, die große Bundesstrasse querend nach Neutrauchburg hinaus. Dort den Weg zum Fischergut und nach Dengeltshofen hin rechts liegen lassend an den Kurkliniken des Onkels vorbei und zum Dorfe hinaus, ein Tal hindurch und in den Wald hinein. Diesen nach langgezogener Linkskurve verlassend, den Hügel hinab ins nächste Dorf, nach Unterried. Und jetzt den ersten Abzweig nach rechts auf die Rieder Brücke: wir sind am Wasser! Stehenbleiben, das Wasser lesen, den Stand, die Fließgeschwindigkeit, die Klarheit mit den Augen prüfen. Geht sie hoch und trüb, dann müssen wir weiter hinab, unter den Stausee hin. Ist sie nieder und klar, dann haben wir die ersten guten Plätze in greifbarer Nähe.

Breit standen die Kiesbänke am Ufer, die Argen führte wenig Wasser. Mein Vater sah Hans an: „Mühlschuss?“ – „Oder der stade Überzug unterbei.“ – „Alsdann.“

Fünfhundert Mete nach der Brücke steuerte mein Vater den Wagen seitab auf einen Feldweg, dem Uferholz entlang, durch den Augürtel durch, und wir standen am Fluss. Vis á vis mündete die Isnyer Stadt-Ach in die Argen, mein Vater deutete an, dass er diesen Teil befischen wollte. Hans Gebetsroither nahm mich an der Hand und ging mit mir flussabwärts. Das Ufer war hoch und abschüssig und unter uns rauschte das Wasser dahin, kein Bach eben mehr, kein rechter Fluss auch noch nicht, sechs, acht, zehn Meter vielleicht breit. Mein Vater war lange schon hinter der Biegung des Flusses verschwunden, das steile Ufer wurde zusehends flacher, und endlich standen wir auf der Kiesbank. „Da müssen wir hinüber“, sagte der Hans und watete in die Fluten. Ich dackelte hinter ihm drein, und im anfänglich knöcheltiefen Wasser ging das auch ganz kommod. Aber der Grund fiel immer tiefer ab, schon ging mir das Wasser über die Waden, bald übers Knie, endlich bis an die Oberschenkel und ich fühlte den Druck, die Gewalt des raschen Wassers, die mich umwerfen wollte, mit Macht mir jeden Schritt stromab schob. „Fall nicht hinein“, hatte die Mutter gesagt. Denn dann wäre mein Gewand nass und verdreckt, und vor allem: bestimmt würde dann meine nagelneue Rute, der wertvollste, heiligste Besitz meines bisherigen Lebens irreparablen Schaden nehmen. Ich bekam Angst, aber – und das war für mich neu – diese Angst wich mit jedem weiteren Schritt, und sei er noch so zaghaft, noch so klein. Sie wich und wurde doch nicht kecker Übermut, sie wurde zu Respekt vor der Gewalt der Natur, die ich sechsjähriges Büble im hüfttiefen Wasser des Flusses zum ersten Mal in meinem Leben spürte, fühlte und wusste. Mit diesem Respekt wurde mir das Wasser nicht mehr unheimlich, und ich setzte, zwar mit Vorsicht, aber bewusst Grund und Stand unter den Füssen fühlend einen Schritt vor den anderen, bis der Druck auf den Beinen nachließ und ich im seichteren Wasser am anderen Ufer stand.

„Geh langsam und stad, und achte darauf, dass Du keinen Stein mit deinen Füßen umdrehst. So gut wie wir in der Luft hören, hören die Fische im Wasser noch viel, viel besser“, sagte der Hans zu mir und führte mich dem Ufer entlang weiter flußab. Von rechts, auf der anderen Seite der Argen schoss ein schnellfließender Mühlbach herein und wirbelte sich mit dem Fluss zu weißgischtenden Schnellen auf. So ging es wohl für hundert und einige Bubenwatstiefelschritte am freien Ufer dahin. Mit einem Mal aber wurde es dunkler: links und rechts waren die Bänke von sattem, tiefdichtgrünen Auwald überwuchert. Und ebenda, wo es dunkel wurde, verloren die Schnellen ihre Kraft, die Argen floss so ruhig dahin, dass die Oberfläche von keiner Welle gestört wurde und wie ein dunkler, glatter Spiegel unter dem dämmrigen Licht der Bäume lag. „Das ist der stille Überzug, von dem ich vorhin gesprochen habe. Und hier wollen wir es heute einmal versuchen!“

Ich nahm meine Rute zur Hand und wollte Schnur abziehen zum Wurf. Aber der Hans schüttelte nur seinen Kopf: „Langsam, Bub. Das Werfen hab ich Dir heute gezeigt, und geübt hast Du es auch. Aber das hier ist Fischen.“ Und dann erzählte er, und lehrte mich lange: den Platz habe er ausgesucht, weil hier viele Bäume über dem Wasser hingen, von denen Larven und Raupen und anderes Getier ins Wasser fiele, davon die Fische sich nährten. Dass wir mit Fliegen fischten, aber nicht solchen, die durch die Luft flögen, sondern mit Nachbildungen derselben, die man aus Federn kunstvoll binde. „Drum muss ich, bin ich am Wasser, erst einmal schauen, wo denn die Fische sein könnten. Unter den Bäumen, das hab’ ich Dir ja schon gesagt. Aber wo denn genau? Schau hin, vor uns ist der Fluss ganz tief, da ist ein Gumpen, der wird wohl mehr als zwei Meter messen bis zum Grund, drum auch fließt der Fluss hier so ruhig. Ich glaube, dass wir am Rand, drüben am anderen Ufer, Fische treffen könnten. Aber zuerst muss ich wissen, wovon sie sich heute ernähren, damit ich dann weiß, welche Fliege ich nehme!“ Mit diesen Worten griff er ins Wasser zu seinen Füßen, hob einen großen Stein heraus und drehte ihn um. Auf der Unterseite des Flusskiesels waren kleine, narbenartige Erhebungen zu sehen, dick wie ein Streichholz vielleicht, aber nicht einmal halb so lang. Aus seiner Hosentasche nestelte er eine Lupe hervor und drückte sie mir in die Hand: „Schau Dir das einmal genau an!“

Unter dem Vergrößerungsglas sah ich, dass die kleinen Narben in Wirklichkeit kleine Röhren waren, aus winzigen Kieseln, aus ganz kleinen Holzstückchen kunstvoll gefertigt, und aus einer jeden Röhre spielten zwei Fühler heraus. „Das, was Du da siehst, dass sind Larven von ganz bestimmten Fliegen, so wie die Puppen von Schmetterlingen. Bald werden sie aus den Röhren schlüpfen, dann steigen sie zur Wasseroberfläche hinauf, breiten ihre Flügel aus und fliegen davon. Aber sie leben nur einen Tag, dann sterben sie und fallen wieder herunter aufs Wasser. Davor aber haben sie sich gepaart, die Eier sinken auf den Grund, daraus werden wieder Larven, die sich solche Röhren bauen. Röhren, oder Köcher. Drum heißt diese Fliege auch Köcherfliege.“ Mit diesen Worten langte Hans in seine Hosentasche und zog eine kleine Papierschachtel heraus, darin lagen diese kleinen, flaumleichten und filigranen Federgebilde, die ich schon am Fischerhut meines Vaters immer wieder bewundert hatte. Der Hans zog eine davon heraus, die hatte kleine, braune Flügel und einen Leib aus kupferrotem Faden. „Das ist so eine Fliege, die aus diesen Larven schlüpft. Die binden wir jetzt an Deine Schnur.“ Er knüpfe die Fliege an mein Vorfach, zog eine kleine, grüne Dose aus der Tasche, erklärte mir, wie man die Fliege fettet und hieß mich jetzt endlich zu werfen.

Ich brauchte ein paar Schwünge, um auf so viel Länge zu kommen, dass ich ans andere Ufer langte. Dort versuchte ich dann, die Fliege so ruhig und gerade, wie ich es am Nachmittag vor dem Haus geübt hatte, aufs Wasser zu legen. Jeder, der zum ersten Mal mit der Fliegenrute an einem Wasser gestanden hat, weiß, was passierte: die Fliege legte sich nicht mit gerader Schnur aufs Wasser, das Vorfach zog Schlaufen und Schlingen, und wenn es einmal ausnahmsweise gerade landete, dann legte sich die Fliege nicht sanft und ruhig ab, sondern sie donnerte mit einem hörbaren Platschen aufs Wasser. Hans stand neben mir, besah sich die Sache, korrigierte da, korrigierte dort, und nach langem Wasserpeitschen gelang es mir endlich, die Fliege halbwegs gerecht zu placieren. Beim dritten oder fünften, vielleicht auch beim zehnten Mal tat es plötzlich, ein gutes Stück flußab von meiner Fliege ein schmatzendes, platschendes Geräusch, und auf der stillen Oberfläche des Flusses breiteten sich Ringe aus. Das bislang so unendlich geduldige und ruhige Wesen meines Lehrers änderte sich schlagartig: „Da ist ein Fisch gestiegen. Jetzt wirf Deine Fliege ganz genau unter den Ast da drüben hinein, und leg’ sie ganz ruhig ab“ sagte er mit heiserer Stimme. Ich schwang meine Rute genauso, wie er es mich gelehrt hatte, von Elf nach Eins, vor und wieder zurück, ein drittes, ein viertes Mal noch nach hinten, dann ließ ich die Leine nach vorne schießen und zu meinem großen Stolz landete meine Fliege sanft und leicht auf dem Wasser. Ich sah sie genau schwimmen auf dem spiegelglatten Fluss, ich konzentrierte mich so sehr darauf, dass ich von dem, was nun kam, völlig überrascht wurde. Da, wo eben noch die Fliege zu sehen war, hob sich ein nassglänzendes, graues Dreieck aus dem Fluss, war für einen Sekundenbruchteil nur zu sehen und verschwand dann mitsamt meiner Fliege wieder im Wasser.

„Schlag an, Bub!“, und mit diesem Ruf packte der Hans mit seiner großen Hand meine kleine samt Rolle, Rute und Schnur und riss alles scharf nach oben. Die Gerte bog sich schier zum Halbkreis, und heute noch spüre ich im Handgelenk dieses Schlagen, dieses reißende Zucken des Fisches an meiner Schnur. Jetzt sprang die Forelle in gischtendem Bogen aus dem Wasser, smaragdnes Juwel überm schwarzgrünen Spiegel, gierte hin und her, rollte, ließ sich zurück ins Wasser fallen, tauchte tief zum Grund des Gumpens ab und suchte die starke Strömung dort für sich einzusetzen. „Hol Schnur ein, Bertram, stad und langsam. Aber lass die Finger von der Rolle dabei! Ja, so ist’s recht, einen Klang nach dem anderen hol ein unterm ersten Ring heraus, und lass sie aufs Wasser fallen. Und wenn sie gehen will, lass sie gehen.“ In seiner Stimme war das selbe Fieber zu hören, dass ich mit dem Moment, da die Sedge im Strudel des Bisses verschwunden war, da das Leben des Fisches buchstäblich an mir hing, in jeder Faser meines Herzens, ja, meines ganzen Körpers spürte. Die Forelle wollte stromab, auf Geheiß meines Lehrers wehrte ich es ihr und ließ sie mitten in der Strömung stehen. „Lass die Rute die Arbeit machen, dazu ist sie da. Siehst Du, wie sie sich biegt, wie sie wie eine Feder jede Bewegung des Fisches abfängt? Lass immer den Fisch an der Rute arbeiten, und versuch’ nicht, stärker zu sein als er. Denn das bist Du vielleicht, aber er ist schlauer und schlägt Dir mit dem Schwanz das Vorfach entzwei. Aber an der Rute, da mag er sich abschaffen.“

Ich weiß nicht, wie lange ich den Fisch so in der Strömung hielt. Mochten es Minuten gewesen sein oder Stunden – mir war es eine ungeahnte, oft und heiß erhoffte, nie gekannte aufregende, wilde Ewigkeit. Immer wieder holte ich ein oder zwei Schnurklänge ein, ließ einen wieder ab, ließ den Fisch arbeiten, ließ ihn gehen, holte ihn näher ein, bis der Druck auf der Rute endlich fühlbar nachließ und Hans mich hieß, jetzt mittels der Rolle die Forelle einzuholen. Ich drillte brav die Schnur ein, das Ende war schon aus dem Wasser, nur das dünne Vorfach durchschnitt noch die Wasseroberfläche, da sah ich den Fisch zum ersten Mal richtig vor mir ermattet im seichten Wasser zu meinen Füßen stehen. Von diesem Tag an ist bei jedem Drill, den ich getan habe, ist dieser eine Moment entscheidend gewesen: das Ansichtigwerden von Fisch und Fänger. Das freie, sonst niemandem hörige Tier erblickt den Grund, der ihm so urplötzlich seinen Willen aufbändigte, ihn nötigte seine Flucht zu wenden, sich dreinzugeben, der es bezwang. Der Fänger erblickt zum ersten Mal seinen Gegner, den er erst geschickt überlistet hat mit seinem Köder, dessen Sprünge und Fluchten er mit seinem Gerät abgefedert hat, dessen Kampf er in die Biegsamkeit seiner Gerte hat laufen lassen, den er endlich herangeholt hat. In diesem Moment entscheidet sich, ob der Gegner zur Beute wird, oder ob er, vom Haken befreit, zurück in sein eigentliches Element gelassen wird.

Ich habe oft über diesen Moment nachgedacht, da er nach meinem Fühlen noch unmittelbarer, näher, schrankenloser, direkter ist als sein Äquivalent auf der Jagd. Richte ich, den Finger am Abzug, Büchse oder Flinte aufs Wild, ist das Lebewesen auf der anderen Seite meist so weit weg, dass ich sein Auge nicht erkennen kann. Liegt der matt gekämpfte Fisch vor mir im Wasser, dann sehe ich dem Tier ins Auge und muss entscheiden über Sein oder Vergehen, muss entscheiden, ob Lebewesen zu Lebensmittel wird oder nicht. Es hat mich oft gewundert, dass Menschen, die in der Jagd vor allem die willentliche Tötung eines Lebewesens ablehnen, den Fisch ohne großes Zaudern seinem lebenserhaltenden Element entreißen, an Land werfen und dort langsam verenden lassen, als hätte er kein Fühlen, kein Erleben, kennte er nicht Angst und nicht Qual. Ich habe vielen Fischen in ihre tiefen, unergründlichen Augen gesehen und weiß für meinen Teil, dass sie sehr wohl die Angst vor dem Sterben kennen. Warum ich dennoch weiter gefischt habe, weiter fische? Weil ich leben will.

An diesem Tag meines ersten Fisches war ich dieser Dinge noch nicht bewusst und durch meinen Lehrer ohnehin enthoben. Die Forelle, es war eine prachtvoll gezeichnete Bachforelle, in deren Oberkiefer meine Fliege hakte, stand vor mir im Wasser, als Hans sagte: „Den ersten Fisch soll man essen. Nur dann ist es recht. Drum werde ich sie für Dich töten. Schau es Dir gut an, auch das muss man kennen und können.“ Mit diesen Worten griff er in seinen Hosensack und zog ein Hirschend‘ heraus, durch dessen Spitze ein Lederschlauf gezogen war, und dessen stumpfes Ende – wie er mir später erzählte – inwendig mit Blei beschwert war. Dieses Instrument – die Engländer in ihrem unnachahmlichen Pragmatismus nennen es „priest“ – „Priester“, was viel sinniger ist als unser Wort „Totschläger“ dafür – den Priest in der Linken haltend, senkte er seine Rechte ins Wasser, ließ sie in einer sanften und unendlich langsamen Bewegung unter den Bauch der Forelle gleiten, griff dann rasch zu, so dass die Brustflossen zwischen Zeige- und Ringfinger herausragen, hob den Fisch aus dem Wasser, und kaum war das Tier seinem Element entrissen, schlug er ihm den Priest kurz und hart ins Genick. Augenblicklich wurde der eben noch nur müde mit der Schwanzflosse schlagende Fisch starr und zitterte. Den Priest fallen lassend, so dass er an seiner Schlaufe um sein Handgelenk baumelte, griff er in die Messertasche seiner Hose, zog ein Stilett heraus, drehte den Fisch in der Hand auf den Rücken und stach ihm das Messer ins Herz. Schlagartig erschlaffte der schlanke Körper in seinen Händen und war tot.

Hans drückte mir meine Forelle in die Hand und sagte: „Schau sie Dir genau an. Siehst Du die roten Tupfen mit ihrem weißen Rand an Seite und Rücken, die schwarzen dazwischen? Das macht die Bachforelle aus. Hier, diese Line, die den ganzen Körper entlang läuft, das nennt man die Seitenlinie. Das ist wie das Ohr des Fisches, nur noch viel, viel feiner als das, was wir Menschen links und rechts am Kopf hängen haben. Mit den beiden Gruben da vorn am Maul, da, grad überm Kiefer, damit riecht der Fisch, und wieder weitaus besser als irgendein Säugetier es sogar könnte.“ Und so erklärte er mir Stück für Stück die Anatomie dieses Tiers, wie welche Flosse hieße und wozu sie gut sei, schnitt den Fisch mit seinem Messer vom After her auf und erklärte mir die Eingeweide nach Sinn und Zweck. Endlich nahm er die Fliege, die immer noch im Oberkiefer des Fisches hing, zwischen Zeigefinger und Daumen, drückte sie soweit durch die Haut, dass Hakenspitze und Widerhaken frei lagen, nahm dann aus seiner Tasche eine Zange heraus und zwickte damit den Haken ab. Die damit wertlos gewordene Fliege ließ er in meine Hand fallen. Ich sah ihn mit großen, fragenden Augen an. „Die Fliege lässt Du Dir von Deiner Mutter an den Hut nähen. Du hast doch einen Hut, oder?“ Ich nickte. „Dann hab den von heut’ an immer auf, wenn Du fischen gehst. Die Fliege bringt Dir Glück. Und noch eins: den Haken habe ich aus einem bestimmten Grund abgezwickt: Ich wünsche mir von Dir, dass Du von heute an immer den Widerhaken flachdrückst. Hier, die Zange dafür schenke ich Dir. Man braucht keine Widerhaken, um zu fischen. Wenn man es kann. Außerdem reißen sie dem Fisch nur das Maul kaputt. Petri Heil!“

Vom Rest dieses Tages erinnere ich nicht viel. Das Erlebnis dieses ersten Fischfangs füllte mein kleines Selbst zur Gänze aus. Wahrscheinlich hat mir Hans Gebetsroither noch viel erzählt von der Fliegenfischerei, und wenn mir auch die Worte nicht erinnerlich sind, sind sie – so glaube ich – nicht auf tauben Boden gefallen, denn die Passion, die Freud’ am Wasser hat mich seitdem nicht mehr losgelassen und mich viele, viele Jahre so ausschließlich in ihrem Griff gehalten, dass ich erst recht spät zum Jäger geworden bin. Denn will ich recht tun, dann kann ich für mich persönlich nur Fischer sein oder Jäger. So ist es halt mit Passionen, Leidenschaften und Lieben: sie verlangen den ganzen Menschen an Beute. Und wie ich nicht zwei Frauen auf einmal lieben kann, so kann ich nicht zwei Leidenschaften auf einmal dienen. Die Jagd, die hat mich, in dem Moment, da ich sie aktiv begonnen, so fest in ihre Fänge bekommen, dass ich daraus nimmer kann. Die Fischerei musste ich drangeben. Aber: was man einmal echt und ehrlich geliebt, dafür hält man immer einen Platz im Herzen. Und bin ich auch heute nicht mehr mit der Rute unterwegs, so erinnere ich jeden meiner Fischertage und will keinen davon missen.

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Bertram Graf v. Quadt

Man kann sich gegen schwere erbliche Belastungen nicht wirklich zur Wehr setzen. Damit war die Jagd unausweichlich. Beim Blick in die Generationen gibt es auf weite Sicht keinen männlichen Vorfahr – und nur wenige weibliche – die nicht gejagt hätten. Vater, Mutter, beide Großväter und so weiter und so fort – alles Jäger, und zum Teil hochprofilierte Jäger: der Vater meiner Mutter, Herzog Albrecht v. Bayern, hat die bedeutendste Monographie des 20. Jahrhunderts über Rehwild verfasst („Über Rehe in einem steirischen Gebirsgrevier“) und darin mit viel Unsinn über diese Wildart aufgeräumt. Meine Mutter war an den Forschungen dazu intensiv beteiligt, gemeinsam mit meinem Vater hat sie die Erkenntnisse im gemeinsamen Revier im Allgäu umgesetzt. Nun will und muss aber jeder junge Mensch rebellieren. Ich habe mir dafür aber nicht das jagdliche Erbe ausgesucht, sondern die Schullaufbahn, das nie begonnene Studium, das Ergreifen anrüchiger Berufe (Journalist, pfui!) und anderes mehr. Und ich kann im Rückblick sagen: das war die richtige Entscheidung.

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Anmerkungen

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Titelbild: Photo by Katherine Hanlon on Unsplash

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