Buchvorstellung von Thomas Thelen
»In seinem preisgekrönten Buch Taqawan wirft Éric Plamondon einen anderen Blick auf Kanada. Neben einem packenden Krimiplot entblättert er die Hintergründe der französischen Kolonisation, schildert die Lebenswelt und Kultur der indigenen Mi’gmaq und berichtet von ihrem Ringen um Eigenständigkeit.« – so informiert zutreffend der Verlag auf der Rückseite des kleinen Bandes.
Die meiner Meinung nach treffsicherste Rezension hat Ulrich Noller für den WDR verfasst (siehe: https://blog.wdr.de/nollerliest/eric-plamondon-taqawan/).
Da Kanada in 2020 / 2021 pandemiebedingt zweimal impulsgebendes Gastland der Frankfurter Buchmesse war, sind nun viele erstmals auf Deutsch erschienene kanadische Autoren, oft indigenen Ursprungs, zu entdecken, die in Romanen, aber auch in Sachbüchern weitere Aspekte der First Nations in Nordamerika beleuchten. Wenn man den Kontext weiten möchte, liest man zusätzlich Der Nachtwächter von Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich. In diesem umfangreichen Familienroman steht die „Terminierung“ – die US-amerikanische Variante der Vernichtung indigener Strukturen mittels des Verwaltungsrechts – und der Kampf der Indigenen mit den Mitteln des Rechtsstaates in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Zentrum.

Doch zurück an Kanadas Ostküste, nach Quebec und den Mi’gmaq:
Der kurze Roman in seiner klar strukturierten Stilistik – die meisten Kapitelchen sind kaum ein, zwei Seiten lang! – kommt ausgesprochen vielschichtig und multi-perspektivisch daher. Auf rund 200 Seiten ist Taqawan ein spannender Krimi, Geschichtsbuch, bietet Lebensweisheiten und Rezepte, stets mit einem hintergründigen Humor, gut und zugleich beklemmend zu lesen vor dem aktuellen Hintergrund der in diesem Jahr 2021 entdeckten Massengräber an Schulen für indigene Kinder in Kanada.
Mit der Macht der vermeintlich moralisch Überlegenen sind die First Nations von den Eroberern Amerikas (das betrifft den gesamten Kontinent – von Kanada über die Staaten bis hin zu Südamerika…) in den Abgrund gerissen worden, in einer stillschweigenden Übereinkunft, ihre Vernichtung anzustreben – wenn schon nicht physisch, so doch psychisch, kulturell, individuell und als soziale Gemeinschaft.

Rückblenden führen den Leser sowohl in eine nahe liegende und als auch in eine eher historische Vergangenheit – einmal, um den Kriminalfall zu inszenieren, zum anderen, um politische Zusammenhänge und die Traditionen der First Nations erzählen zu können. Die schlaglichtartigen Kapitel entfalten in der Gesamtschau ein Kaleidoskop, ein ebenso informatives wie spannend erzähltes Stück Zeitgeschichte, verbinden Fakten mit Fiktion und bieten ein dicht gewebtes Leseerlebnis.

Wir lernen viele historische Fakten, aber auch skurril-praktische Dinge wie diese Lektion:
Hilfe für Bewusstlose (bei Wasserunfällen)
Den Ertrinkenden, Bewusstlosen ans Ufer bringen.
Eine Tierblase oder einen Darm mit Tabakrauch füllen, ein ausgehöhltes Stück Holz, eine Tabakspfeife oder ein Kalumet an der Blase / dem Darm befestigen. »Dann steckte man dem Bewusstlosen, der vorher kopfunter an einen Baum gehängt worden war, das Rohr in den Hintern, darauf pumpte man ihm den Tabakrauch in den After. Im Allgemeinen erbrach der Patient wenig später das verschluckte Wasser und begann heftig zu zappeln…«
First Nations, die nomadisch den Nordosten Kanadas bewohn(t)en, werden uns nahegebracht als „Indianer“, die so gar nicht in das klischeehafte Bild vom Indianer, von der „edlen Rothaut hoch zu Pferde“, passen. Außerordentlich bizarr wird die Identitätsgetriebene Selbstwahrnehmung, wenn Indigene, die seit Urzeiten an den großen Gewässersystemen Nordamerikas siedelten und die tausende Meilen zu Fuß, per Boot oder Schlitten zurückzulegen in der Lage waren, sich heute selbst als „Indianer“ zweiter Klasse wahrnehmen, weil sie dem – oberflächlichen – Klischee der typbildenden Indianerfilme nicht entsprechen, die den Zuschauern „erfolgreich“ suggeriert haben, dass ein Indianer „immer“ auf einem, seinem, manchmal stibitzen Pferd sitzt: Ohne Pferd ist man kein richtiger Indianer…

Weiterhin lernen wir en passant, dass Clam Chowder, eines der typischen nordamerikanischen Ostküstengerichte, indigenen Ursprungs ist und von den First Nations entlang der Küste seit Ewigkeiten zubereitet wird. Hier ein Ursprungsrezept, das wir, weder Kosten noch Mühen für Euch scheuend, nachgekocht haben.
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Austernsuppe
(Rezept für bis zu 10 Personen)
36 Austern samt Austernwasser
3 Esslöffel Schmalz oder Butter
8 Tassen Fischfond
¼ Tasse Maismehl
2 Knollen Allium trococcum, fein gehackt
(kann durch Bärlauch oder Knoblauch ersetzt werden)
½ Tasse Kresse
Ein paar Blätter wilde Minze
Meersalz zum Abschmecken

Die Austern aus der Schale lösen, zusammen mit ihrem Wasser und dem Schmalz (oder der Butter) in einen Topf geben. Fischfond und Maismehl unterrühren. Bei schwacher Hitze unter ständigem Rühren (sonst gibt es einen Mehlklumpen!) etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten köcheln lassen.

(Pro-Tipp vom kochenden Rezensenten: Die vielen Austern lassen sich fix öffnen, wenn man sie für 5 Minuten in den vorgeheizten 200 Grad Backofen gibt, immer darauf achtend, dass die tiefere Schalenhälfte unten platziert ist!).

Allium tricoccum, Kresse, Minze dazugeben, mit Salz abschmecken.
Noch ein, zwei Minuten umrühren. Heiß servieren.

Ja, das war sehr lecker und fein, aber Miesmuscheln hätten auch gut gepasst.
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Moderne, neumodische Identitätskritiken mögen manchmal überzogen wirken, bizarr, sind aber aus Sicht der Betroffenen oft genug bittere Realität und sollten eher als Beitrag zur Wissensvermehrung, zur Horizonterweiterung gelesen werden. So werden bis heute in den USA erbitterte Kämpfe geführt, ob die vor gut 100 Jahren von italienischen Einwanderern mit passierten Tomaten verfeinerte (oder verfälschte?) „Manhattan Clam Chowder“ amerikanisch sei oder eben nicht, wie die protestantischen Ostküsten-Puristen ob der katholisch geprägten Rezeptrevolution felsenfest überzeugt sind.


Auch ein zweiter Klassiker der US-Küche hat es in den Kulturkampf, in eine Küchenschlacht geschafft: Appel Pie.

Erst mit den Eroberern aus Europa kam der Apfelbaum nach Amerika, die großen Plantagen rund um die Farmhäuser wurden zum Zeichen für Prosperität. Und – aus heutiger Sicht – zu einem Zeichen der Unterdrückung, für den menschenverachtenden Einsatz von Sklaven, die einen Großteil der Farmländer gerodet, urbar gemacht haben. So steht der Kuchen heute auch als Symbol für die Vorherrschaft der weißen Protestanten in der Kritik…
Abschließend eine klare Leseempfehlung für Taqawan, aber auch für Der Nachtwächter.
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PRESSESTIMMEN
„Einer der interessantesten und bemerkenswertesten Krimis seit langem.“
– Ulrich Noller, Westdeutscher Rundfunk
„Ein kleines literarisches Meisterwerk aus Nature Writing, historischem Essay, Abenteuergeschichte und politischem Manifest.“
– Günther Grosser, Berliner Zeitung
„Plamondon erzählt mit seinem ebenso action- wie kenntnisreichen Roman von der vielschichtigen historischen Entrechtung und der neuerlichen Selbstbehauptung von Kanadas Ureinwohnern.“
– Cornelius Wüllenkemper, Deutschlandfunk
„Ein herausragender, mutiger Roman … »Taqawan« ist historische Untersuchung, Nature Writing, gesellschaftspolitische Studie, Soziogramm, Bildungsroman, Essay, Abenteuergeschichte und eben auch Kriminalroman.“
– Ulrich Noller, Deutschlandfunk Kultur
„Éric Plamondon kennt das zerrissene Kanada.“
– Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Wortgewandt offenbart Plamondon die Widersprüche, die sich in Québec auftun, macht die täglichen Ungerechtigkeiten und Parallelwelten in der Gesellschaft spürbar.“
– Doris Kraus, Die Presse am Sonnta
„Éric Plamondon verbindet in seinem Kolonialismus-Thriller Erdgeschichte, Weltgeschichte und kanadische Geschichte mit der Geschichte der klugen Océane, die an ihrem 15. Geburtstag von drei Polizisten vergewaltigt wird.“
– Jörg Häntzschel, Süddeutsche Zeitung
„Éric Plamondon klagt das tägliche Unrecht an der indigenen Bevölkerung an. Nebenbei gibt er spannende Einblicke in eine fremde Lebenswelt.“
– Gabriele Knetsch, Bayerischer Rundfunk
„Plamondon gewährt tiefen Einblick in das Selbstverständnis der indigenen Mi’gmaq. Das ist spannend, weil er seine engagierte Erzählung über Rassismus und Korruption in einen grösseren historischen und politischen Kontext stellt. Zwar liegt dieser Lachskrieg bereits 40 Jahre zurück, doch an der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA und der auch hierzulande laufenden Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus ist zu sehen: Die Debatte ist brandaktuell und keinesfalls Geschichte.“
– Frank Rumpel, Südwestrundfunk
„Ein faszinierendes Buch, eines der interessantesten dieses Bücherherbstes.“
– Thekla Dannenberg, Perlentaucher
„Krimi, Geschichte der Indigenen und der französischen Kolonisation und vieles mehr bietet dieses aussergewöhnliche Buch. Trotz oder gerade wegen seines geringen Umfangs eine erstaunlich spannende wie informative Lektüre, die zu Recht vielfach ausgezeichnet wurde.“
– Booknerds.de
„Das ist mitreissender Lesestoff und Pflichtlektüre für jeden Kanada-Hiker.“
– Christoph Feil, Heilbronner Stimme
„Ein wahnsinniger Roman, brillant, mitreissend, zuweilen frösteln machend, ein Abenteuer in der Tradition von Jack London, Herman Melville und Joseph Conrad.“
– La Cause littéraire
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Verlagsvorstellung des Autors Éric Plamondon

Éric Plamondon, geboren 1969 in Québec, studierte Journalismus an der Universität Laval und Literatur an der Universität von Québec in Montréal. Seit 1996 lebt er in der Region Bordeaux, wo er in der Kommunikation tätig ist. Er veröffentlichte bisher sechs Romane, die zahlreiche Auszeichnungen erhielten.
ericplam.com
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Thomas Thelen

Thomas Thelen ist Deutsch-Drahthaar-Bändiger, Leihhund-Bespaßer, Fliegenfischer, Holzwerker und Genießer – und eher nebenher Unternehmensberater und Autor.
Zuhause in den südbadischen Weinbergen, hält er nicht nur nach Schwarz- und Rehwild Ausschau, sondern auch nach empfehlenswerter Lektüre und leckeren Rezepten. Wenn sie seinen Geschmackstest bestehen, werden sie hier umgehend weiterempfohlen – oder kritisch betrachtet.
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe und Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Taqawan
Autor: Éric Plamondon
Übersetzung: Anne Thomas
Verlag: Lenos Verlag
Verlagslink: https://lenos.ch/buecher/taqawan
ISBN: 978-3-85787-823-7