von Vincent Klink
Hinter dem Haus vor der Küchentür war die Jagdstrecke aufgereiht. Zwölf prächtige Ortolane lagen auf einem groben Tisch in Reih und Glied, als warteten sie auf die Abnahme einer Parade. Ortolanen verdankte Beethoven einst den genialen Funken zur fünften Symphonie. Diese hier hatten ausgesungen. Die Tiere waren tot und mehr als doppelt so dick wie normal. Jäger hatten die sperlingsgroßen Piepmätze gefangen und drei Wochen in der Dunkelheit gemästet. Des Tag-Nacht-Rhythmus beraubt, kommen die Tiere so durcheinander, dass dauernd gepickt und geschluckt wird und keine Zeit zum kräftezehrenden Singen bleibt. Wenn durch diese Aufbaudiät das dreifache Gewicht erreicht ist, dürfen sie sich stolz Fettammern nennen. Jeder Abgang hat ja etwas Melancholisches, aber die Fettammer gelangt nach ihrem Tod zu Ruhm und Ehren. Der Wandel von der freien Natur über das Aufpäppeln bis hinauf zum Olymp der Gourmandise ist spektakulär. Es wird anspruchsvoll gestorben: Die Vögel werden in Armagnac ertränkt, gerupft und dann im Weindestillat einen Tag und eine Nacht mariniert.

Der Waidmann hagelt die Dahingegangenen aus. Damit meint der Jäger, dass zwar alle Innereien wie Herz, Leber und Lunge in der Bauchhöhle verbleiben, die Gedärme jedoch mit einem umgebogenen Draht herausgeharkt werden. Es gibt Puristen, die auch das Geschlinge im Inneren der Vögel belassen, da, wie bei den Schnepfen, nur beste Kräutlein und Körnchen gepickt worden sind und so der gefüllte Vogel sich nichts anderes als reiche Gaben der Natur einverleibt hat. Wegen der Fermentation freilich mag dies der eine als besonders edel, der andere alles als verdorben betrachten.
Die Vögel sind vorbereitet, die Gourmets nahen. Die kleine Festtagsgesellschaft ist auf dem Weg nach Latche zum Landhaus des Präsidenten. Einige Freunde, Familienmitglieder und enge Vertraute aus der Politik sind zu Silvester eingeladen: Jack Lang, Henri Emmanuelli, der Parteichef der Region, sowie der Leibarzt Dr. Tarot und der Journalist Georges-Marc Benamou. Er ist der Intimus des Präsidenten in dessen letztem Lebensabschnitt. Die Zwiegespräche der beiden sind als Buch erschienen: Le dernier Mitterand. Auf Benamous Mitteilungen fußt der vorliegende Text.

Die Gäste werden in der Ortsmitte von Robert Hanin, dem Schwager des Präsidenten, empfangen. Es gilt, sie auf schwierige Umstände vorzubereiten. Mitterand, unlängst von seiner letzten Ägyptenreise heimgekehrt, sei in äußerst schlechtem Gesundheitszustand. Man möge aber, so der ausdrückliche Wunsch des alten Mannes, fröhliche Runde pflegen, wie es an Silvester immer üblich gewesen sei: „Gebt euch wie gehabt, lacht und seid heiter.“
Im Esszimmer des Landhauses wartet man einige Zeit, und die Geladenen sehen mit Unbehagen neben der langen Tafel eine separate Chaiselongue stehen, gesäumt von zwei kleinen Lederhockern, offensichtlich das Krankenlager des Präsidenten. Mittlerweile ist es neun Uhr. Unvermittelt steht der Präsident in der geöffneten Tür. Wie eine auf die Bühne geschobene Skulptur bewegt er sich langsam und stocksteif vorwärts. Er nimmt die Gäste kaum wahr. Wächsernes Antlitz. Doch ist der Präsident ganz Majestät und hält sich sehr, sehr aufrecht, noch gerader, als man es von ihm ohnehin gewohnt ist. Dann gewahrt man, dass die Hände um seine Hüften nicht die seinigen sind, denn diese hängen leblos neben den Hosennähten herab. Monsieur le Präsident kann nicht mehr gehen, er wird getragen. Die bereits mehr als zehn Jahre währende résistance gegen den langsam ihn verzehrenden Krebs ist an ihr Ende gelangt. Den vor der Öffentlichkeit mühsam verborgenen Leidensweg kennt nur der Arzt Dr. Tarot bis ins Detail.

Zwei Leibwächter legen den Kranken auf der Liege ab. Die Gesellschaft sitzt mittlerweile an der Tafel, Mitterand scheint sie vergessen zu haben. Austern werden aufgetragen, und es kommt Leben in den apathischen Leib. Wie man weiß, werden Austern lebendig verschlungen, sodass man sie in Frankreich immer als Krankenkost respektiert hat: Der Mann kann nur leben, indem er anderes Leben nimmt und die Geschenke der Natur zerstört. Der Kranke gönnt sich kaum ein Verschnaufen und hat nach kurzer Zeit über dreißig Austern den Schlund hinunterbefördert.

Was treibt den Präsidenten zu solch demonstrativer Gier? Hunger kann es nicht sein, eher schon die Verpflichtung, der Vor-Esser einer Nation zu sein, die gutes Essen und Trinken als zentrales Kulturgut und Grundrecht aller Bürger hütet. Der Präsident, momentan restauriert, fällt in einen leichten Verdauungsschlaf. Er ist wieder mit sich allein. Die Gespräche an der großen Tafel hört er nicht. In leichten Träumen, jedoch wie zeit seines Lebens in latenter Alarmbereitschaft, vernimmt er wenig später die von einigen erwartungsvollen Gästen gemurmelte Ankündigung: „Ortolans en casserole.“ Das holt den Abwesenden unvermittelt in die Welt zurück. An jenem Silvesterabend 1995 im tiefen Südwesten Frankreichs kam kein Gedanke an Verbotenes auf. Argumente des Tierschutzes wurden später nur in deutschen Zeitungen genannt.
Vor der Abreise nach Ägypten war an den Sozialistenfreund Henri Emmanuelli die Order ergangen: „Kein Silvester ohne Ortolane!“ So hatte sich Emmanuelli auf die schwierige Suche nach zwölf Vögeln gemacht und war fündig geworden. Die Franzosen haben dem Adel einst die Köpfe abgeschnitten, um den Feudalismus zu beenden. Für französische Monarchen, auch für sozialistische, legt jedoch bis heute die bürgerliche Jägerschaft mit größtem Eifer die Waffen an.
Ortolans braisés, ein gallisches Gericht und jahrhundertelang als Delikatesse gepriesen, ist heutzutage auch in Frankreich verboten. Die Untertanen nehmen aber immer noch mit großem Wohlwollen an den Wünschen und Marotten ihrer Herrscher teil. Kein anderes zentraleuropäisches Land würde so inbrünstig und rückhaltlos einen Präsidenten verehren, der sein öffentliches wie privates Leben immerfort mit Affären, Liebesabenteuern und Bocksprüngen aller Art garniert hat. Mitterand wusste mit allen Werkzeugen des Machiavelli umzugehen. Er wusste darüber hinaus um die Leibeslust und die eminente Symbolik verbotener Spiele. Nur die Sehnsucht des französischen Spießers nach majestätischem Glanz erklärt die voyeurhafte Begeisterung und die faszinierte Duldung des Unerhörten. Seit den Tagen des Sonnenkönigs haben die orgiastischen Schauessen französischer Herrscher auch die Bedürfniss des hungrigen Publikums befriedigt. Größtmögliche Fallhöhe zum gemeinen Volk, manifestiert durch Taten und Bauwerke, gehört zur selbstverständlichen Ausstattung aller französischen Staatsoberhäupter. Die Geladenen lassen sich paarweise nacheinander auf den Lederhockern nieder. Le roi hält Audienz.
Dann haben die Ortolane ihren Auftritt. „Ortolans“, raunt die Silvestergesellschaft. „Le grand président“ zwar moribund, aber in Vorfreude rarer Kost, befindet sich unversehens in einem konditionellen Zwischenhoch.
Brennend heiß geröstet schwimmen die Vögel in ihrem Blut und Saft. Je kleiner die Objekte der kulinarischen Begierde, umso feierlicher das Speiseritual. Uraltes Brauchtum verlangt zum Teller kein Besteck, sondern nur eine weiße Serviette, die traditionellerweise mindestens handtuchgroß sein muss, damit sie über den Vogel gebreitet werden kann. Der Kopf des Präsidenten verschwindet darunter, als suche er Schutz und wolle nicht mehr teilhaben an dieser Welt. Gallisches Voodoo. Tête-à-Tête mit einem Vogel. Will der obskure Brauch dem essenden Nachbarn den kruden Anblick des Vertilgens und Knochenbrechens ersparen?

Der erste Mann im Staate und auch die Tischgenossen nebenan, allesamt auf Tauchstation unter den Servietten, saugen den Vögeln zuerst das Hirn aus, dann zersplittern die gerösteten Köpfe wie Kartoffelchips zwischen den Kiefern der Gourmets. Allmählich kommen die Gesichter der Genießer wieder unter den Servietten hervor. Für Monsieur le Président gibt es am Altar der Gourmandise kein Halten, alles wird hinabbefördert. Die Esser dürfen nichts ausspucken, auch die Knöchlein enthalten köstlichen Saft, alles wird im Mund zermahlen und hinter die Gurgel transportiert. Ist der Teller leer, wird die Serviette abgezogen. Nichts darf übrig bleiben, so will es uralter Jägerbrauch in der von Mythen durchdrungenen Provinz Landes im Südwesten Frankreichs.
Nach dem ersten Durchgang ist noch ein Vogel übrig. Aus Höflichkeit oder Erschöpfung greift niemand zu, alle warten. Mitterand erhebt Anspruch, wissend ums Verbotene und das Recht auf die Réserve du Patron. Seinen lodernden Appetit führt er auf seine Krankheit zurück: „Ich werde von innen zerfressen.“ Doch könnte der Abend auch als letzte Performance des Machtanspruchs gedeutet werden. Mitterand liegt entrückt wie ein Faun und spricht dann leise zu Jack Lang von vergangener Freude und Lust: „Julia Roberts, erinnern Sie sich an sie, an unser Mittagessen mit ihr? Übrigens im Film die Beine – waren das wirklich ihre Beine?“ Es kommt zu kurzen erregten Gesprächen an der Lagerstatt. Nacheinander wird den Teilnehmern der kulinarischen schwarzen Messe Audienz gewährt. Gegen elf stemmen ihn seine beiden Leibgardisten vom Fauteuil hoch, allgemeines Händedrücken. Behutsam, mit unerträglich langsamen Schlurfen, wird der Präsident mehr abgetragen als weggeführt. Leibarzt Dr. Tarot folgt, lässt ihn nicht aus den Augen, teilt er doch seit einiger Zeit das Schlafzimmer mit seinem Patienten.
Der Silvesterabend, acht Tage vor dem Tod des Präsidenten, ist als Henkersmahlzeit und finale Demonstration kulinarischer französischer Kultur zu interpretieren. François Mitterrand, Meister der Inszenierung, nahm nach dem denkwürdigen Menü keinerlei Nahrung mehr auf und verweigerte auch lebensverlängernde Medikament. Le roi starb in seiner Pariser Wohnung unweit von Notre-Dame. Seinem letzten Wunsch, auf einem burgundischen Hügel begraben zu werden, der den alten Galliern als Opferstätte gedient hatte, wurde nicht entsprochen.

François Mitterrand (* 26. Oktober 1916 in Jarnac, Charente; † 8. Januar 1996 in Paris)

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Anmerkungen

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Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft 37
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © 2008 Edition Vincent Klink
Website: https://vincent-klink.de/
ISBN: 978-3-927350-35-9
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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.
