von Aleksey Morozov
Wer etwas über die Jagd lesen und hören will, wird in den Klassikern der Literatur nicht fündig werden. Schreiben große Autoren über die Jagd, meinen sie gewöhnlich etwas ganz anders.

Jagd a la Hemingway…; Bildquelle: Holger Obenaus
Als Kind war ich von Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers mehr als ein wenig enttäuscht. Meine Erwartung war ein ästhetisches Sprachkunstwerk mit Vorstehhunden und Schnepfen, vertrauten Flinten und peinlich verfehlten Schüssen. Die Beschinwiese, die Geschichte die wir im Literaturunterricht lesen mussten, thematisierte eine Jagdtasche schwer mit Birkhühner und eine englische Pointerin, „entscheidend die klügste von allen vierbeinigen Wesen“. Das verlockte mich, das ganze Buch zu lesen, nur um zu entdecken, das in manchen Geschichten kaum mehr als „Eines Tages kehrte ich von der Jagd zurück“ zum Thema stand. Ich wusste, dass Turgenjew ein leidenschaftlicher Jäger war. Warum sollte er so einen Trick bei seinen Lesern spielen?

Natürlich hatte Ivan Sergejewitsch seine Gründe. Er schrieb, um russische Adelige schleichend mit der unerhörten Vorstellung vertraut zu machen, dass auch Leibeigene seien richtige Menschen. Unter der Tarnkappe einer Jagdgeschichte schmuggelte er diese subversive Botschaft an der Zensur vorbei. Die Jagd diente als die Kulisse, in der ein lesender Adliger Bauern beobachten konnte: ein MacGuffin.
MacGuffin ist ein Wörtchen aus dem amerikanischen Filmjargon – „der Begriff für mehr oder weniger beliebige Objekte oder Personen, die in einem Film dazu dienen, die Handlung auszulösen oder voranzutreiben, ohne während der Handlung selbst von besonderem Nutzen zu sein“, so Wikipedia. Wie Turgenjew, verwenden auch andere Autoren das Thema Jagd zu diesem Zwecke. Schon in Märchen wird dieser Kunstgriff benutzt. Begibt sich der König auf die Jagd ist es leicht, in die Handlung Begegnungen mit seltsamen Waldbewohnern einzubauen.

Im Gegensatz zum Leben des in seine Alltagspflichten eingespannten einfachen Menschen, bietet die Jagd unvorhersagbare, unbegreifliche, und damit mystischen Erlebnisse in der Wildnis. Dadurch wird sie zur Heldenreise, in der alles passieren kann: eine Erleuchtung zu den wahren Werten des Christentums (wie bei einem gewissen Bischof von Lüttich), eine lebensverändernde Begegnung mit einer Ritterschar (wie bei Parzival), sogar eine Reise in eine andere Welt (wie bei Galahad).
Wenn die Jagd kein MacGuffin ist, dient sie gewöhnlich als Metapher. William Faulkners Der Bär ist eine großartige Jagdgeschichte, die keinen Jagdfreund enttäuscht wird. Hier finden sich viele glänzende Szenen, welche die Jägerseelen berühren und bilden. Jede Jagdgesellschaft kennt mindestens eine Legende von einem alten Hasen, oder Keiler, oder Hirsch – oder, in diesem Fall, einem Bären – den niemand erlegen kann.

Bis genau den richtigen Hund gefunden ist, das heißt, die echte Höllenbracke (hellhound) aus Nichts erscheint, wie vom Teufel selbst geschickt. Dann beginnt die letzte, die wilde Jagd. Doch der Bär ist kein Tier. Er ist ein Symbol für Wildnis, die Amerika vor der europäischen Kolonisation war – die Verkörperung des Landes. Wenn er stirbt, ist die Wildnis mit ihm ausradiert, und mit der Wildnis auch die uralten Bewohner des Landes und ihre Kultur. Diese Vernichtung hielt Faulkner für die Erbsünde der USA, und das ist die metaphorische Botschaft des Buches.
Wenn nicht MacGuffin oder Metapher, dient die Jagd als Grundlage. So in der Oper Der Freischütz, wo manche Protagonisten zwar Jäger sind, aber der Höhepunkt der Handlung keine Jagd, sondern ein Schiesswettbewerb ist. Eigentlich geht es auch um etwas ganz anderes: Ängste, Wünsche und Versuchungen, die jedem von uns bekannt sind. Die Jagd ist immer ein wenig unvorhersagbar, unbegreiflich, und deswegen mystisch. Lineare Beziehungen zwischen Mühe und Erfolg sind selten; öfter passiert folgendes: Obwohl Du so fleißig und viel gearbeitet hast, erlegst Du Deine heiß begehrte Beute trotzdem nicht. Hier wächst das Faible der Jäger zum Aberglauben und der Wunsch nach Magic Bullets wie in Der Freischütz. Aber ist das Leben im Ganzen nicht so?

Sogar die Deutsche Fußballmannschaft könnte sich leicht mit dem Jungjäger Max identifizieren, denn warum das Aus in Qatar? Weil sie nicht Fußball spielen können? Nein, das können sie, die Statistiken aus dem Spiel gegen Costa Rica sind Beweis genug. Hat denn der Himmel sie verlassen? Weiter nein, das Problem war, dass sie den Sieg zu sehr wollten, und sich selbst zu wenig zutrauten, dann fehlt man immer im entscheidenden Moment. Genauso wie der ausgezeichnete Schütze Max aus Der Freischütz. Doch wenn Agathas Liebe auf dem Spiel stand, wurde er von Emotionen überflutet und verfehlte sein Ziel – eine ganz verständliche Situation. Wer das buck fever nicht kennt, wie es die Nordamerikaner nennen, ist kein Jäger.

Auf solch einer Grundlage kann ein moderner Regisseur eine Konstruktion mit multiplen Ebenen errichten. Kirill Serebrennikows Vorstellung von Der Freischütz in der Amsterdam Staatsoper beschreibt eine Operntruppe, die Der Freischütz probt, und jede(r) Sänger(in) sich in einer ähnlichen Situation samt emotionalem Chaos wie sein Charakter wiederfindet. Es geht um Unsicherheit, Mangel an (Selbst)vertrauen, und dem immer zum Scheitern verurteilten Wunsch, mit Betrug voranzukommen. Das erklärt auf der Bühne einen Charakter, der in der ursprünglichen Oper nicht zu finden ist: Der Mensch im Rot, ein Narr, der Witze reißt, Zweifel sät, und Lieder singt, die zur Oper nicht gehören.
So ein Postpostmodernismus ist scheinbar vom Thema Jagd sehr weit entfernt, aber die Natur ist unbezähmbar. Man wirft sie aus der Tür heraus, und sie kehrt durch das Fenster zurück. Die Lieder stammen aus Tom Waits‘ The Black Rider, eine andere Bearbeitung von Webers Sujet.

Es geht im The Black Rider natürlich auch nicht um die Jagd, doch in einem der bekanntesten Liedern, Just the Right Bullets, heißt es: „Du kannst nie auf die Jagd gehen mit nur einem Steinschloss und einer Bracke, du wirst keinen vollen Sack nach Hause bringen, schössest du eintausend Schüsse… Du brauchst nur genau die richtigen Kugeln“.
Klingt bekannt, oder? Etwas ähnliches kann man in jedem Jagdzeitschrift lesen.
You need just the right bullets – and the first one is always free!
Das könnte eine Werbung für Norma oder Barnes sein.

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Aleksey Morozov

Aleksei Morozov stammt aus einem kleinen sowjetischen Industriestädtchen. In den verschmutzenden Wohnblocks wuchs der Wunsch zum Eskapismus, wenn nicht zum Angeln oder der Jagd auf Wasservögel an der Wolga, dann zumindest in die Welt der Bücher. Nach einige Jahren als Dozent für Linguistik und Englisch als Zweitsprache wechselte er auf die dunkle Seite und wurde Journalist, Redakteur, Übersetzer und Digital-Marketing-Manager. Seit 2020 lebt Aleksei mit seiner Familie in Düsseldorf.
Besucht Alekseys Blog: https://sportingbookworm.wordpress.com/
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.
Turgenjew, hat mir mit seinem Buch klar gemacht, wie leidensfähig das russische Volk war und vielleicht auch heute ist. Unvorstellbares Leid geschah unter Lenin und später Stalin. Die Russen haben unter unsäglichen Opfern das alles weggesteckt. Mein Vater war als Neunzehnjähriger in Russland eingesetzt, schon nach der Schlacht um Stalingrad, als sich das Blatt der Wehrmacht wendete. Die Opferbereitschaft der russischen Soldaten war für ihn und seine Kameraden unfassbar. Nachdem ich die Aufzeichnungen eines Jägers gelesen hatte, habe ich begonnen zu verstehen. Sollten sich vielleicht einige heutige Protagonisten vergegenwärtigen.
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