von Holger Obenaus
„Dein Hintern ist rund, Die Sünde, Dein Mund“
Das Leben ist voller Illusionen. Schon in den frühen 80igern habe ich mich als Rebell im tiefsten Dschungel der Großstadt begriffen. Auch wenn meine Großstadt Köln damals irgendwie nur zwischen Hohenzollernring und Innerer Kanalstraße stattfand. Theo gegen den Rest der Welt. Eine Begrifflichkeit, die in der heutigen Zeit komplett anachronistisch erscheint. Ich bewegte mich musikalisch im Dunstkreis von Klauke, Polke und HA Schult. Besessen von der ultimativen Verlockung künstlerischer Unberechenbarkeit und dem Glauben an die Negation des Absoluten. Es war der trotzige Versuch dem faden Beigeschmack einer monochromen Nachkriegsrealität einen farbenfrohen Stempel aufzudrücken. Laut, ungefiltert und grenzenlos gefährlich! Auch wenn die Revolution zum größten Teil nur in unseren Köpfen und vielleicht ein wenig im Unterleib stattfand, ist es bis heute der unumstößliche Beweis, dass Ratio letztendlich immer von Emotion getoppt wird.
Die Kunst hat mich bis heute als Brennstoff für meinen kreativen Motor begleitet. Einer meiner liebsten Pilgerstätten ist Wynwood im Herzen von Miami.

Wynwood ist oberflächlich gesehen ein Spielplatz von Straßenkünstlern, Sprayern und anderen subversiven Elementen der urbanen Kunstszene. Eine einzigartige Mischung aus exil-kubanischem Untergrund gewürzt mit einem kräftigen Nackenschlag New York City.

Der Bordstein und die Häuserwände werden zur Leinwand. Warhol trifft van Gogh.

Ein immer währender künstlerischer Diskurs. Nichts bleibt wie es war. Die Kunst ist fließend wie das Leben in dieser Stadt. Selbst der brandneue Lambo SUV wird kunstvoll tätowiert.

Schnell und schrill mit einer gehörigen Portion Scheissegal. Wo in anderen Städten Food Trucks die kulinarische Szene prägen, finden wir hier an jeder Ecke rollende Verkaufsstände für Cannabis und Chewies. Die Insider wissen, wo es die beste Ware gibt, ich musste nur meiner Nase folgen. In Wynwood kann man sich sein Geld für Drogen sparen, man braucht nur einmal kräftig durchzuatmen.

Während die Touristen sich in Massen durch die Wynwood Walls, einem öffentlichen Park mit diversen Kunstwerken, quälen, hatte ich das Privileg in einer ruhigen Nebenstrasse Sid Hoeltzell kennenzulernen. Sid ist der selbsternannter Mayor von Wynwood. Jeder der ihn kennt wird das bestätigen. Eine Legende, ein People-Magnet, Larger than Life, deutsche Wurzeln mit einem kruden Humor. Er ist das Enfant Terrible von Wynwood und einer der besten amerikanischen kommerziellen Fotografen. Food und Beverage sind seine Spezialität, und jeder Amerikaner kennt seine Bilder. Coca Cola, Miller Beer, Wendy’s, Burger King – die Klassiker eben.

Sein Studio hat er zu einer Zeit gekauft, als Wynwood ein blutroter Fleck auf der Straßenkarte von Miami war und Immobilien in dieser Gegend verscherbelt wurden. Grand Theft Auto: Vice City – Gangs, Drugs und Shootouts. Sid hat hier für seine Top Kunden Fotos geschossen, während draußen echte Schießereien stattfanden.

Ich hatte das Vergnügen mehrere Tage und die darauffolgenden langen Nächte mit Sid verbringen zu dürfen.

Es war eine Tour de Force, die täglich hinter verschlossenen Türen seines Studios begann und spät nachts in der Wynhood, dem wahren Wynwood, zwischen lokalen Künstlern, authentischen Barflies und zwielichten Kreaturen der Nacht endete.

Immer dabei die geniale Laura Ciffone, ihres Zeichens Food Stylistin Extraordinaire.

Sid und Laura sind wie Jagger und Richards, die Glimmer Twins des Foto-Rock’n Rolls. Im Gefolge eine Entourage von Latinas unterschiedlichen Alters und subversiver Schönheit. Sid’s Spezialität eben, ich konnte mich wirklich nicht beklagen. Die Sprache eine kunstvolle Mischung aus Denglisch und Spanglish. Außerirdische Konversation, Lost in Translation. Kultureller Austausch auf intimster Ebene. Kommt man verbal nicht weiter, wird eben getrunken. Das Konzept ist bekannt und hat sich bestens bewährt.
Die Höhepunkte der nächtlichen Exzesse waren aber die kulinarischen Gelage. Sid ist ein hervorragender Koch, der in Season 9 an Master Chef im Team von Gordon Ramsay teilgenommen hat.
Er kennt wie kein Zweiter die kulinarischen Höhepunkte von Dade County und verfügt zudem über die Gabe, zu jeder Tages und Nachtzeit umgehend einen Tisch im Restaurant seiner Wahl zu bekommen. Mayor-Style eben! So haben wir kurzentschlossen im legendären KYU zu bester Zeit einen Tisch für zehn ohne Wartezeit bekommen und über Stunden getafelt – wohlgemerkt ein Restaurant, welches meistens ein halbes Jahr im voraus ausgebucht ist.
Das absolute Highlight war aber der Stiltsville-Abend. Sid hatte im Wahn nach einem langen Tag und dem Konsum von nicht näher definierter Gummi-Chewies ein Boot gechartert, welches uns unter dem Sternenhimmel von South Beach an die Südspitze von Key Biscayne teleportieren sollte. Dort liegt das berühmte Stiltsville, eine Ansammlung von Holzhäusern, die auf Stelzen einsam mitten im Ozean stehen.

Diese Häuser wurden Anfang der 30iger Jahre des letzten Jahrhunderts auf einer Sandbank gebaut und sind heute eine geschützte Sehenswürdigkeit, die nur per Boot zu erreichen ist.

Die bizarre Kulisse ist aus verschiedenen Kinofilmen und TV Serien bekannt. Einige wenige haben heute noch Zugang, und Sid schwört auf die Qualitäten des geheimen Bikini Clubs, an welchem wir vor Anker gingen. Der Bikini Club von Stiltsville war in den 60igern berühmt berüchtigt für seine ausufernden und freizügigen Parties und verschwand irgendwann von der Bildfläche. Die Mythen, die sich um diese dubiose Institution ranken, sind von allerhöchster Qualität, und mein Freund Sid und einige wenige seines Dunstkreises lassen diesen Club ab und an bei hellen Mondnächten wieder aufleben. Es war ein Abend von bizarrer Schönheit, bester kubanischer Cocktails und tief-dunkler Augen. Ich kann mich beim besten Willen weder an ihren Namen, noch an die Rückfahrt erinnern, weiß aber noch, dass wir in South Beach – wie könnte es anders sein – bei der Stiltsville Fishbar in den frühen Morgenstunden aufschlugen. Das Restaurant ist Sid’s Geheimtipp für Seafood in Miami und war im Begriff die Schotten für die Nacht dicht zu machen.

Unser unerwartetes Erscheinen, das stark-alkoholisierte Gefolge skurriler Figuren und natürlich seine Eminenz, Mayor Sid setzte alle Hebel in Bewegung. Innerhalb kürzester Zeit war ein großer Tisch für ein spät-mitternächtliches Mahl gedeckt.
Die Stiltsville Buffalo Fish Wings holten mich schlagartig aus der verführerischen Illusion tief-dunkler Augen zurück in die knallharte kulinarische Realität. Ein genialer Midnight Snack. Kleine Bissen vom Bauch des Red Snappers mit den dazugehörigen Bauchflossen, eine hauchdünne lecker gewürzte Panade liebevoll frittiert und in einer pikanten Chili-Lime Buffalo Sauce gewendet. Unglaublich einfach und unglaublich lecker!

Fish Wings sind der Beweis, dass Head-to-Tail auch beim Fisch seine Berechtigung hat. Ich muss gestehen, ich war ein wenig maßlos beim Verzehr.

Dunkle Augen mögen zwar immer noch ihren Reiz haben, aber in meinem Alter regiert der Bauch!
„Süßer Gestank, Vor Geilheit ganz krank”
Das Leben ist Mathematik. Eine stetige Negation der Widersprüche. Und die geniale Erkenntnis, dass durch Multiplikation das Negative zum Positiven wird.
„Tiere sind wir Ja, Tiere sind wir – Du stillst meine Gier – Ich still Deine Gier – Aber lieben werd‘ ich Dich nie.“

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https://www.kyurestaurants.com
© Songtext Zitate: Marius Müller Westernhagen
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Holger Obenaus

Holger Obenaus (* 1964) ist ein amerikanischer Fotograf, Musiker und Autor deutscher Herkunft. Das späte Ende der 70iger und die frühen 80iger Jahre verbrachte Holger als junger Punkgitarrist und späterer Musikproduzent in der Kölner und Düsseldorfer Musikszene. Im brodelnden und fruchtbaren Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie und der Kölner Werkschule hatten Elektronische Musik, German Punk & Pop und die Neue Deutsche Welle ihren Ursprung. Musiker und Künstler trafen sich in einschlägigen Etablissements in Köln und Düsseldorf zu einem kreativen Austausch von Ideen und Konzepten. Die Grenzen zwischen Kunst und Musik waren fließend.
Dieses Umfeld und die kreativen Einflüsse von Produzenten Ikone Conny Plank und Künstlern wie Jürgen Klauke, Gerhard Richter und dem Fotografen Boris Becker haben Holger bis heute stark geprägt. In den späten 90iger und frühen 2000er Jahre gehörte er zu den erfolgreichsten Musikautoren Deutschlands und wurde mit etlichen Mehrfach-Gold und Platin Awards der deutschen Musikindustrie ausgezeichnet.
Nach Aufenthalten in Kalifornien und Florida zog er Mitte der 2000er Jahre vollends in die USA.
Er verschob das Spektrum seiner künstlerischen Tätigkeit von der Musik zur Fotografie.
Holger’s kommerzielles fotografisches Werk, seine distanzierte objektivierende photographische Sichtweise ist streng an die Sachlichkeit und die saubere Linienführung der Arbeiten von Schülern der Becherklasse und der Düsseldorfer Schule angelehnt.
Holger pendelt heute beruflich zwischen Charleston, Dallas und Miami und verbringt seine Freizeit entweder passioniert auf der Jagd oder noch passionierter in der Küche.
Er ist überzeugter Vertreter von Farm-to-Table und Living off the Land, zwei kulinarischen Movements die die Esskultur der Vereinigten Staaten komplett verändern. Seit 2021 dokumentiert er kulinarischen Erlebnisse und Homesteading Erfahrungen unter dem Pseudonym Holger Holgerson in seinem Blog KRAUTANDREDNECK.COM

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Emaille und Porzellan. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.