Buchvorstellung
Eine Familie zieht in den Wald… Ganz entgegen meinen ersten Vorstellungen, welche geprägt waren von bärtigen Kerlen, welche sich mit Bären anfreunden, beginnt das Buch mit einer gefühlvollen weiblichen Introspektive. Draußen in der Natur schaut die sensible und unbärtige Autorin in sich hinein. Ihr unsortiertes Gefühlsleben ist der Spiegel eines chaotischen Lebens, erst in der Stadt, dann im Wald.
Schon der Titel Wir hier draußen verweist auf die Spannung, von der das Buch lebt. Die Familie der Aussteiger ist draußen. Wir, die Gesellschaft der Anzug- und Blaumannträger, sind noch mittenmang im System.
»Man kann in den Wald fliehen, um sich zu verstecken. Viele machen das, mehr, als man denken würde, aber wir haben es nicht getan, um uns zu verstecken.
Wir sind in den Wald geflohen, um uns selbst zu finden.«
Die dänische Erzählerin Andrea Hejlskov, eine Frau und Mutter, die sich als Versagerin fühlt und zu Depressionen neigt, samt ebenfalls depressiven Lebensabschnittspartner, einem Musiker im Karriereloch, erträgt ihr Leben nicht mehr. Sie arbeitet mehr schlecht als recht im Büro, ihr neuer Partner gräbt zur Selbstfindung Löcher in den Garten und ihre vier Kinder kommunizieren mehr mit dem Computer als mit ihrer Umwelt. Ihre finanzielle Situation ist erbärmlich.
»Gemeinsame Zeit verbringen wir nur im Auto. Und dann die ganzen anderen Katastrophen, all die Kriege, die nicht enden wollende Serie von Skandalen, die verzweifelten Menschen, dass alle so tun müssen, als sei alles normal, dass unser Kultur implodiert, dass die Strukturen, an die wir geglaubt hatten, ausgehöhlt waren, leer und kurz davor, in sich zusammenzufallen.«… »Alltag war, dass die Kinder, wenn sie von der Schule nach Hause kamen, direkt in ihre Zimmer gingen, Alltag war Bildschirme, war nie genug Geld haben, nie, nie, nie genug Zeit haben…«
Kurzum, sie waren verzweifelt. »…irgendwann ist es an der Zeit, das Handtuch zu werfen und alles hinter sich zu lassen. Vielleicht war der Zeitpunkt jetzt gekommen. Ich erinnere mich an den Horror, ich hab mich regelrecht ausgeknockt gefühlt und kaum noch atmen können.«
Als ihnen durch einen Mann namens „Kapitän“, den sie im Internet kennengelernt hatten, ein Waldstück in Schweden zum Leben angeboten wird, brechen sie ins Ungewisse der skandinavischen Wildnis auf. Ein Jahr lang wollen Sie in der Wildnis leben, um sich zu finden und einen radikalen Neustart hinzulegen. Die Erzählerin beginnt den Blog https://andreahejlskov.com/category/blog/, in dem sie ein öffentliches und schonungslosesTagebuch führt.
»Ich glaube nicht, dass jemand tun wird, was wir getan haben, wenn er die Verzweiflung nicht kennengelernt hat. Die Frustration. Es ist nichts, was man tut, wenn es einem gut geht, es ist etwas, das man tut, wenn man nichts mehr zu verlieren hat.«
Der Start erinnert an die Fernsehserie Goodbye Deutschland, in der man gefühlsgesteuerte Familien mit einem Mangel an analytischem Denken begleitet. Im eigenen Land, trotz Heimvorteil in Sachen Sprache, Kultur und Ausbildung gescheitert, träumen sie davon, in einem fremden Land, welches sie kaum kennen, das Glück zu finden. Sie machen sich in der Ferne selbständig und sind ganz verdutzt, dass trotz mangelnder Vorbereitung und niedriger Sprachkenntnisse ihre Erfolgsaussichten noch geringer, als in der vertrauten Heimat sind. Und wie viele Menschen, die im normalen Leben scheitern, macht sich das depressive Paar große Sorgen über die Zukunft der westlichen Industriegesellschaft, die Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit und den Klimawandel. Sie wissen nicht, wie sie selbst erfolgreicher werden können, denken aber gerne gleich für Volkswirtschaften im nationalen und internationalen Rahmen.
Das Leben im Wald beginnt als weitere Desillusionierung. Entgegen ihren modernen Ansichten über die Gleichheit der Geschlechter zwingen die Herausforderungen des Waldlebens und die körperlichen Ungleichgewichte zwischen Mann und Frau Andrea Hejlskov dazu, sich ohne die Erleichterungen durch moderne Haushaltsgeräte den ganzen Tag mit Kochen, Wäschewaschen im Fluss und der Kinderbetreuung zu beschäftigen, während ihr Mann mit dem selbsternannten Kapitän eine eigene Blockhütte baut was ungleich abenteuerlicher und befriedigender ist. Frauen verdanken eben die Emanzipation nicht nur gesellschaftlichen Zivilisierungsprozessen, sondern auch dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Ohne Maschinen, die Muskelkraft und Arbeitsstunden ersetzen, fallen die Geschlechter zwangsläufig in überwundene Rollenmuster zurück, welche Frauen benachteiligen. Ob das jetzt so erstrebenswert ist?
Trotz wunderbarer Momente in der Natur ist das Leben dort draußen eine fortwährende ermüdende Plackerei, unterbrochen von Geldsorgen, Eheproblemen und unangenehmen Überraschungen. »Zu unserem großen Erstaunen hatten wir schnell gemerkt, dass man nicht einfach Samen auf die Erde werfen und auf das Beste hoffen kann, nein, der Waldboden ist sauer und voller Steine.« Und obwohl sie die moderne Industriegesellschaft mit ihrer unmenschlichen Technik, Bürokratie und Entfremdung verachten, lehnen sie das Kindergeld als einzige Einkommensquelle nicht ab und benötigt Andrea die moderne Gerätemedizin in einem Krankenhaus und den Sozialstaat, der die Rechnung bezahlt. Auch sammeln sich hinter der Hütte schwarze Plastiksäcke voller Müll, denn ohne Einkäufe in Supermärkten geht es nicht, aber natürlich kommt die Müllabfuhr nicht in die Blockhütte irgendwo im Wald. Den Müll zu verbrennen erweist sich als stinkende Umweltverschmutzung, wie sie erstaunt feststellen.
»Ich kam mir die ganze Zeit vor wie ein Idiot. Ich hasste dieses Gefühl.«
Die Pschologin Andrea Hejlskov realisiert Stück für Stück dass der „Kapitän“ zwar anfangs sehr sensibel und voller Liebe wirkt, sich aber als gestörte Persönlichkeit mit Knasterfahrung entpuppt. Allen anarchistischen Grundüberzeugungen zum Trotz und ohne große Führungsqualität wäre er gerne der Kommandant und Wortführer. Er schwärmt von der gesellschaftlich notwendigen Auslöschung des Egos und um für den Untergang des Abendlandes gewappnet zu sein, wünscht er sich eine Festung. Außerdem würde er gerne heroisch im Kugelhagel sterben.
Wie können zwei depressive Großstadtneurotiker mit drei Kindern ohne Vorbereitungen und Kenntnisse in die Wildnis ziehen? Wenn ich für zwei Wochen Urlaub in einem Ferienhaus am Gardasee mache, habe ich mich vor dem Reiseantritt besser vorbereitet und ausgerüstet. Vielleicht liegt dies daran, dass ich in einem Jahr nicht so viele extreme Gefühle durchlebe, wie die Autorin an einem Tag?
Was mich dann doch immer weiterlesen ließ, war die ungeschminkte Schilderung der Geschehnisse und Gefühlsausbrüche auf einem lesenswerten sprachlichen Niveau. Und dass die Erzählerin nicht ohne Reflektion und Selbstironie ist. »Irgendwann ging ich raus, um zu pinkeln, und als ich zurückkam, fiel es mir zum ersten Mal auf. Ich sah es ganz deutlich. Unser Tipi aus grauer Plane, erleuchtet vom Feuer darin, sah exakt aus wie ein Aluhut.« … »Keiner von uns wusste es. Wir wussten gar nichts. Wir wussten nicht, wer wir waren, wir wussten nicht, was wir wollten, wir hatten uns einfach in die Sache hineingestürzt, und nun gerieten wir ins Schwimmen.« … »Es gab glückliche Momente mit den Kindern und bittersüße traurige Momente alleine. Ich war komplett im Überlebensmodus, und ich war ständig in Habachtstellung. Selbst wenn ich lange Spaziergänge mit den Jungs machte, wir Preisbeeren und Heidelbeeren pflückten, war ich nie ganz bei der Sache. Angst. Paranoia. Zweifel. Und das ganz neue Gefühl, dass irgendetwas kommen würde. Das spürte ich ganz deutlich.«
Gefühle allerorten und kein Plan.
Ich muss es jetzt hier beichten: Zwischen diesen Kapiteln musste ich zwanghaft immer mal wieder zum Ausgleich die Sitcom Two and a Half Men schauen. Wie entspannend und lustig wenn Charlie, in einer Villa im sonnigen Süden lebend, lakonisch behauptet: „Gefühle sind wie die Brüste deiner Mutter. Du weißt, wo sie sind, aber du fasst sie nicht an.“
Der Anfang im Wald war die härteste Phase. Seit der Schilderung der in dem Buch beschriebenen Ereignisse ist mehr als ein halbes Jahrzehnt vergangen. Nach dem chaotischen Sprung ins kalte Wasser hat die Familie den Alltag im Wald mittlerweile in den Griff bekommen. Sie leben wieder näher an ihrer Heimat Dänemark. Das Klima ist etwas wärmer, die Existenz als Selbstversorger leichter und sie sind näher an ihren älteren Kindern, die mittlerweile ausgezogen sind. Ihr jetziges Haus im Wald ist nicht ganz so abgeschieden und keine selbstgebaute Blockhütte mehr, es verfügt aber weder über Elektrogeräte oder fließendes Wasser.
Insgesamt ein lesenswerter Bericht, jenseits idealisierter Aussteiger-Ideale und Landlust-Träume. Für mich ist es auch ein Lehrstück darüber, wie hart das Leben sein kann, wenn man komplett gefühlsgesteuert ist und einem offensichtlich die Fähigkeit zu analytischem Denken fehlt, um es ganz undiplomatisch zu formulieren. Ob man selbst wirklich auf so einem niedrigen materiellen Niveau einsam im Wald leben möchte, ist eine Frage, die sich nach der Lektüre dieses Titels leichter beantworten lässt, denn für die Freiheit, in der Natur zu leben und keiner geregelten Erwerbsarbeit nachzugehen, muss man einen Preis zahlen und der Preis den Frauen für diese Freiheit zahlen, hat noch einen Aufschlag.
***
Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.
Titel: Wir hier draussen – Eine Familie zieht in den Wald
Autorin: Andrea Hejlskov
Übersetzerin: Roberta Schneider
Verlag: mairisch Verlag
ISBN: 978-3938539477
Verlagslink: https://www.mairisch.de/programm/andrea-hejlskov-wir-hier-draussen/
*
Andrea Hejlskov im Autorengespräch: https://www.buchmarkt.de/buecher/andrea-hejlskov-raum-bieten-fuer-alles-nichtkonforme/
*
Blog: https://andreahejlskov.com/category/blog/
Instagram: https://www.instagram.com/andreahejlskov/