Buchvorstellung
Ich kenne viele Menschen, die für ein Leben ohne Gott oder Götter plädieren, aber keinen, der auf Monster verzichten mag. Schon unter den ersten künstlerischen Zeugnissen unserer steinzeitlichen Ahnen finden sich Abbildungen von Monstern. Vor ungefähr 40.000 Jahren entstand in der südfranzösischen Chauvet-Höhle die lebhafte Abbildung einer Frau mit dem Oberkörper und Kopf eines Stieres. Zur etwa gleichen Zeit wurde im deutschen Lonetal aus Mammut-Elfenbein der Löwenmensch geschnitzt. Der Aufwand und die Kunstfertigkeit, mit der diese frühen Meisterwerke in einer Zeit hergestellt wurden, in welcher die Menschen sich in einem steten Existenzkampf befanden, zeigt uns, wie wichtig sie ihnen waren. Monster kamen zeitgleich mit den Menschen auf die Welt, als Erweiterung ihrer Realität. Sie bestanden aus bedrohlichen Versatzstücken der Wirklichkeit und erweiterten sie zugleich als Manifestationen des Nachdenkens über menschliche Ängste. Eine Gesellschaft, die ohne fiktionale Monster auskommt, gibt es seitdem nicht.
Wir sind die einzigen Lebewesen, welche sich nicht real existente Gefahren vorstellen und daraus eine Kultur erschaffen, über die wir uns austauschen. Die Gründe hierfür liegen wohl zum einen darin, dass unser Gehirn diffuse Strukturen und Formen ergänzt, um daraus bekannte Muster zu schaffen. Weiterhin neigen wir dazu, menschliche Eigenschaften auf alle möglichen Objekte oder Wesen zu übertragen. So wenn wir im Mond ein menschliches Gesicht zu erkennen glauben. Entwicklungspsychologen sprechen vom Gottesinstinkt, da Menschen von Natur aus über einen Glauben an höhere Mächte verfügen, weil sie hinter jedem Geschehen einen Akteur erwarten. Vielleicht sind diese spirituellen Talente und unser Kunstsinn das, was uns am meisten von Tieren unterscheidet? Über Sprache und Werkzeuggebrauch verfügen auch Tiere. Schimpansen kommunizieren miteinander und bauen sich Nester, aber beten, Dämonen fürchten und geschmückte Tempel zu bauen ist zutiefst menschlich.
Der Wissenschaftsjournalist Hubert Filser zeigt in Menschen brauchen Monster die Dämonen die in vielen Erdteilen seit den ersten Tagen der Menschheit geschaffen wurden.
»Allein das Wort „Monster“ spiegelt die vielschichtige Natur der gruseligen Gestalten wieder. Zum einen liegt ihm das lateinische Wort monstrare zugrunde – zeigen, andeuten, hinweisen – und zum anderen monere – mahnen, ermahnen, erinnern. Diese beiden wesentlichen Eigenschaften stecken quasi in der DNA der Monster. Sie mahnen einerseits richtiges Verhalten an und weisen zudem auf Gefahren hin. Die Monster aus den alten Volkssagen beispielsweise, die einst in Sümpfen und Mooren heimisch waren, warnten die Bevölkerung vor den Tücken der Feuchtgebiete.
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Andererseits verkörpern Monster verborgene Sehnsüchte, versteckte Fantasien oder tief sitzende Ängste. Sie können Träger übernatürlicher Botschaften sein oder Vorboten kommenden Unheils. Sie können Hinweise auf eine gesellschaftliche Grenze oder Norm liefern, die sie zeichenhaft verletzen und damit erst offenbaren. Ihr Erscheinungsbild ist ein Signal an die Gesellschaft, dass sich etwas verändert. Monster verstoßen mit ihrem Äußeren gegen die Gesetze der Natur und mit ihren Handlungen gegen Regeln und Normen, die sie so sichtbar machen. Das ist ihre Aufgabe. Wir haben sie so gestaltet, dass sie uns tief berühren und so eine möglichst große Wirkung entfalten.
Viele Menschen verbinden Monster vor allem mit dem Bösen, mit grausamen Gestalten und kaltblütigen Killern. Das ist ein Irrtum. Monster sind als Projektionsflächen unseres komplexen Innenlebens äußerst vielschichtig. „Wie Buchstaben auf einem Blatt Papier steht das Monster für etwas anderes als sich selbst“, schreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Jeffrey Jerome Cohen in seinem Buch Monster Theory. Er sieht jeden monströsen Körper als kulturelles Produkt, das kennzeichnend ist für die Gesellschaft, der er entstammt. Dieser entstehe im Moment eines gesellschaftlichen Wandels oder Umbruchs, seine Symbolik werde aber meist erst später entdeckt und entziffert.«
Ob die Ungeheuer der Aborigines, die Dämonen der alten Ägypter und Mesopotamier, die Ungeheuer der Indianer oder vor allem die Monster Europas seit der Antike bis in die Moderne, sie werden von allen Seiten betrachtet, ihre Evolution erklärt, ihr Verhalten studiert und ihr Inneres seziert.
Die Texte sind umrahmt und illustriert von den Zeichnungen Peter M. Hoffmanns umrahmt, was der Lektüre besonderen Genuss bereitet. Schon mittelalterliche Mönche Monster verwendeten Monsterbilder als Schmuckelemente an den Seitenrändern der von ihnen geschriebenen Bücher, von daher fand ich diese Traditionsfortführung sehr stimmungsvoll.
Was mir bei der Durchsicht meiner Notizen und Anstreichungen jedoch auffiel: Viele Beobachtungen und Gedanken wiederholen sich immer wieder im Buch und die originellsten Gedanken sind Zitate. Einige Fehler finden sich ebenfalls. Sigmund Freud erfand angeblich die Wissenschaft „Psychoanalytik“ und in E.T.A. Hoffmanns Sandmann wird aus dem Advokaten Coppelius ein Zauberer.
Ziemlich schwach fand ich leider Filsers letztes Kapitel Und jetzt? Die Angstgesellschaft in welchem er ellenlang den amerikanischen Präsidenten Trump oder auch den Briten Boris Johnson als politisches Monster darstellte und als Beweise unter anderem deren Frisuren anführte. Hier hätte er seine eigenen Erläuterungen nochmals lesen können, dass man sich selbst in ein hasserfülltes Monster verwandelt, wenn man anderen Menschen ihre Menschlichkeit abspricht. Ich habe mit Trump wenig am Hut, aber das war nun selbst Trump-Niveau.
Auch das Hinstellen von Kritikern der Theorie des menschengemachten Klimawandels zu religiösen Fundamentalisten ist falsch. Jede wissenschaftliche Theorie stellt nur den aktuellen Stand unseres Irrtums dar und Fortschritt entsteht dadurch, dass wir die heutigen Theorien nicht als unangreifbare heilige Texte begreifen, sondern unseren Ehrgeiz darin sehen, ihre Fehler zu entdecken und sie zu verbessern. Ich bin sicher, dass unsere Nachkommen über vieles schmunzeln werden, was heute so verbissen an Universitäten gelehrt oder von Journalisten und Politikern hinausposaunt wird, wie es uns mit den Wahrheiten der Barock-Wissenschaftler geht.
Bei diesen und den weiteren Thesen aus dem letzten Kapitel erfuhr ich mehr über die persönliche Filterblase des Autors als über Monster.
Ob Leser von Vampirromanen oder Zombiefilm-Fans, die Bigfoot-Foto-Sammler auf Pinterest, die Ufologen, Historiker, Romanciers oder selbst die Monster unter meinen Lesern, sie alle finden Fakten, Anregungen und Theorien über unsere personifizierten Ängste im Wandel der Epochen und Kulturen. Es gehört Mut dazu und bereitet doch Lust sich Monstern zu stellen. Selbst heute nutzen draufgängerische Finanzmanager das Kartographen-Kürzel T.B.D.– There be dragons – zur Kennzeichnung der Akten mit ihren riskantesten Transaktionen. Frage Dich und Deine Freunde nach ihren Lieblingsmonstern, beobachte aktuelle Monsterfilme sowie -bücher und Du wirst Erstaunliches über Euch erfahren. Was fürchtet Ihr, was hasst Ihr und was für monströse Wünsche schlummern vielleicht auch unentdeckt in Euch selbst? Wer tiefer in diese monströse Materie einsteigen möchte, findet im Anhang eine aufschlussreiche Literaturliste.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
Titel: Menschen brauchen Monster – Alles über gruselige Gestalten und das Dunkle in uns
Autor: Hubert Filser
Grafiken: Peter M. Hoffmann
Verlag: Piper
Verlagslink: https://www.piper.de/buecher/menschen-brauchen-monster-isbn-978-3-492-05844-5
ISBN: 978-3-492-05844-5
„selbst die Monster unter meinen Lesern,“?? Sehr witzig.
Kennst Du Tomi Ungerer, den Zeichner? Der hatte in seinen Anfangsjahren schon damit begonnen, monströse Gestalten in Kinderbüchern zu zeichnen, die Kindern Angst und Schrecken einjagen bis zu einem bestimmten Grad zumindest. Um nämlich zu lernen, diese Angst zu überwinden…
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Tomi Ungerers Buch „Das Kamasutra der Frösche“ hat mich davon überzeugt, dass diese Amphibien gar nicht so kaltblütig wie ihr Ruf sind.
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Da haben wir uns ja gerade beide mit einem ähnlichen Thema befasst 😉
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Gemeinsame Interessen sind einer der Gründe, weswegen ich mich über jeden neuen Blogbeitrag von Dir freue.
Schade übrigens, dass es in den europäischen Welt der „Wilde Mann“ so in Vergessenheit geraten ist, ich stehe ja auf Affenmenschen wie den Yeti oder vor allem den nordamerikanischen Bigfoot…
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Stimmt. Gute Frage, weshalb wir den nicht haben …
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Ha! Ich habe beim Schreiben meines neuesten Artikels einen gefunden: Fear Liath.
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