Gleich enthüllt‘ er den glatten Bogen vom Horne des wilden
Steinbocks, welchen er unter der Brust einst selbst getroffen;
Denn er lag auf der Lauer, als dieser vom Felsen herabstieg,
Traf ihn gegen die Brust, und rücklings fiel er zum Felsen.
Sechzehn Handbreit ragten empor am Kopfe die Hörner.
Homer, Ilias IV 105 sqq
von Christian Carl Willinger
Heiß brannte die Sonne vom stahlblauen Septemberhimmel über den ringsum ragenden Bergen. Ich saß vor meinem kleinen, schilffarbigen Zelt auf dem Sattel meines Kirgisenponys, der mir als Schemel diente, und las in jenem Buch der Gebrüder Roosevelt mit dem poetischen Titel „East of the Sun and West of the Moon“.
Im Jahre 1925 begaben sich die beiden Präsidentensöhne Ted und Kermit auf eine großangelegte Expedition von Kaschmir über den Karakorum-Paß und Yarkand nach Aksu und von dort in den ost-turkestanischen Teil des Tian Shan. Der Rückweg führte sie über Kaschgar in den Pamir, ehe sie über den Hunzapaß und Gilgit nach Srinagar zurückkehrten. Schon von früheren Expeditionen aus dem 19. Jahrhundert wußten sie, daß im Tian Shan die besten Steinböcke der Welt ihre Fährten zogen: „The Tian Shan, where the finest heads are to be found“, „the promised land of big game.“ In den chinesischen Gebirgszügen am Oberlauf des Kok Su, der dem Tekkes zufließt, schoß Kermit um den 22. August den Langzeit-Weltrekord von 151 Zentimetern.
Und dann steht da noch etwas geschrieben in jenem Buch: „There are many ibex in the Tian Shan mountains, but any one who believes that a good head is therefore easy to get makes a very real mistake. It is one thing to see them through field-glasses, and another to get them and bring them back in triumph to camp. Stalking the big ibex is hard and tricky work.“
Hart und schwierig, so sollte Jagd denn auch sein, und deshalb hatte ich mich entschlossen, nach Kirgistan zu reisen, um im Tian Shan, den Celestial Mountains, den Bergen des Himmels, dem scheuen Wild nachzustellen.
Sechsunddreißig Stunden waren wir nun schon auf den Beinen, der junge Bayer Timo und ich. Über Stambul und Bischkek, und dann mit dem Wagen über den dreieinhalbtausend Meter hohen Too Ashuu Paß, dessen zahlreiche Kehren von streikenden Automobilen und darunterliegenden Fahrern belebt wurden, gelangten wir in das großflächige Hochtal des Suusamyr, wo die Kirgisen noch in traditionellen Jurten leben und große Viehherden über die kahlen, grasbestandenen Hügel ziehen. Die Zahl der Schafe, Rinder und Pferde geht in die Tausende. In Ermangelung von Holz wird auf dieser Höhe der Dung des Viehs in der Sonne getrocknet und für den Winter als Brennmaterial gelagert. Die Jurten sind innen dick mit bunten, handgewebten Wand- und Bodenteppichen ausgekleidet. Doch der Wandel macht auch vor dem ländlichen Kirgistan nicht halt: Jurten mit Plastikplanen, blaue Wohn-Waggons und Kraftwägen vor den Unterkünften zeugen vom Einzug neuer Zeiten.
Über den Ala Bel Paß fuhren wir entlang des steil abfallenden Flusses Tschytschkan zum Tiefland des Toktogul-Stausees. Ehe die Schlucht des Flusses endet, durchbricht sie mächtige Wollsackformationen granitähnlichen Gesteins. Dort steht am Rande der Straße unter den Felsen ein idyllisches, blumenumpflanztes Teehaus, wo wir uns im Schatten eines stattlichen Baumes, unter dem sich ein orientalischer Niedrigtisch mit Sitzmatten befand, erfrischten. Kurz vor dem Stausee bogen wir auf einen Feldweg ab, der uns über zwei Stunden hinauf in die Täler des Talas-Alatau führte, dessen Gipfel von Viertausendern beherrscht werden. Hier hat Otto Gries seit etlichen Jahren eine ausgedehnte Konzession.
Vorbei an berghohen, senkrechten Konglomerat- und Sandsteinwänden mit hunderten Höhlen, Zeugnissen der erosiven Kraft des Flusses, welcher das Tal durchfließt, zog sich der Weg durch langgestreckte Dörfer, und da gerade der erste Schultag zu Ende ging, begegneten wir vielen Schülern in ihren adretten schwarzweißen Schuluniformen oder gar im Anzug. Ein Junge rief „Russki“, als wir im Wagen passierten, und meinte damit wohl „Schert Euch zum Teufel, Ihr Russen.“ Der Großteil der russischen Bevölkerung ist denn auch in den letzten Jahren nach Rußland zurückgekehrt, weil man sich nicht mehr wohl fühlt in diesem Land, das man 130 Jahre lang verwaltet hat und das sich nun auf seine kirgisische Nationalität und islamische Tradition rückbesinnt. Dabei steht beides auf tönernen Füßen: der Islam hat sich erst im 18. Jahrhundert etabliert und die Kirgisen standen den Großteil ihrer Geschichte, jedenfalls die letzten tausend Jahre unter Fremdherrschaft. So muß man auch den mythischen Führer Manas aus dem gleichlautenden Epos als Nationalhelden bemühen. Epische Helden haben einen unbestreitbaren Vorteil: sie entziehen sich der Dekonstruktion, mit welcher die Moderne alle realen Helden und ihre Mythen zu Fall zu bringen sucht. Und schließlich sind, daran kann kein Zweifel bestehen, Manas-Statuen allemal besser als die Götzenbilder Lenins, welche man in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch zwanzig Jahre nach der Wende immer noch vielerorts antrifft.
Lange schon hatten wir die letzten dörflichen Strukturen hinter uns, als sich das Tal stark verengte und wir nur mehr auf einzelne kleine Imkerhäuschen mit dutzenden Bienenstöcken inmitten wilder Wiesen in voller Blütenpracht stießen. Der Feldweg wies nun große Schlaglöcher auf, die durchwegs mit braunem, schlammigem Wasser gefüllt waren.
Am Oberlauf des kalten Gebirgsflusses Uzun Akmat schlugen wir für die erste Nacht unser Zeltlager auf, ehe wir am nächsten Tag zum Basislager in die Berge reiten würden. Elstern, deren Gefieder in der warmen Nachmittagssonne dunkelblau glänzte, tummelten sich in den wilden Birkenhainen, welche das Flußufer säumten und die umliegenden Hügel bestanden. Auch die Roosevelts hatten in ihrem Buch das häufige Vorkommen von Pica pica beschrieben. Gegen Abend stießen Ottos kirgisische Jagdhelfer mit acht Pferden zu uns. Die Mannschaft war nun komplett und bestand neben Otto aus den beiden Jägern Nousurkán und Nurpaís, der Köchin Ira und dem Campgehilfen Kescha.
Ira, eine aparte Kirgisin Ende dreißig sprach wie viele Kirgisen relativ gut Deutsch. Immerhin lebten bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion an die 100.000 Deutsche im Land, viele davon schon seit den Dreißigerjahren. Auch heute noch gibt es ein paar Tausend. Selbst die beiden kirgisischen Jäger konnten etwas Deutsch. Man lernte zu Sowjetzeiten Deutsch als zweite Fremdsprache in der Schule. Nousurkán war Mitte vierzig, sah jedoch um zehn Jahre älter aus. Er hatte früher getrunken, war aber nun clean. Zwei Front-Goldkronen gaben seinem Lächeln die besondere Note orientalischen Flairs. Er war ein erfahrener Jäger, aber auch einer, der gerne versuchte, den einfachsten Weg zu gehen. Otto mußte ihm immer wieder klar machen, daß die meisten Jagdgäste des Erlebnisses wegen kämen und nicht um möglichst schnell zu Schuß zu kommen. Nurpaís war da aus anderem Holz, war passioniert und wollte für seinen Gast den bestmöglichen Erfolg. Er ging auf die dreißig zu. In dem Dorf, wo er aufgewachsen war, wohnten damals fast nur Deutsche, und er wußte sehr positiv über ihre Hilfsbereitschaft zu berichten. Er war schlank und drahtig und lief in seinen Gummistiefeln in den Bergen herum wie unsereins im Garten. Als Socken dienten ihm zwei Samttücher, die er jede Stunde neu um seine Füße wickelte, dazu steckte er sein Jagdmesser mit Kunststoffscheide in den Stiefelschacht. Es war mir ein Rätsel, wieso diese Leute niemals Blasen oder Schürfstellen bekamen und auf den steilen Gras- und Geröllhängen, die wir queren sollten, nicht ausrutschten.
Otto Gries, in gewissem Sinne der Kai-Uwe Denker der Steinbockjagd, ist, obwohl Ende fünfzig, ein zäher, drahtiger Bergfex, welcher in den Hängen und Felsmassiven gemsengleich herumläuft, scheinbar ohne jemals um Atem ringen zu müssen. Redselig und lustig, mit hoher Fistelstimme erzählt er von seinem langjährigen und oft herausfordernden Engagement für die Trophäenjagd in Kirgistan. Ihm ist ein hohes Maß an jagdlicher Passion zu eigen, eine tiefe Liebe zu jagdlichem Purismus und gerechtem Weidwerk, zu good sport and fair chase. Er versucht, alles rauszuholen, was möglich ist, geht mit seinen Jagdgästen durch dick und dünn, und meist kommt es sehr dick ! Steinbockjagd im Tian Shan, das sollte sich noch weisen, zählt zum schwierigsten Weidwerk, das ich in meinem Dasein erleben durfte.
Wir waren nach dieser endlosen Anreise stark übermüdet und krochen gleich nach dem Nachtmahl in die Schlafsäcke. Nachdem wir am nächsten Morgen das Lager abgebaut und das Gepäck aussortiert hatten, in jenen Teil, der im Auto zurückbleiben und jenen, der in Seesäcke verstaut auf die Pferde geladen würde, begannen wir unseren dreistündigen Ritt, auf dem wir tausend Höhenmeter zu überwinden hatten. Ich war froh, endlich wieder einmal auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, denn es gibt wenig auf dieser Welt, was mich mehr beglückt. Entlang der steilen Hänge des bewaldeten Tales eines wild rauschenden Gletscherflusses stiegen wir hinauf in die Berge, ritten durch große Himbeerfelder, wo wir uns im Vorbeiziehen an den reifen Früchten labten, und gelangten schließlich zu unserem Lagerplatz auf guten 2600 Metern. Die Zelte wurden aufgestellt, ein Feuer entfacht und Ira bereitete uns ein kleines Mittagsmahl.

Anschließend sattelten wir die Pferde erneut und stiegen über mit kniehohem Gras bewachsene Steilhänge und drei kleine Sättel zu einer Hochebene auf, von deren oberstem Bereich wir einen grandiosen Rundblick auf die Berg- und Gletscherwelt um uns hatten. Im Norden und Osten lagen in weiter Ferne endlose Bergketten, während gegen Süden und Westen jeweils in vier bis fünf Kilometer Entfernung ein teilvergletschertes Hochmassiv aufragte. Das westliche wurde von einer Felspyramide dominiert, die sich auf 4100 Meter erhob. Wir selbst befanden uns nun auf 3300; drei Täler lagen zwischen uns und der Pyramide. Dorthin richtete sich unser Hauptaugenmerk, denn in den Felswänden dieser höchsten Berge hatte das Steinwild seinen Einstand. Bald auch fand Otto eine Gruppe von sieben Böcken im zarten Grün am Fuße des Gletschers äsen, der sich von der Pyramide herabzog, und richtete sein Spektiv auf sie ein.
Für mich war Steinwild immer schon Archetypus und Inbegriff edlen Bergwilds. Kräftig und robust im Bau, bewegt es sich dennoch mit unvergleichlicher Eleganz in den ausgesetztesten Klippen. Und das mächtige Gehörn, wenn die Böcke am Grat stehen und ihre Silhouetten sich gegen den Himmel abheben, erscheint im Vergleich zu ihrem Körper überdimensional und verwegen. Kein anderes Wild präsentiert sich am schroffen Fels derart markant und wuchtig. Mehr noch als für andere Steinbockarten gilt dies für den gewaltigen Sibirischen, für Capra sibirica.
Da drüben waren sie nun, diese Giganten, doch trotz des guten Spektivs konnten wir ihre Stärke nur ahnen. Immerhin steht vier Kilometer entferntes Wild nicht gerade hautnah, auch blendete die tiefstehende Sonne und ließ die Kontraste in einer milchigen Trübung verschwimmen.
Auf einem Hang im Osten entdeckten wir einen jungen Bären, und immer wieder flog der Ular, das Himalaya-Königshuhn Tetraogallus himalayensis, eine den Rauhfußhühnern verwandte Art, mit lauten Rufen über uns hinweg. Die Murmeltiere – es handelt sich um Arten wie Marmota caudata, M. bobak centralis oder M. menzbieri – hatten sich trotz des guten Wetters offenbar schon zum Winterschlaf in ihre Baue zurückgezogen. Natürlich hielten wir auch Ausschau nach dem Schneeleoparden, doch obwohl dieser im Tian Shan keineswegs selten ist, bedarf es schon besonderen Glücks, seiner ansichtig zu werden.
Rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit begannen wir unseren Abstieg ins Basislager. Ich mußte schon all mein Vertrauen in die Trittsicherheit meines Ponys legen, als es die vierzig-, stellenweise fünfziggrädigen Steilhänge bergab zu queren begann, auf einem hufbreiten, kaum sichtbaren Pfad, fünfhundert Meter über dem Talgrund. Saschka, wie mein dunkelbraunes, fast schwarzes Pferd hieß, ließ mich jedoch nicht im Stich und brachte mich sicher ins Lager.
Timo war in seinem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd gesessen, doch er hielt sich wacker und ich bewunderte ihn sehr. Am Abend klagte er aber dann doch über wunde Stellen an gewissen Orten. Immerhin waren wir an diesem Tage bestimmt fünf Stunden im Sattel gesessen. Doch die Kirgisensättel sind, obwohl nur aus einem primitiven Holz-Metall-Gestell bestehend, durch eine gefütterte, vierlagig gefaltete Sitzdecke weich wie ein Sofa. Dieselbe Decke dient auch als abendliches Sitzkissen und als nächtliche Isoliermatte, ist also ein wahrhaftes Multifunktionstool.
Wir waren wieder zeitig schlafen gegangen, doch mitten in der Nacht wachte ich plötzlich mit starken Halsschmerzen auf. „Verflucht nochmal, jetzt bekomme ich einen grippalen Infekt“, dachte ich und nahm Aspirin. Dann schlief ich wieder ein. Am nächsten Morgen schmerzte der Hals immer noch, und der heiße Tee zum Frühstück tat gut.
Wir bauten zwei Zelte ab, vertäuten sie am Sattel und packten all das, was man für eine voraussichtlich zweitägige Expedition benötigt. Dann ritten wir hoch zum Aussichtsplateau vom Vortag, das wir gegen neun Uhr erreichten. Lange glasten wir die fernen Berge ab. Otto entdeckte schließlich zwei Rudel drüben bei der Pyramide am Fuße des Gletschers, das eine in etwa dort, wo wir gestern schon welche gesehen hatten, das andere stand in den Felsen. Während wir glasten, bekam ich einen Serien- Nießanfall und wußte: jetzt geht’s los. Tatsächlich entwickelte ich im Laufe des Tages eine ausgewachsene Rhinitis, doch zum Glück keinen systemischen grippalen Infekt.
Wir setzten uns nun zusammen und besprachen die Lage. Timo und ich würden getrennte Wege einschlagen. Da ich nicht schwindelfrei bin, kam für mich die Südumschlagung der Bergstöcke nicht in Frage, obwohl dort in den Felsen und senkrechten Wänden die Chancen des Zusammentreffens mit einem Hochkapitalen wesentlich besser gewesen wären. Und für einen solchen hätte ich jede Mühe auf mich genommen. Aber ich kannte mich gut genug, um mich keinen Illusionen hinzugeben, mir war völlig klar, daß ich nicht südlich durch die Wände, sondern nur von Norden her durch das Tal des Gletscherflusses zu den Bergen vordringen konnte. Nousurkán schlug glatt vor, daß doch beide, Timo und ich, das Tal nehmen sollten, dann gemeinsam anpirschen und einfach simultan schießen könnten. Eins, zwei, fertig die Jagd und ab nach Hause. Da wurde aber Otto richtig böse: „Daß Du das nicht und nicht begreifen willst: wir wollen hier nicht Fleisch machen, sondern jagen! Die beiden“, und dabei deutete er auf uns, „die beiden wollen doch was erleben!“
Also trennten wir uns um die Mittagsstunde, Timo ging mit Otto nach Süden, ich ritt mit Nurpaís tief hinunter in das nördliche Tal. Nousurkán begleitete uns eine Weile und verließ uns dann, um einen näherliegenden Aussichtsplatz in einer der Vorketten aufzusuchen und die Böcke zu beobachten.
Drunten im Tal errichteten wir unser Flycamp und kochten Tee. Der Tag war wolkenlos, und die Sonne stach unbarmherzig herab. Nirgends gab es Schatten in dieser baumlosen Höhe. In den Strahlen der Sonne war es brennend heiß, doch wenn der leichte Wind im eigenen Schatten in den Rücken wehte, fror man dort schnell, wie bei den großen Kaminfeuern alter Herrenhäuser: vorne gegrillt und hinten erfroren. Ich hängte mir den Fleece-Pullover um.
Da die Böcke gegen Abend aktiv zu werden pflegen, brachen wir erst gegen drei Uhr auf und ritten den Gletscherbach hoch, dessen Bett derart grobfelsig war, daß wir oft absteigen mußten, um die Pferde über felsblockübersäte Steilhänge zu führen, die zu begehen äußerst beschwerlich war. Auf einer Schneebrücke, von der sich Nurpaís vorher versicherte, daß sie noch stark genug war, überquerten wir den Fluß und ritten dann den Westhang steil hinauf, bis die senkrechten Wände aufzuragen begannen, welche den vor uns liegenden Talkessel umgrenzten.
Dort ließen wir die Pferde zurück, banden sie fest und glasten die Wände ab. Hoch droben, tausend Meter entfernt, standen zwei Stück mittlerer Stärke im Gestein. Völlig unbekümmert sprangen sie von Fels zu Fels, als würden sie sich zu ebener Erde statt in einer senkrechten Wand bewegen. Nousurkán benachrichtigte uns, daß im Grün unter dem Gletscher der Pyramide wieder ein Rudel stünde. Viertel vor fünf begannen wir unsere Pirsch. Wir querten die flachen, langgezogenen Sockel der Westhänge, dabei langsam höher steigend, ein Geröllfeld nach dem anderen überwindend. Schon bald merkte ich, wie mühsam das Gehen war und daß ich um Luft ringen mußte. Alle paar hundert Meter rastete ich und bekam jedesmal einen Nießanfall, den ich mit zugepreßter Nase so gut wie möglich geräuscharm hinter mich zu bringen suchte. Zum Glück hatte ich genügend Taschentücher mitgenommen. Schnupfen und Höhe ergaben eine nicht unbedingt glückliche Konstellation.
Schließlich gelangten wir an den Fuß jener Felsformation, hinter der sich die Böcke befinden mußten. Nun hieß es, die Felsen hochzuklettern. Es war schon halb sieben. Unter uns lag im Talschluß ein großer, blauer See, in den ein mächtiger Gletscher abfiel, der fast senkrecht im Berg hing.

Ganz oben auf der Bergspitze über dem Gletscher stand – selbst im Glas einer Mikrobe gleich – ein Bock, dessen Gehörn sich, das konnte man trotz der Entfernung erkennen, mächtig gegen den Himmel abhob. Ein zweites Stück gesellte sich hinzu. Und in jener Felswand, die nun direkt vor uns lag, entdeckten wir ebenfalls neun Böcke, klein wie Ameisen und unerreichbar. Unser Rudel befand sich jedenfalls hinter dem Grat zu unserer Rechten, an dessen Fuß wir uns gerade niedergetan hatten. Siebzig, achtzig Grad ging es nun bergan, von Felsblock zu Felsblock. Halbmeter für Halbmeter zog ich mich hoch, keuchte, kämpfte, fühlte mich am Ende meiner Kräfte.
Nurpaís ist schon oben auf dem Grat und kommt zurück: „Bock zweihundert Meter, komm, schnell!“ Die Entfernungen täuschen übrigens hier in dieser großräumigen Bergwelt sehr. Ich unterschätzte sie regelmäßig, und sie lagen in Wahrheit meist beim Doppelten. „Komm, komm“, muntert mich Nurpaís auf. Ich arbeite mich mit letzter Kraft zur Kante hoch, doch die Böcke haben inzwischen den Hang weiter entlanggeäst und sich unseren Blicken entzogen. Also noch höher hinauf! Ich kann nicht mehr, nur in Zeitlupe vermag ich einen Schritt um den anderen zu setzten und mich von Block zu Block hochzuziehen. „Egal, was für ein Bock da drüben steht“, denke ich, „egal, was er aufhat, der und sonst keiner. Das geht über meine Grenzen.“ Dabei weiß ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht, was mich später noch alles erwarten sollte. Ich trete einen Stein los, der in die Tiefe poltert. Hoffentlich reicht der Schallschatten der Felsformation, um die Böcke nicht zu vergrämen. Ein paar Ulare streichen lautstark rufend über uns hinweg. Hinter mir gähnt fast senkrecht die Tiefe. Zum Glück nicht tausend Meter sondern gerade mal dreißig. Aber zum Sterben reicht es. Nur der Flug ist nicht so schön. Wieder lugt Nurpaís über die Kante. Nochmals höher! Ein unterdrückter Nießanfall. Ich nehme die allerletzten Kräfte zusammen und ziehe mich wieder Fels um Fels hoch, spähe über den Grat, da stehen sieben Böcke auf dreihundert Meter, wie das Glas mißt, drei etwas weiter unten, drei oben und einer in der Mitte. Der ist der stärkste. Er sieht reichlich kapital aus, gut genug jedenfalls für mich.

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Ende der Leseprobe. Das Kapitel im Buch ist ungefähr doppelt so lang und mit 11 spektakulären Fotos illustriert.
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Verlagsinformation über den Autor:
Dr. Christian Carl Willinger, Jahrgang 1962, studierte an der Universität Innsbruck Humanmedizin und bereiste von Jugend an zahlreiche Länder Europas, Afrikas und Asiens, seit 1990 vor allem mit der Büchse oder im Sattel.
Schon früh begann er seine Eindrücke aufzuzeichnen und durch vielfältige Lektüre zu vertiefen. Seine Interessen sind geprägt von Dualismen: Natur und Kultur, Askese und Genuß, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

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Anmerkungen
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Titel: Good Sport & Fair Chase: Weidwerk im Geiste ritterlicher Jagdkultur
Autor: Christian Carl Willinger
Verlag: CCW-Verlag
ISBN: 978-3200033016
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Bereits veröffentlichte Leseprobe aus dem Buch:
https://krautjunker.com/2019/05/10/weidgerechtigkeit-und-sportsmanship/
https://krautjunker.com/2019/06/15/the-finest-sport-on-earth/