Mein Weg durch die Wälder – Was mich Pilze über das Leben lehrten

Buchvorstellung

Long Litt Woons Weg in die Wälder ist die Geschichte einer Heldenreise. Am Anfang steht der überraschende Tod ihres Gatten und Geschäftspartners Eiolf. Am Ende, nach vielen Wegmeilen und Prüfungen in der Natur, die geistige Heilung.

Der Tod ihres Mannes riß der Sozialanthropologin den Boden unter den Füßen weg.
»Noch vor wenigen Stunden waren wir zu zweit in diesem Leben gewesen. Wir waren immer zu zweit gewesen, seit ich 18 war und Eiolf 21. Und jetzt lag er in der Notaufnahme in Ullevål und war tot. Nur ein Herzschlag trennt den einen Zustand vom nächsten. Mein bester Freund war fort. Ich war allein auf der Welt.«

Long Litt Woon befand sich im freien Fall und verlor jede Orientierung. Die Trauer wuchs und übernahm ihr Leben. Sie versank in Lethargie und nahm, war betäubt von Schmerz und Verlust und nahm die Welt kaum noch wahr. Alleine in der zuvor gemeinsamen Wohnung konnte sie schreien und schluchzen soviel sie wollte und erhielt doch keine Antwort. Es folgten verschiedene Phasen wie Wut über ihre aktuelle Situation, Sehnsucht nach dem Altvertrauten und Furcht vor dem Neuen. Nur schwer bemerkt man in diesen extrem emotionalen Zuständen, das Öffnen von neuen Türen.

Zufällig und ohne große Erwartungen begab sie sich an einem dunklen Herbstabend in den Keller des Naturhistorischen Museums von Oslo, um an einem Pilzkurs teilzunehmen. Zu ihrer eigenen Überraschung fing sie über die Pilze an, sich wieder für das Leben zu interessieren. Im Nachhinein erinnerte sie sich an die Aussagen ihres Anthropologie-Dozenten, der ihr predigte, wie wichtig es ist, die eigenen Grenzen auszuweiten und die Komfortzone zu verlassen, weil es einen zwingt, sich und die Welt besser zu verstehen.

»Pilze sind faszinierend und zugleich furchteinflößend: Sie locken mit lukullischen Genüssen, doch im Hintergrund schwelt stets auch die Gefahr des tödlichen Gifts. Noch dazu wachsen manche Arten in sogenannten Hexenringen, und einige haben sogar halluzinogene Eigenschaften. Wenn man in historischen Quellen nachforscht, wird deutlich, dass sich der Mensch schon immer über Pilze gewundert hat – die weder Wurzeln noch sichtbare Samen haben, sondern plötzlich einfach so auftauchen, häufig nach heftigen Regenfällen oder Gewittern, wie eine Personifizierung unbändiger Naturgewalten. Namen wie „Hexenei“ oder „Satans-Röhrling“ deuten ebenfalls darauf hin, dass man die Pilze für etwas Furchterregendes, Heidnisches und Magisches hielt.«

Abb.: Das Buch; Bildquelle: Website des Verlages

In der Gesellschaft der Pilzfreunde nehmen die Gespräche über Pilze und ihre geheimen Orte sämtlichen Raum ein. Durchstreift man in Gedanken und Taten die Schatzkammern des Waldes, wird direkt vor den eigenen Schuhspitzen eine Zauberwelt sichtbar. Eine exotische Dimension mit einer eigenen Logik und unkontrollierbaren Lebenskraft. Beim Einlassen darauf schrumpfen Zwist und Sorgen aus Politik, Geschäftsleben und Religion zu Nebensächlichkeiten. Die Pilzwelt ist ein Faszinosum. Es gibt köstliche Delikatessen unter ihnen, die nicht nur aufgrund ihres Geschmacks und ihrer Heilkraft begeht sind. Ihren Wert verdanken viele Arten der Tatsache, dass es noch nicht gelungen ist, sie zu züchten. So bleiben sie selten, saisonal und unbezähmbar.

Doch auch die Gesellschaft der Sammler ist kein Paradies. Wie in jeder menschlichen Gesellschaft ist dieses Milieu ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Es gibt Helden und Schurken, Gesetze, Konflikte, Siege und Niederlage. Wer sich darauf einläßt, erlebt große Gefühle.

Und irgendwann erwischst Du Dich dabei, dass Dein Radarblick draußen automatisch jeden potentiellen Pilzgrund abtastet, um die Schätze des Waldes zu finden… Klingt freakig, aber das Einlassen auf die Natur ist nicht nur Balsam für Körper und Geist, sondern auch für die Seele. Befindet man sich im Suchmodus, verschmelzen Mensch und Aufgabe. Man erreicht einen Zustand, den Sportler Flow nennen und welcher in der fernöstlichen Spiritualität als Zen-Moment bekannt ist.
»Man befindet sich in einer glücklichen Blase. Die Welt kann einem nichts anhaben.«

Abb.: Das Buch; Bildquelle: Website des Verlages

Das Buch besteht aus zwei Schichten: Die Auseinandersetzung mit der Trauer und der Reise durch die Pilzwelt. Ursprünglich sollte es ein reines Pilzbuch werden. Die persönlichen Passagen wurden erst später ergänzt. Ohne jetzt die Seiten oder gar Zeilen gezählt zu haben, vermute ich, dass der Anteil 1 zu 3 ist. Beide unterscheiden sich durch eine unterschiedliche Farbe für den Druck der Buchstaben und auch eine andere Schriftart.

Ohnehin ist das Buch sehr schön gestaltet. Fast jeder passionierte Leser kommt irgendwann an den Punkt, wo ihm die Bücherberge über den Kopf wachsen und er sich fragt, ob er für eine Bibliothek anbauen, unwichtige Bücher weggeben oder auf E-Books umsteigen soll. Mein Weg durch die Wälder ist so ein durchdachtes Schmuckstück, dass ich es auf jeden Fall physisch besitzen möchte.

Inhaltlich überzeugte es mich ebenfalls. Tragischerweise erleben wir mit der Corona-Krise eine Zeit, in der viele Trauerfälle auf uns zukommen. Betroffene können hier viele Gedanken finden, wie man den Schmerz annehmen kann, um irgendwann wieder einen Zustand seelischer Harmonie zu erreichen. Mehrfach erinnerte es mich an Helen Macdonalds H wie Habicht (siehe: https://krautjunker.com/2016/06/13/h-wie-habicht-helen-mcdonald/comment-page-1/) in der eine Historikerin und Schriftstellerin die Trauer über den Tod ihres Vaters durch die Zähmung eines Habichts überwand.

Abb.: Das Buch; Bildquelle: Website des Verlages

Vor allem für Pilzliebhaber und Freunde des Nature Writings, ist das Buch eine facettenreiches und inspirierendes Infotainment und ein Lockruf in die Wälder. Sammlergeschichten, wissenschaftliche Fakten und Rezepte wechseln einander ab. Saisonal jetzt passend ist das Kapitel Spitzmorcheln: Die Diamanten unter den Pilzen:
»Der Duft der Spitzmorchel ist intensiv und hat etwas Animalisches und Primitives an sich. Vielleicht ist das nicht verwunderlich, denn dieser Pilz – so schreibt Gro Glden in der Zeitschrift Pilze und Nutzpflanzen, unserem Vereinsblatt – existiert schon seit 130 Millionen Jahren und lebte in friedlicher Koexistenz mit den Dinosauriern.«

Spannend auch, was für eine wichtige Rolle kulturelle Prägungen beim Pilzgenuss spielen. Die Autorin analysiert die Pilz-Vorlieben verschiedener Länder und stellt zu ihrer Verblüffung fest, dass es keinen internationalen Konsens über die Giftigkeit von Pilzen, den Geruch oder den Geschmack von Pilzen gibt. Pilze, die in Norwegen offiziell als giftig klassifiziert sind, werden in anderen Ländern ganz selbstverständlich verkauft und verzehrt – und umgekehrt.
»Selbst in Norwegen und Schweden herrschen sehr unterschiedliche Auffassungen und Herangehensweisen. Ein Beispiel dafür sind die Schleierlinge: In Norwegen halten wir uns von dieser Gattung fern (mit Ausnahme des Reifpilzes, Cortinarius caperatus), während sich die Schweden bedenkenlos den Gestiefelten Schleimkopf, Cortinarius triumphans, und andere suspekte Schleierlinge in den Mund schieben. In den sozialen Medien posten stolze Schweden Angeberfotos von Körben voll mit Gestiefelten Schleimköpfen und Geschmückten Gürtelfüßen. Diese werden bei den Norwegischen Pilzkontrollen ohne Zögern weggeworfen.
Allerdings gibt es solche Beispiele auch umgekehrt: In Norwegen isst man den kleinen, aber hübschen Violetten oder Amethystblauen Lacktrichterling, der in Schweden als ungenießbar gilt. Dort meint man, er könne Arsen enthalten.«

Die Japaner betrachten den Matsutake (siehe: https://krautjunker.com/2018/10/09/heilende-pilze-matsutake-echter-krokodilsritterling-tricholoma-matsutake/) als heilsame Kostbarkeit, in anderen Ländern gilt er als widerlich und wertlos, weil er nach westlicher Expertenmeinung »zum Kotzen« riecht oder nach »alten Socken« müffelt.
Die in vielen Ländern begehrten Riesenchampignons, gelten aufgrund ihres hohen Cadmiumgehalts in Frankreich als minderwertig. 

Kurios und überraschend: Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern wurden Pilze in Norwegen als minderwertiges Lebensmittel verachtet. Erst gebildete Städter änderten dies mit steigendem Wohlstand und den damit verbundenen Auslandsreisen und Restaurantbesuchen.

Abb.: Das Buch; Bildquelle: Website des Verlages

Mein Fazit: In Krisenzeiten wie diesen die passende Lektüre über das, was wichtig ist und wie man den Kopf oben behält.

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Verlagsvorstellung der Autorin

Abb.: Long Litt Woon; Bildquelle: © Johs. Bøe

Long Litt Woon, geboren 1958 in Malaysia, ist Anthropologin und zertifizierte Pilzexpertin. Als Austauschstudentin kam sie nach Norwegen, wo sie ihren späteren langjährigen Ehemann Eiolf Olsen kennenlernte. Sie arbeitete für das norwegische Ministerium für Entwicklungshilfe und für die Europäische Kommission, von 2003 bis 2005 leitete sie Norwegens Zentrum für Gleichstellung. Wenn sie nicht unterwegs ist, um auf der ganzen Welt nach Pilzen zu suchen, berät sie Unternehmen und Behörden in Sachen Gleichstellung und Diversity. Long Litt Woon lebt in Oslo.
KRAUTJUNKER-Kommentar: Aktive Jägerin ist sie ebenfalls.

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Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Titel: Mein Weg durch die Wälder – Was mich Pilze über das Leben lehrten

Autorin: Long Litt Woon

Übersetzung: Ursel Alleinstein

Verlag: btb Verlag

Website des Verlages: https://www.randomhouse.de/Buch/Mein-Weg-durch-die-Waelder/Long-Litt-Woon/btb/e539360.rhd

ISBN: 978-3442758135

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