Rezeptvorstellung von Reiner Grundmann

Als ich begann über die Baltische Küche zu schreiben – fiel mir spontan ein in der ganzen Sowjetunion bekanntes Witze-Genre ein. Die kurzen Dialoge begannen eigentlich immer gleich und dienten der Persiflierung des alltäglichen ganz normalen Wahnsinns eines Lebens im Kommunismus.
Frage an Radio Eriwan. Kann man einen Aufenthalt im Baltikum überleben?Theoretisch ja.
Wenn man Sauerrahm, Honig und Fisch mag.
In Russland war ich fast überall. Nun gut. Zumindest bis zum Ural.

Das Baltikum durfte ich leider nur eine Nacht genießen – und da ganz besonders die wunderschöne Stadt Riga in Lettland. Aus eigener Warte konnte ich zu der landesüblichen Küche bis heute nur wenig sagen – die Hotelküche ist ja immer vieles, nur nicht landestypisch. Mein Captain hatte zum Glück immer die Angewohnheit – vor allem wenn wir zwei oder drei Tage in einer Stadt blieben – zu Fuß loszuziehen und nur die besten Restaurants aufzusuchen. In Barcelona war dies das mehrere hundert Jahre alte Restaurant „Los Caracoles“ – die Schneckelchen, in Marseille im Hafen war es das „La Dourade“, in St. Petersburg das – nicht gerade typisch russische „Schwabskii Domik“ – das schwäbische Häusle. Hervorzuheben waren die zum Service gehörenden Russinnen (…nein nicht Rosinen) in bayerisch-schwäbischen Dirndln und eine Speisekarte, die alles andere war als russisch.
Leider aber fehlte uns für eine gründliche Exkursion durch die kulinarische Landschaft die Zeit an diesem kurzen Abend in Riga. Ein kurzer Walk durch die City und ein Essen im Hotel mussten es für Riga tun.
So galt es also ein weiteres Vorurteil auszuhebeln:
„Russen essen nicht. Russen trinken nur. Vor allem durchsichtige Kartoffelwässerchen.“
Falsch.

Das Kochbuch Die Baltische Küche von Simon Bajada lehrt uns eine völlig andere Version der Wahrheit. Man vergleicht sich nicht gern mit den Russen.
Gut. Es mag natürlich daran liegen, dass alle drei Länder des Baltikums täglich bemüht sind, den Einfluss und den Makel sowjetrussischer Besetzung abzuschütteln. Estland (Estonia) Lettland (Letonia), Litauen (Litowsk) bilden zusammen das baltische Dreigestirn.

Sogar die russische „Matrioschka“ sollte man nicht mit dem Baltikum in Verbindung bringen, sie kann noch so viele Teile haben und noch so kunstvoll bemalt sein – baltisch ist das Mütterchen aus gedrechseltem Holz mit dem bunten Innenleben und Vervielfältigungseffekt nicht. Auch Witze über Russen sollte man im Land unterlassen. Bei einem russischen Bevölkerungsanteil von rund 30 % könnte es passieren, dass nicht gelacht wird sondern ganz Anderes.
Die Quintessenz lautet: „Balten sind keine Russen.“
An das Baltikum schmiegen sich östlich Russland und Weißrussland, südlich Polen und die russische Exklave des Kaliningrader Gebiets sowie westlich und nördlich die Ostsee mit dem Finnischen Meerbusen an die Landesgrenzen.
Jedes dieser baltischen Länder hat eine eigene Kultur, eine ganz eigenständige Küche und Sprache.
Im Vorwort fasst Sandra Osina es zusammen: Wie riecht es in den baltischen Küchen ?

„In jeder Jahreszeit ein bisschen anders. Ein bisschen nach Wald, Feldern, Meer, Flüssen und Seen, nach Gärten und Bauerhöfen. Ein bisschen salzig wegen des Windes, der vom Meer herüberweht, wegen der Fischernetze und Bojen. Ein bisschen verwirrend nach Wald, Pilzen, Minze, wildem Thymian, süßem Werk…äh Waldmeister und Wacholderbeeren. Ein wenig süß, wegen der von der Sonne erwärmten wilden Erdbeeren, des Abendnebels in einem Roggenfeld, des von den Bienen, Wachszellen und Lindenblüten erzeugten Honigs. Ein bisschen würzig nach dem Erlenrauch aus der Räucherei, dem Blauschimmelkäse und der Hanfbutter. Etwas frisch wegen der Pickles, des Dills und Schnittlauchs. Etwas bitter wegen der Schale der Frühkartoffeln. Ein bisschen sanft wegen der frischen Milch, der Sahne und des Käses. Ein bisschen überraschend wegen der Kümmelsamen, des Senfs und des Malzes. Etwas verführerisch nach Zimt, Kardamom und Schokolade. Ein wenig stark wegen der destillierten Getränke wie Aquavit und Wodka.“

Was alle baltischen Länder eint ist die Tatsache, dass das Meer nicht weit ist, und so ist Fisch ein wesentlicher Bestandteil des baltischen Speiseplans – in jeder Form, frisch und konserviert, geräucherter oder getrockneter Stör, Sprotten, Makrele, Lachs, Sardinen, Hering.

Die kalten Gerichte sind in Litauen, wie auch in den beiden anderen baltischen Staaten, sehr beliebt und reichlich vertreten. Das sind vor allem verschiedene Arten von Käse, Produkte aus saurer Milch, Räucherfleisch und -fisch, Aspik und Roulade. Die typisch litauischen Süßspeisen kamen aus Adelskreisen (Šakotis, Žagarėlis).
Es gibt allerdings auch Süßigkeiten, die im 20. Jh. aus dem Westen kamen und sich in Litauen verbreiteten.

Die litauische Küche bietet auch viele warme Gerichte. Schon in der alten litauischen Küche waren Stopfgeflügel und Zrazy vor allem in Adelskreisen sehr beliebt, allerdings auch geräucherter Bärenrücken und Schwäne. In der Bauernküche fanden sich Fleischgerichte mit Grütze verarbeitet. Heute sind sie in der litauischen Küche recht selten geworden.
Seit dem 19. Jahrhundert sind Gerichte mit Kartoffeln in aller Munde: Cepelinai, Vėdarai (Schweinedarm mit Kartoffelfüllung), Kartoffelpuffer, Žemaičių blynai, ganze gekochte Kartoffel mit Quark und Dill. Diese Gerichte sind aber auch in anderen Ländern wie unter anderem Polen, Ukraine und Weißrussland bekannt.
Die estnische Küche ist stark von der skandinavischen und deutschen Küche beeinflusst. Die wichtigste nationale Speise ist Verivorst (Blutwurst), serviert mit Mulgikapsad (Sauerkraut). Aber auch die Schweinshaxe und Kartoffeln zählen zu den gängigen Gerichten.
Gegessen und getrunken wird, was die Natur bietet und was immer da ist – also viel Bier (ja, Bier – zum Kochen, ach so ja – auch zum Trinken) Kartoffeln, Wodka – selbstverständlich – Honig der auch gern zu Met vergoren wird – ein deutscher Einfluss; Wild, Sauerrahm gehört fast immer dazu wenn es um kalte oder heiße Speisen geht, Brot in vielen Formen ist ein baltisches Heiligtum.
Auch Mehlspeisen wie Pilmeni, Blini oder Pirogi – die Mongolen brachten diese schon im 14./15. Jahrhundert mit. Gerste ist häufig Bestandteil, Birkensaft, und ja – in diesem Kochbuch habe ich auch ein Rezept mit nur zwei Zutaten entdeckt – das seitdem zu einem gelegentlichen Snack oder Dessert bei mir geworden ist: Schnitze von der Bauerngurke mit Honig.

Geht es um Fleisch, so herrschen Schweinefleisch, Rind und Wild vor.
So gesehen ist das Rezept, das ich nachgekocht habe ein wenig außer der Reihe, scheint es fast.
Lammschulter in kräftigem, würzigem, hellen Bier, Honig und Chicorèe

Zutaten
30 g Butter
2 große Zwiebeln, fein gewürfelt (…ich habe Schalotten genommen.)
1 TL Pflanzenöl
800 g Lammschulter, in Würfel mit 5 cm Kantenlänge geschnitten
Salz oder Meersalz
Gemahlener schwarzer Pfeffer
2 TL Apfelessig
375 ml würziges, helles Bier
2 EL Honig
6 Kartoffeln (Rezept sagt etwa 600g)
2 Chicorèe, Blätter getrennt
1 – 2 EL gehackter Schnittlauch

Zubereitung
Hat man erst mal alles beieinander geht es relativ fix. Butter in einem ofenfesten Topf oder einer tiefen Pfanne schmelzen, dann die Zwiebeln oder Schalotten bei kleinem bis mittlerem Feuer zehn bis zwölf Minuten bräteln bis sie goldbraun sind.

In einer zweiten Pfanne Pflanzenöl angießen und die Lammstücke allseitig bei mittlerer bis starker Hitze anbraten.
Mit eineinhalb Teelöffeln Salz und einem halben Teelöffel Pfeffer würzen und Zwiebeln oder Schalotten beimengen, mit Apfelessig, Bier und Honig übergießen.

Das Lamm und den Sud mit Alufolie und dem Deckel abdecken und etwa zwei Stunden im auf 160 Grad vorgeheizten Ofen schmoren, bis die Sauce dick reduziert ist und das Fleisch zerfällt.
Inzwischen Kartoffeln schälen und in kochendem Salzwasser in dreißig Minuten garen.
Zwei Stunden sind lang.
Wir lernen ein wenig russisch. Die russische Sprache hat slawische, deutsche, französische und englische Einflüsse. Vieles versteht man sofort.
Blondinka – Die Blondine
Butirbrod – Butterbrod
(aber: maslo – Butter, chleb – Brot)
Firwerk – Feuerwerk
Schlagbaum – Schlagbaum
Feldwebel – Feldwebel
Schtrafowat – bestrafen (…was soll von den Deutschen auch anderes kommen?)
Swinstwo – Schweinerei
Schosse – Chaussee
Kotlet – Kottlett
Xerox – Drucker
Menu – Menü
Tamoschnaja Deklaratia – Zollerklärung
Dischurnaja – Concierge
Restauran – Restaurant
Wodka – Wodka
Spasiba – Danke
Wkljutschiet svjet – machs Licht aus
Die verschiedenen Sprachen und Dialekte der baltischen Region können davon abweichen, und tun es auch.


Anrichten.
Lamm und Chicorèe mit frisch geschnittenen Schnittlauchröllchen bestreuen.

Chicorèeblätter in einer großen Schüssel drapieren. Zwei Esslöffel von der Lamm-Sauce darübergeben. Und leicht vermischen. Eine Kartoffel in die Mitte des Tellers legen und mit einer Gabel flach drücken, bis sie etwas auseinanderbricht. Noch mal Sauce und dann das geschmorte Lammfleisch daraufgeben.
Alles in allem ist das Lamm mit Bier, Honig und Chicorèe ein würdiger Repräsentant seiner Landesküche: Bodenständig, ohne Brimborium, nahrhaft und ein unterhaltsamer Begleiter in den ruhigen Stunden am Abend für einen hungrigen Besucher der Baltischen Küchen und für den Hobbykoch.
Wer nicht den Fehler macht und die Alufolie weglässt, sobald er das Lamm sanft in den Ofen schubst, wird hinterher auch nicht sagen können, er habe ein Lamm im Halbdunkel der Röhre verschwinden sehen – und nach zwei Stunden sei es als Kohleklumpen wieder herausgekommen.
Unter der Folie entwickelt das Bier mit dem Honig und dem Fleisch schöne süßlich-herbe Aromen, die in dem reduzierten Sud kräftig dominieren. Weil dieses Rezept aber auch so schlicht gehalten ist, kann man es sich auch mit saisonal verfügbaren anderen Zutaten gut vorstellen, zum Beispiel mit Rind statt Lamm oder mit gekochtem Sellerie statt Kartoffel – wie es Simon Bajada ja auch ausdrücklich autorisiert – gegessen wird, was da ist. Nur das Bier und den Honig dürfen wir nicht in Frage stellen.
Denn dann ist es eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden müsste.

приятного аппетита
priyatnogo appetita – guten Appetit
*
KRAUTJUNKER-Rezensent und Blogger Reiner Grundmann:
Reiner, geboren 1962 da, wo der Lebkuchen und die Rostbratwust mit Sauerkraut und Brot herkommt. Nürnberg, Mittelfranken in Bayern. Nirgends gibt es eine so hohe Brauereidichte, wie da. In seiner Baby-Milchflasche war trotzdem kein Bier, was er seinerzeit nicht als Verlust empfunden hat. Als ausgewachsener Franke würde er das heute anders sehen. Bevor er für KRAUTJUNKER kochte, war er Protokollführer beim Amtsgericht Fürth und bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg in Jugendstrafsachen und Ehescheidungen, Personalgefreiter bei der Luftwaffe, Holzhändler, Buchautor, Fluglehrer, Pilot für Geschäftsreiseflüge (23 Jahre und 6500 Flugstunden lang), auch Lieferant von Frühstücksbrötchen und Aufsichtspersonal beim 1. Fussballclub Nürnberg.

Geflogen ist er eigentlich überall. Europa, Russland, USA. Wo er hingekommen ist hat er, wie die alten Chinesen – alles probiert und gegessen, was essbar aussah. Und gekocht hat er irgendwie auch schon immer. Am liebsten für schöne Frauen, wenn es denn auch dann oft nur beim Essen und das Schlafzimmer eine verkehrsberuhigte Zone blieb, „fast a su schäi wäi der obere Marktplatz in Laff.“
Seine ersten Rezepte stammten aus dem Roman um den Geheimagenten wider Willen Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, alias Pierre Hunebelle, Es muss nicht immer Kaviar sein von Johannes Mario Simmel.
Reiners Motto lautet: „Reisender, wenn du nach Franken kommst wisse, dass du nicht mehr in Deutschland bist – aber auch noch nicht in Bayern!“
Besucht Reiners Blog!
https://foodartandcircumstances.wordpress.com/
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Titel: Die baltische Küche – Eine kulinarische Reise durch Estland, Lettland und Litauen
Autor: Simon Bajada
Verlag: Dorling Kindersley Verlag GmbH (27. Januar 2020)
Verlagslink: https://www.dorlingkindersley.de/buch/simon-bajada-die-baltische-kueche-9783831039524
ISBN: 978-3-8310-3952-4
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