Nur Termiten, Erdferkel und Weiße leben in Bauten.
Zuluhäuptling Chaka

von E.W. Heine
Die Bewohner des afrikanischen Kontinents südlich der Sahara haben Sprachen entwickelt, die an Klangfarbe, Rhythmus und Ausdrucksreichtum nicht zu überbieten sind.
Der grammatikalische Aufbau dieser Sprachen ist wesentlich nuancierter und komplizierter als irgendeine europäische Sprache. Aber trotz – oder wegen – dieser hohen Sprachbegabung hat sich nie eine eigene Schrift entwickelt.
Die unmittelbare Ausdruckskraft der afrikanischen Holzskulpturen und Felsenbilder hat unser zeitgenössisches Kunsterleben tief beeinflusst und mitgeprägt. Das gilt in noch stärkerem Maße für die Musik, aber erstaunlicherweise haben die schwarzen Völker Afrikas niemals auch nur Ansätze einer eigenen Architektur entwickelt.
Schrift und Architektur stehen in geheimnisvoller Beziehung zueinander. Kulturen ohne Schrift entwickeln auch keine Architekturen. Buchstaben und Bauten sind Träger einer Idee. Alle Literatur besteht letztlich nur aus Buchstaben und Schriftzeichen. Aber je nachdem wie man das Ganze zusammenfügt, wird daraus ein homerisches Gedicht oder ein mittelalterliches Mysterienspiel.
Alle alten Bauten bestehen aus Steinen und Mörtel. Aber je nachdem wie man sie zusammenfügt, wird daraus ein griechischer Tempel oder eine gotische Kathedrale.
Menschen, die nicht schreiben, besitzen ein ausgeprägtes Bilderbewusstsein. Sie vermögen nicht analytisch abstrakt zu denken und zu ordnen. Ein so stark ausgeprägtes Bilderbewusstsein auf Kosten des logischen Denkens trifft man außer bei den indigenen Völkern nur noch bei Kindern an. Es ist kein Zufall, dass die meisten indigenen Völker etwas von Naturkindern an sich haben. Sie haben ein anderes Verhältnis zu Zeit und Raum. Für die schwarzen indigenen Volker Afrikas gibt es nicht den Begriff der Zukunft. Es gibt in ihrer Sprache auch kein Futurum. Es gibt keinen Zukunftsglauben an ein besseres Jenseits oder einen Weltuntergang. Es gibt nicht einmal einen Kalender.
Es ist bezeichnend, dass in Ägypten, Mesopotamien und Mittelamerika sehr früh ein eigener Kalender und eine Schrift entwickelt wurden und dass diese Kulturen dann auch zu außergewöhnlichen Architekturformen gelangten.
Für die schwarzen indigenen Völker Afrikas ist die Zukunft ein leerer Raum, der erst durch Ereignisse angefüllt wird. Die Gegenwart produziert ununterbrochen Vergangenheit. Deshalb ist eigentlich auch nur die Vergangenheit von Bedeutung. Sie ist die einzig wirkliche, beständige Zeit. Alles andere ist nur Übergang und Vorstufe. Der Ahnenkult ist der wichtigste Lebensinhalt des Menschen, denn die Lebenden sind nichts weiter als das erste Glied in der rückwärts verlaufenden langen Kette der Vorfahren. Das Leben ist eine ständige Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten. Diese sind ständig anwesend. Wenn ein Zulu sich eine Hütte baut, so wird in tagelangem Zeremoniell erst der Einzug der Ahnen in die neue Hütte vorbereitet. Erst wenn sie eingezogen sind, betreten die Lebenden die neue Wohnstatt. Das gilt bis in die Gegenwart. In solch einer Einraumhütte leben mehr Personen als in einem mehrgeschossigen modernen Wohnblock, denn für diese Menschen sind die Toten wirklich anwesend. Deshalb ist der Tod auch kein so einschneidendes Ereignis wie für uns. Der Mensch stirbt im Laufe seines Lebens mehrmals und wird mehrmals neu geboren. Mit der Beschneidung stirbt die Kindheit. Ein neuer Mensch wird geboren. Der Beschnittene erhält auch einen neuen Namen. Mit der Geburt des ersten Sohnes beginnt ein neues Leben. Man wird in den Ahnenkult aufgenommen, denn ohne Sohn zerreißt das ewige Band zwischen den Lebenden und den Toten. Der Vater erhält einen neuen Namen. Im Gegensatz zu uns wird er nach dem Sohn benannt. Deshalb sind Sexualität, Zeugung und Gebaren wichtige Bestandteile der Religion, sehr zum Unverständnis aller puritanischen Missionare.
Der klinische Tod ist ein Ereignis wie die Beschneidung und die Zeugung des Erstgeborenen, denn man lebt ja weiter, nicht in einem fernen Paradies über den Wolken, sondern mitten unter den Seinen, in derselben Grashütte.
Das ganze Leben ist praktizierte Religion. Menschsein heißt einem Stamm angehören. Die Religion ist unlösbar an den Stamm gebunden, an die Lebenden und an die Toten. Man kann nicht den Stamm wechseln oder von einer Religion zur anderen übertreten, denn Mensch, Stamm und Religion sind eine untrennbare Einheit.
Fortschritt heißt den natürlichen Ablauf dieser lebenswichtigen Einheit zerstören. Fortschritt ist Sünde. Der Mensch ist nicht handelndes Subjekt, sondern passives Objekt. Er hat nicht Gewalt über den Baum oder das Wasser. Die Geister der Natur haben Gewalt über den Menschen. Der Einzelne ist nur insofern existent, wie er Anteil hat an dem Stamm. „Ich bin, weil wir sind. Damit wir sind, darum bin ich“, sagen die Zulus. Der Stamm ist fest an das Land der Vater gebunden, wo die Seelen der Ahnen wohnen. Entfernung vom heimatlichen Boden ist fürchterliche Entwurzelung. Credo Mutwa, einer der großen geistigen Führer in Sudafrika, klagt: „Unser schlimmster Feind ist die Stadt. Warum zwingt man uns, dort zu leben? Nichts ist unserem Wesen fremder. Unsere Liebe gehört dem Kraal und der Stammesgemeinschaft der Lebenden und der Toten. Die Stadt der 1 000 Häuser zerstört unsere Seelen. Die Zivilisation der europäischen Städte erstickt unsere eigenen Traditionen.“ Echte indigene Volker errichten ihren Gottheiten weder Tempel noch Altäre, denn die ganze Welt ist für sie ein Tempel, in dem alles von geheimnisvollen Kräften beseelt ist. Diese guten und bösen Geister lassen sich durch magische Praktiken beeinflussen. Dabei gibt es zwei Wege: die Magie und das Tabu. Magie ist aktiv. Tabu ist passiv und heißt Verbot.
Im Mittelpunkt dieser Kulte steht die Magie des Blutes. Das Blut ist Macht und Tapferkeit. Je nach seiner Verwendung im magischen Ritual können Eigenschaften von einem Individuum auf ein anderes übertragen werden. Die Vorstellung, dass Blut Macht verleiht, spielte in der halbpolitischen Mau-Mau-Bewegung Kenias eine große Rolle. Bei diesen Ritualen werden Teile des menschlichen Körpers und dessen Blut zu einer Medizin verarbeitet. Die damit verbundene Opferung eines Menschen steht in engem Zusammenhang mit dem magischen Kannibalismus, der nach wie vor existiert. Im ganzen südlichen Afrika geschehen noch heute regelmäßig solche Tötungen. Selbst in den Städten werden verstümmelte Leichen gefunden, die eindeutig zur Medizingewinnung missbraucht wurden. Zwischen 1960 und 1970 wurden in Basutoland über hundert Fälle von Ritualmorden abgeurteilt. Da in dem unerschlossenen Bergland nur ein ganz geringer Prozentsatz dieser Blutopfer an die Öffentlichkeit dringt, wird die wirkliche Zahl wohl um ein Vielfaches größer sein.

Die Medizin kann nur wirken, wenn sie vom lebenden Opfer genommen wird. Manchmal wird die Kopfhaut verwendet, bisweilen die Augen, Ohren, Nase, Zunge oder das Blut. Nach den Aussagen der Gerichtsakten ist immer eine größere Anzahl von Personen an diesem Seretlo beteiligt, aber seltsamerweise empfindet keiner der Anwesenden Mitleid mit dem Opfer. Hierbei sind Religion und Politik auf das Engste miteinander verwoben. Politische Macht ist in Afrika immer ein Element der Religion, da eine Person die zu Lebzeiten errungene Macht auch nach dem Tod als Ahnengeist behalt. Dieser Glaube verstärkt den Ehrgeiz, an die Macht zu kommen. Hierin liegt die totale Machtbesessenheit wie etwa des ehemaligen ungandischen Staatschefs Idi Amin begründet. Es wäre unrichtig, die blutigen Metzeleien, die sich heute überall in Afrika ereignen, nur als Auswirkungen sozialer Missstände zu erklären. Die Ursache sitzt viel tiefer. Es scheint so, als hatten die Volker nicht nur ein völlig anderes Verhältnis zur Zeit und zum Tod, sondern auch zum Leiden.
Die indigenen Volker Nordamerikas, die ebenfalls weder Schrift noch Architektur kannten, lebten nach hohen ethischen Grundsätzen. Ihren Freunden begegneten sie mit Liebe und Treue. Ihre Gesänge waren voller Poesie und aufrichtigen Gefühls. Hingegen wenn die Irokesen Gefangene machten, so wurden diese zu Tode gefoltert. Dabei waren keine persönlichen Hassgefühle im Spiel. Man behandelte den Gefangenen mit Hochachtung, und er gab sein Bestes, um die tapfere Haltung seines Stammes zu zeigen. Das Ertragen von Schmerzen wurde als ein göttliches Opfer für den großen Geist der Sonne aufgefasst. Die dabei angewandte Marter wurde mit viel Erfindungskraft ausgeführt. Man ließ dem Opfer zwischendurch Zeit, sich zu erholen. In der Nacht vor dem Opfertod gab man ihm sogar ein Mädchen zur Braut. Wir besitzen einen Originalbericht des Historikers Parkman, der berichtet, wie die Huronen ihre Gefangenen stundenlang quälten. Jede neue Marter wurde in feierlichem Ton angekündigt. Wenn das Opfer nicht mindestens 24 Stunden mit dem Tod rang, empfand das jeder als Schande. Besaß. der Gefangene auch nur ein Mindestmaß an Selbstachtung, so benahm er sich, als sei sein Los eine hohe Ehre. Wenn der Mann tot war, so wurde er aufgeschnitten, und seine Peiniger aßen von seinem Körper mit Andacht, nicht aus Gefallen an blutigem Menschenfleisch, sondern um sich die Tapferkeit eines edlen Kriegers einzuverleiben.

Was hat das alles mit dem Bautrieb des Menschen zu tun? Wir leben in einer Zeit, die uns weismachen will, dass unsere Geschichte ein Klassenkampf ist und von sozialen Impulsen gesteuert wird. In den nordamerikanischen Indianerterritorien gab es Stämme mit Sippen und Mutterfolge, andere mit Sippen und Vaterfolge, andere ohne Sippen. Es gab sesshafte Bauern und jagende Nomaden. Es gab viele sehr unterschiedliche soziale Ordnungen. Solange diese Menschen nicht den Trieb in sich spürten, zu bauen und zu schreiben, solange gehörten sie der großen Familie der Naturvölker an. Sie besaßen mehr Gemeinsamkeit mit afrikanischen, polynesischen und australischen Urstämmen als mit anderen Bewohnern ihres Kontinents, die ihre Ideen in Bauten manifestierten wie die Maya, die Azteken oder die Pueblos.

Der Spanier Coronado stieß 1540 auf Indianerstamme, die er Pueblos nannte. Pueblo bedeutet „Dorf“ oder „Stadt“. Diese Menschen lebten in Städten, deren Häuser so dicht beieinanderstanden wie in einer mittelalterlichen Stadt Europas. „Seltsamerweise“, schrieb Coronado, „kennen die Pueblos keine Marterspiele.“
Als die ersten Europäer in Nordamerika landeten, stießen sie dort nicht auf Wilde, sondern auf Menschen, deren Bildungsgrad und Kulturstufe den Weißen nicht nur gleichgestellt, sondern in mancher Hinsicht überlegen waren. Die europäischen Entdecker des 15. und 16. Jahrhunderts waren ungebildete, skrupellose Räuber. Ihr Handwerkszeug war primitiv, sie kochten über offenem Feuer und schliefen auf Stroh. Der Indianer war ein Mann von guten Manieren und hohem Ehrgefühl. Er konnte zwar weder lesen noch schreiben, aber er trug in sich eine ganze Bibliothek von Traditionen. Er war ein scharfsinniger Beobachter und ein beachtlicher Philosoph.
Was die viel geschmähte Grausamkeit und Kriegslust der Indianer angeht, so herrschte zur Zeit der großen Entdeckungsreisen in Europa ein mindestens ebenso grausames und kriegerisches Zeitalter. Der Pöbel, der – obwohl in christlichem Glauben erzogen – in den Städten zusammenlief, um sich daran zu ergötzen, wie unschuldige Opfer gefoltert und verbrannt wurden, war grausamer als die rothäutigen Krieger, die einen tapferen Feind einer Gottheit opferten und bereit waren, bei Gefangennahme das gleiche Schmerzensopfer auf sich zu nehmen.

Allen Naturvölkern ist der Krieg in unserem Sinne unbekannt. Auf diesem Gebiet sind die sogenannten Kulturvölker die wirklichen Barbaren. Naturvölker kämpfen nicht, um zu vernichten. Krieg ist ein ritterliches Kampfspiel. Als die Engländer den Irokesen ein Waffenbündnis anboten, um einen feindlichen Stamm vernichtend zu schlagen, lehnten die Irokesen mit der Begründung ab: „Wir lassen uns den Krieg nicht dadurch verderben, dass wir ihn gewinnen und damit beenden müssen.“
Die nicht bauenden Naturvölker besaßen bei der ersten Berührung mit den bauenden Kulturvölkern eine hohe Eigenkultur, die der unseren so fremd war, dass bis in die Gegenwart den meisten Menschen die fundamentalen Unterschiede nicht klar geworden sind.

In allen Fällen, in denen bauende Kulturen auf nicht bauende stießen, wurden die letzteren zerstört, und zwar nicht durch kriegerische Ausrottung, sondern allein durch den Kontakt mit uns Europäern. Es ist fast so, als wirke unser rational abstrahierendes Bewusstsein wie eine unheilvolle radioaktive Strahlung, die den „Primitiven“ das Selbstbewusstsein raubt.

Laurens van der Post, der im Auftrag der südafrikanischen Regierung mehrere Expeditionen in die Kalahariwüste unternahm, erlebte immer wieder mit Erstaunen, wie der hauslose Mensch durch den Kontakt mit intellektuellen Individuen seines Ichgefühls beraubt wird: „Wir stießen mitten in der Kalahari auf eine Gruppe von Buschmännern. Sie hatten noch nie Weiße zu Gesicht bekommen. Als sie sich in unserem Lager unter meine Gefährten mischten, bemerkte ich eine sonderbare Tatsache. Die Buschmänner schienen unter einer Art hypnotischen Zwang alles nachzumachen, was wir taten. Wenn einer von uns eine Bewegung ausführte, bewegte sich der ihn beobachtende Buschmann auf dieselbe Weise. Wenn einer von uns seinen Hut in die Stirn schob, hob der Buschmann ihm gegenüber die Hand an seinen Kopf und hob einen imaginären Hut in seine Stirn. Sie identifizierten sich so erschreckend mit uns, dass sie über keine eigenen Bewegungen mehr zu verfügen schienen. Dabei lag ein merkwürdiger, fast einer Trance ähnelnder Ausdruck auf ihren Gesichtern.“

Unsere materialistische Zeit hat den Blick für solche Vorgänge verloren. Politiker und Wissenschaftler, die in höchsten Positionen die Geschicke der Menschheit lenken, glauben bis heute, dass ein Afrikaner sich von einem Europäer unterscheidet wie ein Norddeutscher von einem Süditaliener. Der eine ist halt dunkler pigmentiert als der andere. Verschiedene Temperamente und Traditionen werden angeführt. In Wirklichkeit liegen Welten zwischen uns und den Bewohnern der Grashütte. Wir unterscheiden uns voneinander wie die Erlebniswelt des Kindes von der des Erwachsenen.
Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts sah man im Kind nichts weiter als einen unreifen Erwachsenen. Die gegenwärtige Psychologie versucht, das Kind aus seiner eigenen seelischen Struktur heraus zu verstehen. Wer glaubt, Kinder seien unterentwickelte Erwachsene, hat die elementaren Zusammenhange des Lebens nicht begriffen. Es ist wahr, dass Kinder nicht logisch in kausalen Zusammenhangen denken. Aber was für ein reiches Bilderbewusstsein lebt in ihnen. Aber so wie ein Kind nicht ohne die Welt der Erwachsenen zu leben vermag, genauso ist ein Erwachsener nicht lebensfähig ohne die bildhaften Kräfte, die er sich aus dem verlorenen Paradies seiner Kindheit bewahrt hat. Freud wies als einer der ersten nach, wie unterschiedlich und lebenswichtig die Kindheit für unser Erwachsenenleben ist. Eine ähnliche Grundannahme existiert unter etlichen schwarzen Völkern Afrikas. Sie äußert sich mitunter als Furcht. So klagt Credo Mutwa:
„Für alles Geld der Welt möchte ich nicht das Leben des weißen Mannes führen. Ich möchte nicht, dass man mich in einen weißen Schwarzen verwandelt oder in einen schwarzen Weißen. Ich habe nicht den Wunsch, meine menschlichen Gefühle und meine unsterbliche Seele zu verlieren. Wir können nicht mehr zu den alten Lebensformen zurückkehren, die wir besaßen, bevor der weiße Mann kam. Wir haben unsere Wurzeln verloren. Blickt man in die Zukunft, so sieht man nur Entwurzelung, Zweifel und Blutvergießen. Oh, mein Afrika, was wird aus dir!“
Mit Afrika stirbt der letzte Kontinent der nicht bauenden Naturvölker. Bis auf wenige Siedlungen in entlegenen Regenwäldern und Wüsten ist diese so reiche menschliche Kulturform schon heute unwiederbringlich ausgerottet worden. Alle diejenigen, die ihren ganzen Ehrgeiz dareinsetzen, dass auch der letzte Nomade bald lesen und schreiben kann und vor seinem Fernsehgerät sesshaft wird, sollten nicht vergessen, um wie viel ärmer unsere Erde geworden ist.
In Nordamerika waren die ersten Kolonisten nicht nur von der Würde der Stammeskönige beeindruckt, sondern auch von der demokratischen Gesinnung dieser Menschen. Berichte über Demokratien mit Häuptlingen, die durch den Willen des Volkes regierten und nicht von Gottes Gnaden, gelangten vor allem durch die Franzosen nach Europa. Sie fanden ihren Niederschlag in den philosophischen Gedankengängen vom Naturkind und dem edlen Wilden. Hieraus entwickelte der englische Philosoph Locke die Theorie einer Regierung durch die Einwilligung der Regierten. Thomas Jefferson übernahm Lockes Formulierungen in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Die Entwicklung der Demokratie im 17. und 18. Jahrhundert in Amerika und Europa wurde durch die Berührung mit den Indianern entscheidend gefordert. Die Künstler verherrlichten die bildhaften Fantasiekräfte der „Primitiven“ und erkannten ihren ungeheuren Eigenwert. Die Kunst der Gegenwart ist ohne diese Impulse gar nicht zu begreifen.

Als ein paar Buren im vorigen Jahrhundert einer Hinrichtung unter dem Zuluhäuptling Chaka beiwohnten, der seine zum Tode verurteilten Untertanen mit Holzkeulen erschlagen ließ, äußerte ein Weißer, dass er diese Hinrichtungsart für unmenschlich halte. Auf die Frage des Zulukönigs, was denn die Weißen mit ihren Gesetzesbrechern machten, antwortete der Bure, dass sie ihre Verbrecher einsperren würden, für Monate, Jahre oder für immer. Chaka wandte sich daraufhin angewidert ab und sagte: „Nur Weiße können so grausam sein, lebendige Wesen in Steinhütten einzuschließen.“ Als man in den Siebzigerjahren in Botswana, im südlichen Afrika, reiche Diamantenfelder entdeckte, entwickelte sich unter den Buschmännern ein reger Schmuggel mit diesen Steinen. Um das zu unterbinden, sah sich die Regierung genötigt, empfindliche Strafen zu verhängen. Alle Buschmänner, die ins Gefängnis von Francistown eingeliefert wurden, starben innerhalb weniger Tage ohne ersichtlichen Grund. Sie brauchten die Freiheit wie Wasser und Luft.

Ganze Naturvölker sind zugrunde gegangen, weil man sie in ihrer Bewegungsfreiheit beschnitten hat. Das gilt genauso für die Ureinwohner Nordamerikas wie auch für die Ureinwohner Australiens, deren freies Umherschweifen von der Zivilisation abrupt unterbrochen wurde. Für diese Menschen ist der Wandertrieb so lebenswichtig wie für uns der Bautrieb und die Sesshaftigkeit.
Die Buschmänner der Kalahariwüste leben nach unserem Dafürhalten auf einer unglaublich primitiven Existenzstufe. Sie ernähren sich von Würmern, Insekten und Wurzeln. Wasser ist so kostbar, dass sie sogar das Fruchtwasser aus der Gebärmutter erlegter Tiere trinken und sich mit ihrem eigenen Urin waschen. Diese Wilden, die nicht einmal die Andeutung einer Hütte kennen, vermögen mit dem bloßen Auge die Jupitermonde zu erkennen. Sie erleben mit ihren hoch entwickelten Sinnen Geschehnisse, für die wir blind und taub sind. Ihr ganzes Leben ist eine ununterbrochene Wanderung. In ihren Märchen lebt das Gute in der Weite, hinter dem Horizont. Das Böse aber lauert bewegungslos in Höhlen aus Stein.
Ein größerer Gegensatz zu unserer Kultur ist nicht denkbar. Wo das eine ist, kann das andere nicht sein.
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Verlagsinformation über das Buch
Historische Überlieferungen vermitteln uns das Wissen über Zweck und Stil von Gebäuden. Doch welches Raumgefühl die architektonische Form der Bauwerke entwarf und welche Kräfte noch am Werk waren, zeigt uns dieses Buch. Der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus sagte, jeder ist für sein Gesicht verantwortlich. Ein Bauwerk kann als Gesicht der Gesellschaft gelten – es wird geformt von dem Charakter seiner Epoche.
Am Anfang war die Höhle, was folgte, erzählt die Architekturgeschichte. Die alten Pyramiden Ägyptens gelten jedoch zugleich als die technisch vollkommensten Bauten. Doch warum wurde das tonnenschwere Steinmaterial für den Bau der Pyramiden über weite Strecken mit der Muskelkraft von Menschen durch das Land gezogen – wenn sie doch direkt neben den Steinbrüchen hätten errichtet werden können? Gab es nicht bessere Möglichkeiten, die Toten vor Räubern zu schützen, als in diesen gigantischen Monumenten? Wenn Goethes Werk Zur Farbenlehre das Wesen und die Vielseitigkeit der Farben widerspiegelt, ist E. W. Heines New York liegt im Neandertal das Psychogramm der menschlichen Architekturgeschichte. E. W. Heine dokumentiert in Kurzgeschichten die Epochen der Baugeschichte aus einer abenteuerlichen Perspektive.
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Verlagsinformation über den Autor E.W. Heine

Ernst Wilhelm Heine, geb. 1940 in Berlin, ist ein deutscher Architekt und Schriftsteller. Als Architekt arbeitete er unter anderem in Südafrika und Saudi-Arabien, wo er als technischer Berater der saudischen Regierung tätig und am Bau von Großprojekten beteiligt war. Seine kabarettistischen Texte waren nur der Anfang seiner Schriftstellerkarriere – mit an Bord der Titanic und den Kille-Kille-Geschichten wurde er zum Bestsellerautor. E.W. Heine lebt in Bayern.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER gibt es nicht nur eine Facebook-Gruppe, sondern jetzt auch Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: New York liegt im Neandertal – Die abenteuerliche Geschichte des Menschen von der Höhle bis zum virtuellen Raum
Autor: E.W. Heine
Verlag: TERRA MATER BOOKS
Verlagslink: https://www.terramaterbooks.com/produkt/new-york-liegt-im-neandertal-2/
ISBN: ISBN 978-3-99055-000-7
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Besuchsempfehlung

Archäologisches Freilichtmuseum Oerlinghausen:
https://www.afm-oerlinghausen.de/
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