von Werner Berens
Meistens sonntags und immer noch vor Sonnenaufgang fuhren wir los, zu dritt oder viert über baumgesäumte Landstraßen in den Morgen hinein. Die Welt schlief in der weiten, flachen Landschaft aus Wiesen, Feldern und hellgrünen Laubwäldern. Aus den Wiesen stieg der Nebel, wurde vom aufkommenden, sanften Wind als scharf abgegrenzte Nebelbank über die Wiesen und in die Baumgruppen geschoben, verharrte dort für eine kurze Zeit und löste sich auf oder wanderte weiter. Ruhende, rhythmisch wiederkäuende Kühe schälten sich im Vorbeifahren wie unförmige Skulpturen aus dem Dunst. Wenn dann nach einer halbstündigen Fahrt die aufgehende Sonne goldene Blitze durch das Blätterdach der Landstraße warf, lag der See vor uns und schien zwischen Nacht und Tag noch zu träumen. Die Vögel trugen bereits ihren morgendlichen Wettstreit aus und mit höher steigender Sonne würde der Nebel verfliegen und der See allmählich erwachen.

In dem Land links des großen Stromes fließen die Flüsse hinter den Pappelreihen so langsam, dass sie fast zu stehen scheinen. Die ehemaligen Torfstiche sind zu flachen Seen geworden, von einem der Flüsse aufgefüllt und oft verschwimmen die Grenzen von Fluss und See ineinander. Alles, was geschieht, atmet die Jahrtausende alte Gelassenheit der niederrheinischen Landschaft.

Nachdenklichkeit scheint stets über dem Land und seinen Bewohnern zu liegen. Und diejenigen, die das Sehen noch nicht verlernt haben, lässt das Land in seinem Rhythmus zur Ruhe kommen. Auch wir sprachen kaum ein Wort, während wir uns auf dem Steg zum Fischen einrichteten, und instinktiv vermieden wir jede unangemessene Hast. Der Schilfgürtel des Sees wurde an einigen Stellen durch von den Anglern gebaute Stege durchstochen. Sie führten vom festen Ufer bis zur offenen Wasserfläche und knickten dort rechtwinklig nach rechts oder links ab, so dass man vor dem Schilf auf dem Steg sitzen konnte und den fast gleichmäßig flachen, an der tiefsten Stelle drei Meter tiefen See beangeln konnte. Vor uns lag geheimnisvolles, dunkelgoldbraunes Wasser über torfigem Grund. Hin und wieder bewegte sich einer der Schilfhalme im Gürtel aus frühlingsgrünem Schilf um den See.
Unsere Fischereischeine hatten wir in den braunen Holzkasten geworfen, der an der Wand des Landgasthauses an der Straße angebracht war. Im Gasthaus würden wir gegen Mittag unsere Scheine auslösen, den nun eigentlich nicht mehr benötigten Tagesschein bezahlen und annehmen, ein Altbier trinken und mit anderen Anglern ein paar Worte über den Fang wechseln. Wir würden den einheimischen Skatspielern bei ihrem im Zigarrenqualm verschwimmenden Spiel zusehen und nach einer Weile nach Hause fahren.

Ringsum ertönte ein Vogelkonzert. Alles, was singen und fliegen konnte, war jetzt unterwegs oder hockte auf Zweigen, trällerte, flötete und klopfte sein Lied in den Morgen. Der Dunst über dem See löste sich allmählich auf und erste Fische durchbrachen mit ihren Rückenflossen die Wasseroberfläche. Ringe zeigten sich, kleine und große. Ein Karpfen wälzte sich mit dem breiten Rücken aus der Wasserfläche und tauchte wieder ein. Schweigend brachten wir die beringten Stippruten in Position, lange, nicht zu feine Ruten, mit denen man große Schleien oder einen Karpfen vom Schilfgürtel fernhalten konnte. Die kräftigen Posen waren so ausgebleit, dass sie kurz über dem schlammigen Grund ein Madenbündel oder einen Mistwurm tragen konnten. Das Anfutter musste so beschaffen sein, dass es nicht im Schlamm versank, aber auch nicht auf der Oberfläche trieb, sondern kurz über Grund schwebte. Der Seegrund war fast eben und die Fische konnten mit dem Köder nicht in der Tiefe verschwinden, sondern schienen ihn eine Weile im Maul zu tragen, während sie auf ihren Schleienstraßen entlang des Schilfrandes und in den See hinaus patroullierten.
Wenn nun die letzten Dunstschleier abzogen, war die Zeit gekommen, in der die erste Pose bis zur Antenne heruntergezogen wurde und dann auf Wanderschaft ging : Schleienbiss! Es gab nichts Aufregenderes als das Warten auf die erste „fahrende“ Pose an diesen Schleientagen. Und dann konnte es sein, dass sie sich nur zehn Zentimeter in den See hinaus bewegte und der Fisch schon losgelassen hatte, bevor man sich zum Anhieb entschließen konnte.
Über den richtigen Zeitpunkt des Anhiebs gegen die Richtung der fahrenden Pose gab es verschiedene Ansichten und der Erfolg war sehr oft vom richtigen „Gefühl“ abhängig und davon, ob sich zwei Maden oder ein größerer Wurm am Haken befanden. Die Schleien waren immer da, aber nicht immer einfach zu bekommen, denn auch sie schienen sich Zeit zu nehmen mit dem Schlucken des Köders. Es schien so, als ob sie darüber nachdächten, ob sie den im Maul herumgetragenen Wurm endgültig einschlürfen sollten. So konnte es geschehen, dass von 10 Anhieben nur einer eine Schleie an den Haken brachte, und das Experimentieren mit verschiedenen Posen, Ködern, Hakengrößen und Bleigewichten nahm unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Aber irgendwann war es dann soweit, und die erste der ansehnlichen Schleien konnte über den Unterfangkescher geführt, im Sitzen herausgehoben und schweigend vom Haken gelöst werden.

Solche Schleien wie dort haben wir nie wieder gefangen. In dem aufgeheizten, flachen See waren die Fische fast warm. Wenn man sie vom Haken löste, spürte man in der Hand die Wärme des Wassers und die Fische schienen lebendiger als alles Geschuppte, was wir bisher in der Hand gehalten hatten. Und an allen diesen durchsonnten Schleientagen bewirkte eine verborgene, uns unbekannte Kraft, dass kaum ein Wort gesprochen wurde und unsere Handlungen sich vom Zwang des Fangenmüssens lösten. Wir waren Gäste dieses Sees, dem es gefiel, uns seine Schleien zu schenken. Wenn die ersten im Setzkescher schwammen, war der Frühlingssonntagmorgen so weit gereift, dass er uns mit Gold überschüttete: Die Sonne verwandelte den warmen Braunton des Steges und des Wassers in Gold, die Schwertlilien leuchteten goldgelb aus dem Schilf und über den Unterfangkescher zogen wir Schleien, die als olivgoldene Beute die glitzernde Wasseroberfläche durchbrachen. Die noch niedrig stehende Sonne vergoldete das Blattwerk der Eichen um den See und an jedem dieser Schleientage schwammen wir für eine Stunde in einem goldenen Meer.

Gegen 11 Uhr verlor der See den Zauber des Morgens. Die am See vorbeiführende Straße wurde nun laut und es war Zeit, diesen Ort auf schmalen, baumgesäumten Nebenstraßen zu verlassen, um durch die abseits der Straßen stille Landschaft den Heimweg anzutreten noch nicht wissend, dass die goldene Fülle dieser Schleientage und die Wärme der aus dem Wasser gezogenen Fische sich mir unauslöschlich einprägen würden.

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KRAUTJUNKER-Kommentar: Fangtipps von einem Angler-Star für Schleien im April findet Ihr hier:
https://krautjunker.com/2017/04/09/10-fangtipps-fuer-den-april-schleie-das-gruenen-beginnt/

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KRAUTJUNKER-Autor Werner Berens

Werner Berens ist Fliegenfischer, Jäger, Autor und Genussmensch, der den erwähnten Tätigkeiten soweit als möglich die lustvollen Momente abzugewinnen versucht, ohne aufgrund kulinarisch attraktiver Beute übermäßig in die falsche Richtung zu wachsen. Als Leser und Schreiber ist er ein Freund fein ziselierter Wortarbeit mit Identifikationssmöglichkeit und Feind von Ingenieurstexten, die sich lesen wie Beipackzettel für Kopfschmerztabletten. Altermäßig reitet er dem Sonnenuntergang am Horizont entgegen und schreibt nur noch gelegentlich Beiträge für das Magazin FliegenFischen.
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Anmerkungen

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