von Ulrich Wotschikowsky
[© Ulrich Wotschikowsky aus Wolf, Luchs und Bär in der Kulturlandschaft, Verlag E. Ulmer]
Jäger und große Beute greifer – das ist eine komplizierte Beziehung seit der Frühzeit. Schon für die ersten Menschen waren große Beutegreifer Konkurrenten um fleischliche Nahrung. Gleichzeitig waren sie auch Jagdbeute und genossen in vielen Jägerkulturen einen hohen rituellen Status. Und nicht zuletzt ist der von vielen Jägern besonders gefürchtete Wolf auch noch der Stammvater ihrer tierischen Kumpane, der Jagdhunde.
Im Zuge der Ausrottung der großen Beutegreifer haben die Jäger nolens volens deren Rolle übernommen. Sicher nur z. T. und auch nur so weit, als sie in der Kulturlandschaft die Populationen des Schalenwildes zahlenmäßig in Schach halten. Aber die bekannte „Brüll’sche Pyramide“ (benannt nach Heinz Brüll), an deren Spitze früher die Beute greifer standen und heute der Jäger, haben sie tief verinnerlicht. Dies ist ihr Weltbild. Sie meinen, Wolf und Luchs passen da nicht mehr hinein (Abb. 10-1).

Jäger sorgen sich also um ihre eigenen Jagdgelegenheiten. Ist ihre Haltung zum omnivoren Bären noch eher indifferent, so befürchten sie doch Einbußen an eigener Jagdbeute durch die echten Karnivoren Luchs und Wolf. Dabei gab es niemals zuvor so viel Schalenwild in Mitteleuropa wie heute.
Aus jagdlicher Sicht befindet sich Europa gegenwärtig in einem Schalenwildzeitalter. In Mitteleuropa, namentlich in Slowenien, Südtirol (Italien), der Schweiz, Österreich, Deutschland, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn, haben sich die Jagdstrecken von 1970 – 2014 beim Rehwild verdoppelt, beim Rotwild verdreifacht, beim Mufflon versiebenfacht und beim Schwarzwild verzwölffacht (Reimoser und Reimoser 2016). In Deutschland stiegen die Abschüsse noch in jüngster Zeit (von 2005 – 2015) beim Rehwild um 10 %, beim Damwild um 12,5 %, beim Muffelwild und Rotwild um 24 % und beim Schwarzwild um 28 %. Jäger erlegten in Deutschland im Jahr 2015 fast 1,2 Millionen Rehe, über 600 000 Wildschweine, etwa 78 600 Stück Rotwild und 65 000 Stück Damwild (DJV: https://www.jagdverband.de/jagdstatistik). Pro Jäger – etwa 360 000 – sind das etwa 5 Stück Schalenwild pro Jahr. Der jagdliche Ertrag pro 100 ha und Jahr liegt bei etwa 5,4 Stück. Damit nimmt Deutschland vor Österreich (4,6 Stück) und Tschechien (4,4 Stück) die Spitzenposition in Europa ein – und dies bei einer sehr hohen Bevölkerungsdichte (Abb. 10-2). Dieser Aufschwung der Schalenwildpopulationen wird gerne mit dem Fehlen großer Beutegreifer in Verbindung gebracht. Die Erklärung liegt jedoch eher in der Art unserer Landnutzung. Sie ist auf hohe Produktivität ausgerichtet und umfasst alle flächenmäßig bedeutenden Landlebensräume, ausgenommen nur die alpinen Regionen oberhalb der Waldgrenze. Die landwirtschaftlichen Flächen, in Deutschland beispielsweise etwa 50 % der Landesfläche, werden intensiv gedüngt und mit Hochleistungssorten bestellt, und selbst nach der Ernte bleibt den Herbivoren viel Nahrung in Form von Ernterückständen und Wintersaaten. Die Wälder werden im Vergleich zur natürlichen Entwicklung in kurzen Umtriebszeiten bewirtschaftet, deshalb ist der Anteil von stark belichteten Jungwüchsen mit Bodenvegetation hoch, und das bedeutet ebenfalls viel Nahrung. Zudem haben häufige Stürme und starker Borkenkäferbefall den Anteil solch nahrungsreicher offener Flächen noch erhöht. Und schließlich erfährt ganz Europa seit Jahrzehnten einen übermäßig hohen Stickstoffeintrag aus der Luft. Winterliche Nahrungsengpässe haben dagegen an Zahl und Strenge abgenommen, die Winter sind kürzer, schneeärmer und wärmer als früher.
In den folgenden Ausführungen wird versucht zu erklären, wie groß der Einfluss der großen Beutegreifer auf die Schalenwildbestände und deren Vitalität ist – also quantitativ und qualitativ. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Wolf, während der omnivore Bär nur eine Nebenrolle spielt. Wie große Beutegreifer Schalenwild erbeuten, wird in den jeweiligen Kapiteln zur Biologie von Luchs, Bär und Wolf beschrieben.
Wie viel Wild nehmen große Beutegreifer den Jägern weg?
Wie viel Wild – gemeint ist Schalenwild – werden die großen Beutegreifer den Jägern wegnehmen, wenn sie zurückkommen? Für den Bären fällt die Antwort leicht. Europäische Braunbären machen beim Schalenwild nur selten Beute. Wenige Tage alte Rehkitze oder Rotwildkälber, die abgelegt in Deckung liegen, können von einem Bären gefunden werden – wenn er Glück hat; denn die Jungtiere sind fast geruchlos und verströmen kaum Körperwitterung. In Schweden wird Bären ein spürbarer Eingriff in die Elchkälberdichte angelastet, doch werden diese Eingriffe wegen der Forderungen der Waldbesitzer nach einer Absenkung der sehr hohen Elchdichten hingenommen.
Der Luchs wird wesentlich kritischer gesehen. Bei mäßiger Dichte von etwa ein bis drei Tieren auf 100 km2 (= 10 000 ha) ergibt sich ein Tribut von ein bis zwei Rehen, die die Jäger pro Quadratkilometer an den Luchs abgeben – unter der Voraussetzung, dass die Luchse dort (fast) nur von Rehen leben. In mitteleuropäischen Revieren des Flachlandes und der Mittelgebirge erlegen Jäger dagegen etwa vier bis sechs Rehe auf dieser Fläche. In Hochgebirgslagen oder in nördlichen Breiten mit geringer Rehdichte kann der Eingriff des Luchses jedoch die Größe des Nettozuwachses erreichen. Dort schränkt der Luchs die Jagdmöglichkeiten drastisch ein (z. B. Breitenmoser und Breitenmoser-Würsten 2008).


Wo andere Schalenwildarten vorkommen, z. B. Rotwild oder Gams, treten Rehe in der Wertschätzung als Beute für den Jäger zurück. Auch der Luchs ersetzt Rehe teilweise durch geringes Rotwild bzw. Gams. Daher wird in solchen Jagdrevieren (besonders in den Alpen) der Luchs weniger als Beutekonkurrent empfunden als dort, wo Rehe die bevorzugte Jagdwildart sind, wie z. B. in rotwildfreien Teilen des Bayerischen Waldes oder im nördlichen Skandinavien.
Beim Wolf sind solche Einschätzungen komplizierter. Zum einen umfasst seine Beute stets alle vorkommenden Schalenwildarten, zum anderen kann von größeren Beutetieren viel übrig bleiben. In einer Zusammenstellung von 18 Untersuchungen (Peterson und Ciucci in Mech und Boitani 2003) reicht der tägliche Beutebedarf eines Wolfes (available prey) von 2 bis 24 kg. Der Durchschnittswert beträgt 5,4 kg, ähnlich den 5,6 kg, die Jedrzejewski et al. (2002) in Białowieża ermittelten. Die hohen Werte wurden für große Beutetiere gefunden (Bison, Elch, Wapiti), die nur z. T. genutzt werden. Um satt zu werden, braucht ein Wolf nur etwa 2 kg reine Nahrung pro Tag (Karlsson, mdl.). Genaue Untersuchungen unter Freilandbedingungen liegen dazu allerdings nicht vor. Unterstellt man 3 kg lebende Beute pro Wolf und Tag, so stünde einem Wolf mehr Nahrung zur Verfügung, als er tatsächlich benötigt, um alle Lebensäußerungen wie Aufrechterhaltung der Körperwärme, Verdauung, Welpenaufzucht, Haarwechsel, längere Exkursionen, Jagen u. dgl. zu bestreiten. Die Annahme von 3 kg für mitteleuropäische Verhältnisse erscheint gerechtfertigt, weil nur selten Risse gefunden werden; denn Rehe, Rotund Damwildkälber oder gar Frischlinge werden so gut wie vollständig konsumiert.

In den zusammengefassten Ergebnissen von 4136 Losungsanalysen aus der Lausitz (Wagner et al. 2012) betrugen die Anteile verzehrter Biomasse 53 % Reh, 21 % Rotwild, 18 % Schwarzwild, 2 % Damwild und 0,6 % Muffelwild, zusammen 94,6 % Schalenwild (Abb. 10-3). Naturgemäß spiegeln diese Stichproben jeweils das Beuteangebot vor Ort wider: In Damwildgebieten fehlt Rotwild und umgekehrt, und Mufflons fehlen, wo die Art nicht vorkommt. Mittelwerte machen da wenig Sinn. Ein weiteres Problem besteht darin, den Anteil der Jungtiere in der Beute zu quantifizieren.
Die jagdliche Planung operiert allerdings nicht mit Biomasse, sondern mit Individuenzahlen. In einem Versuch, den zahlenmäßigen Eingriff von Wölfen abzuschätzen, kommt Wotschikowsky (2017) für die deutschen Wolfsgebiete auf etwa 1,5 Rehe (75 % Kitze), 0,2 Stück Rotwild (67 % Kälber) und 0,4 Sauen (90 % Frischlinge) pro 100 ha und Jahr. Dabei sind sehr geringe Durchschnittsgewichte der Beutetiere unterstellt worden, weil anzunehmen ist, dass Jungtiere einen hohen Anteil in der Wolfsbeute einnehmen. Dadurch ergibt sich eine hohe Anzahl von erbeuteten Individuen. Übliche Jagdstrecken liegen dennoch beim Vielfachen dieser Werte.
In vielen europäischen Wolfsgebieten bildet nicht das Reh, sondern das Rotwild die bevorzugte Beute (z. B. Białowieża, Polen; Okarma et al. 1997). In Italien dagegen dominieren Wildschweine (Mattioli et al. 2011). In Deutschland stellen Rehe ungefähr drei Viertel der erbeuteten Tiere.
Sind die deutschen Wölfe also „Rehspezialisten?“ Wahrscheinlich nicht. Der hohe Rehanteil erklärt sich aus mehreren Gründen: Rehe sind häufig, sie sind überall, ihre Populationsdichte und ihre jagdliche Nutzbarkeit werden notorisch unterschätzt (z. B. Hespeler 2016), sie sind leichter zu fangen als z. B. Rotwild und sie sind nicht wehrhaft wie Rot- und Schwarzwild.

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KRAUTJUNKER-Kommentar: Dies waren nur die Seiten 201-204. Das Kapitel geht bis S. 222, wobei ab S. 220 Quellenangaben bilden.
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Anmerkungen

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Titel: Wolf, Luchs und Bär in der Kulturlandschaft – Konflikte, Chancen, Lösungen im Umgang mit großen Beutegreifern
Herausgeber: Marco Heurich
Verlag: Verlag Eugen Ulmer
Verlagslink: https://www.ulmer.de/usd-5761419/wolf-luchs-und-baer-in-der-kulturlandschaft-.html
ISBN-13 : 978-3818605056
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Buchvorstellung: https://krautjunker.com/2021/01/04/wolf-luchs-und-bar-in-der-kulturlandschaft-konflikte-chancen-losungen-im-umgang-mit-grosen-beutegreifern/