von Bertram Graf v. Quadt
Ein Abstauber nur. Der Nachbar jagte und riet, einige Sitze weiter bei uns drin zu besetzen. Ein kurzer Vormittag, zwei Stunden nur im Wald unter der Burgruine. Ein enger Stand im Nebel, umgeben von Dickungen. Stille, als deckte der Dunst nicht nur die Sicht, sondern jedes Geräusch zu.

Dann, weit oben im Hang, ein Laut, ein leises Rascheln, unstet, unsicher.
Von Süden kommt es herein, wohl knapp unterhalb der Hangkante. Verhofft, verschweigt. Noch bleibt die Waffe auf der Brüstung liegen, noch halte ich die Finger warm in den Taschen. Zu weit, zu ungenau, um jetzt schon die Aufregung zuzulassen.
Dann bewegt sich der Laut, zieht, zieht rascher. Das Rauschen wird lauter, wird zum Rascheln. Das ist nicht das Staccato des Ziehens von Rehen. Das müssen Sauen sein! Näher ist es gekommen, bleibt aber noch weit oben. Ob das Wild über meine Schneise gehen wird, ob ich es werde sehen können? Die Äste der Weißtanne, unter dem mein Stand ist, hängen tief. Da ändert das Rauschen die Richtung, kommt nun hangab, direkt auf mich zu. Ich nehme die Waffe auf, spanne den Hahn und kämpfe mühsam das Jagdfieber nieder.
Immer lauter wird das Wild, immer näher kommt es. Schemenhaft kann ich gedrungene Wildkörper in der Dickung wahrnehmen, dann ansprechen: zwei Frischlinge sind es, an 60 Pfund jeder. Werden sie die kleine Lücke links überfallen? Keine zwanzig Schritt vor mir verhofft der vordere Frischling, gedeckt durch Jungwuchs. Ich fahre auf, richte mich auf die Lücke. Doch das Wild schlägt einen Haken, macht kehrt nach rechts und überfällt flüchtig die Schneise, ein Dutzend Schritte vor mir.
Das Absehen sitzt vorn im Leben, als der Schuss bricht. Doch der Frischling zeichnet nicht, geht in voller Flucht ab. Ich repetiere nach, gebe einen zweiten Schuss, wieder mit gutem Abkommen. Der dritte geht knapp vorne vorbei, die Sau macht kehrt und geht einige Meter über ihrem ersten Wechsel nun nach links über die Schneise. Auf den nächsten Schuss zeichnet das Wild sauber, setzt aber seine Flucht fort und verschwindet in der Dickung.
Jetzt packt mich das große Zittern, jetzt kommen die großen Fragezeichen: warum fiel der Frischling nicht im ersten Schuss, warum erst auf den dritten Treffer ein Zeichnen? Ich nehme das Wärmebildgerät ans Auge: deutlich steht eine Schweißspur vom ersten Anschuss weg, gut lässt sie sich über die gesamte Fluchtstrecke bis zum Dickungsrand verfolgen. Hahn in Ruh sagt die Uhr nach viel zu langer Zeit. Ein Blick auf den Anschuss verschafft Sicherheit: hellrot liegt der Lungenschweiß auf dem Waldboden. Nun, kleiner Dackel, Du Standsirene, Du Wildwarner auf vier Beinen, nun ist Dein Moment. Ich hole Dich aus dem Auto, dann suchen wir die Sau.
Traudl fienzt und jault vor Freude, als ich die Heckklappe öffne. Doch als sie sieht, dass ich den Lodenkotzen herausangle, den Schweißriemen und ihre weiche Halsung, wird sie ruhiger, zittert nur noch. Sie, die vor zehn Wochen ihre Brauchbarkeit nachgewiesen hat, weiß, das jetzt Arbeit kommt. Oft genug haben wir das auf der getretenen Fährte geübt.
Anspruchsvoll wird die Arbeit nicht, grad zwei Stunden steht die Fährte. Doch das Wild ist irgendwo in der Dickung, ohne Hund wäre das ein saures Stück Arbeit. Einige Schritt vorm Anschuss lege ich den Dackel auf dem Wetterfleck ab, docke den Schweißriemen ab, streife Traudl die Halsung über:
„Wir haben es mit einem Frischling zu tun, an die 30 Kilo schwer. Am Anschuss ist Lungenschweiß, den suchen wir jetzt, den findest Du mir.“
Man mag mich für eigenartig halten, wenn ich so mit meinem Dackel rede. Das gehört halt einmal zu unserem Ritual.
Traudl bewindet den Anschuss, verweist Schweißtropfen. Dann nimmt sie die Fährte freudig auf und arbeitet sie ruhig voran. Ich sehe ihr an, wie sehr sie diese Arbeit liebt. Sauber arbeitet sie den Haken aus, den der Frischling geschlagen hat, verweist Schweißtropfen um Schweißtropfen, sieht sich dabei nach mir um. Ich lobe sie reichlich, dann treibe ich sie mit einem weiteren „Such verwundt!“ voran.
Wir tauchen in die Dickung ein: ein ungutes Gestrüpp aus Ilex, aus Stechpalmen, die hier reichlich wachsen. Der Dackel kommt gut drunter durch, ich dagegen muss arbeiten, um nachzukommen. Zweimal kreuzen Verleitungen die Fährte, beide Male korrigiert sich der Hund rasch und fällt die eigentliche Spur wieder an. Ich kann das genau sehen: gerät sie von der Fährte, geht die Nase hoch, steht ihre Rute still. Kaum ist sie wieder drauf, beginnt sie eifrig zu wedeln, neigt den Kopf und sucht mit Begeisterung. Und ich kann einmal mehr nicht umhin, den Anblick eines wedelnden Dackelhintern für eins der schönsten jagdlichen Bilder zu halten, die ich kenne.
Gute hundert Meter war der Frischling gegangen: der erste Schuss war auf so kurze Distanz hinters Blatt und ohne Knochen zu fassen durch das Wild gegangen, dass die Kugel nicht aufgemacht hatte. Der Ausschuss war kalibergroß. Von den restlichen Schüssen hatten zwei ebenfalls Leben gefasst, doch auf den ersten Schuss hin war der Frischling im Adrenalinrausch steinhart geworden.
Von der Freude am Wild muss ich nichts schreiben, die kennt mein Leser selbst gut genug und weiß, daß es keine rechten Worte dafür gibt. Der Tag war der krönende Abschluss einer guten Saison, in der ich von keinem Stand als Schneider heimgegangen war. Die Suche mit meinem jungen Hund wiegt aber mehr als jede große Strecke.

Bald ist Wintersonnwende, damit ist für mich Hahn in Ruh auf Drückjagden. So halte ich das, weil ich das wiederkäuende Schalenwild im Stoffwechseltief, das jetzt einsetzt, nicht unnötig aufmüden will – dem Wild und dem Wald zuliebe. Ansitze mag es noch den ein oder anderen geben, sicher aber noch viele Übungsfährten für Traudl und mich. Bis wir die nächste angehen, wird der kleine Bruch, den ich ihr oben in der Dickung an die Halsung genestelt habe, da bleiben, wo er ist, wird an Halsung und Schweißriemen neben der Eingangstür hängen. Da sehe ich ihn jeden Tag. Das ist mein Adventskranz.

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Bertram Graf v. Quadt

Man kann sich gegen schwere erbliche Belastungen nicht wirklich zur Wehr setzen. Damit war die Jagd unausweichlich. Beim Blick in die Generationen gibt es auf weite Sicht keinen männlichen Vorfahr – und nur wenige weibliche – die nicht gejagt hätten. Vater, Mutter, beide Großväter und so weiter und so fort – alles Jäger, und zum Teil hochprofilierte Jäger: der Vater meiner Mutter, Herzog Albrecht v. Bayern, hat die bedeutendste Monographie des 20. Jahrhunderts über Rehwild verfasst („Über Rehe in einem steirischen Gebirsgrevier“) und darin mit viel Unsinn über diese Wildart aufgeräumt. Meine Mutter war an den Forschungen dazu intensiv beteiligt, gemeinsam mit meinem Vater hat sie die Erkenntnisse im gemeinsamen Revier im Allgäu umgesetzt. Nun will und muss aber jeder junge Mensch rebellieren. Ich habe mir dafür aber nicht das jagdliche Erbe ausgesucht, sondern die Schullaufbahn, das nie begonnene Studium, das Ergreifen anrüchiger Berufe (Journalist, pfui!) und anderes mehr. Und ich kann im Rückblick sagen: das war die richtige Entscheidung.
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Anmerkungen

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