Blut und Tochter

von Vincent Klink

Es war der erste VW-Golf, ein wirklicher Kleinwagen, eine viereckige Kiste und das Jagdfahrzeug meines Vaters. Grünmetallic war er letzte Schrei, eigentlich war es eher eine Art Türkis, was der Papa Amigrün nannte. Der Wagen war noch schmaler als die Serienmodelle. Links und rechts fehlten die Zierleisten, Türgriffe waren auch nicht mehr vorhanden und die Türen etwas eingedellt. Die Karre wirkte wie ein Stück Kuchen, das man in eine zu enge Schachtel gepresst hatte. Papa fuhrwerkte mit einem kleinen Schraubenzieher in den Resten des Schlosses herum, um uns die Tür zu öffnen. Wie es zu der aerodynamischen Verschlankung gekommen war, davon später.
Dann saßen wir drin, am Steuer der Zweizentnermann, daneben Eva, meine Tochter, ich verdrückte mich nach hinten zwischen die Gummistiefel und Utensilien des Tierarztes, die allesamt nach Kuhstall stanken. Anschnallen war verpönt und etwas für Weicheier. Papa war bester Laune, um nicht zu sagen: in aggressiver Angriffsstimmung. Es ging auf die Jagd, und es fehlte nur noch das zur Attacke röhrende Jagdhorn. Keine fünfzehn Minuten, da waren wir schon im Zielgebiet. Der Stadtwald Taubental war bloß ein paar Steinwürfe vom Bahnhof entfernt. Das war nicht gerade der ideale Platz für waidmännische Kontemplation, denn die Schonungen waren bei schönem Wetter voll von Liebespaaren und Spannern. Papa war städtischer Beamter, Chef des Schlachthofs, CDU-Mitglied und deshalb „für’n Appel und ’n Ei“ an das Jagdrecht dieser städtischen Liegenschaft gekommen. Auf einem schönen Kalkweg fuhren wir hoch zum Talschluss, bogen dort ab, die Piste wurde rumpeliger, doch es kam noch schlimmer. Unbekümmert kurvte der Tierarzt zwischen den Tannen durch. Links und rechts schrappten die Baumrinden an der Karre. So wurde klar, warum unser Gefährt beidseitig eingedellt war. Paps war kreuzfidel und erklärte, ein guter Jäger gehe so wenig wie möglich zu Fuß. Seine Rede ging in Bellen über. Ums Haar hätte er den Hochsitz gerammt, so dicht setzte er das Auto an seine grob gezimmerte Abschussbasis.

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Abb.: Hochsitz; Bildquelle: Wikipedia

Der Großjägermeister schnappte sich aus dem Kofferraum seine Bockbüchsflinte, ein edles Teil, österreichischen Fabrikats, Marke Ferlacher, und mit feinen Gravuren versehen. Damit fuchtelte er herum und bedeutete uns, marsch, marsch die Leiter hochzuflitzen. Er selbst benötigt etwas länger, ist er doch ein beleibter Gourmet mit der Obsession, anstatt eines Desserts lieber noch zwei Rostbraten nachzuschieben. So lebhaft und tatendurstig er Auto fährt, so bedächtig wirkt er, wenn seine Schuhe festen Boden berühren. Ich sehe sein kleines Tirolerhütchen die Leiter hochwackeln, es kommt immer näher, und es wird offenbar, warum er die Kopfbedeckung seinen Speckdeckel nennt. Er bläst wie ein Wal, ist aber endlich oben und hockt sich neben uns. Eva staunt ihn an wie ein unverhofft ausgegrabenes Mammut. Er keucht immer noch und ich merke, der Boss zwingt sich zur Bedächtigkeit. Er greift unter die Jacke, wo er gewöhnlich seine Smith & Wesson (eine 38er-Magnum ist für Wilderer nicht das Gesündeste) stecken hat, und holt einen edlen Flachmann heraus. Ein tiefer Schluck, und er wird spürbar ruhiger. Seine Backen werden noch feuriger, und ich frage mich, ob so ein glühender Ofen von den Rehen nicht meilenweit auszumachen ist. Vom Obstler wird mir nichts angeboten, was ich auch nicht zu hoffen gewagt habe. Dazu fehle mir noch die sittliche Reife, wie der Alte jeweils räsoniert.
Mit leisem Klick wird das Gewehr entsichert und auf dem Querbalken des Ansitzes in Richtung erhoffter Opfer gehalten. Wir hören ein Rascheln und halten den Atem an. Die Spannung steigert sich ins Fiebrige. Da! Zweige schlagen, und Papa murmelt: „Arschlöcher, gottverdammte Pilzsammler, irgendwann knall ich diese Missgeburten ab.“ Den Exekutionswunsch quetscht er nur noch leise zwischen den Zähnen hervor. Inzwischen kaut er auf einer getrockneten Bauernbratwurst herum, gibt mir auch ein Stück ab. Er murmelt etwas von „Die Amis haben ihren Kaugummi, wir unser Geräuchertes. Dreimal darfst raten, was besser ist. Idioten!“ Damit waren, glaube ich, die Amis gemeint. Ich will etwas antworten und kriege dafür ein knappes „Schnauze“ an den Kopf geschmissen. „Vertreibst die ganzen Viecher.“
Wir hocken eine Ewigkeit. ich wundere über meine Tochter Eva, sie ist erst fünf Jahre alt und verharrt still wie ein Holzstock. Sie spürt, dass es hier um Geister und Dämonen geht. Sie schmiegt sich an mich, friert wohl ein bisschen.
Alle halten den Atem an: Ein Reh tritt aus der Schonung, keine 50 Meter entfernt. Papas Auge hängt am Zielfernrohr, wie der einäugige Finne in die Schnapsflasche stiert. Finnische Schnapsflaschen sind schnell leer, aber die Schonung vor uns füllt sich. Ein ganzes Rudel. Ich kann mir vorstellen, was in meinem Vater vorgeht, sicher denkt er jetzt an die Feuerkraft eines Maschinengewehrs. So aber muss er sich entscheiden, wählen zwischen einem großen Bock oder einem schmalen Rehkitz, die Ricken (Rehmütter) kommen ohnehin nicht in Frage. Kitze haben zwar nicht so viel „Material“ wie der schwere Bock, geben aber einen unvergleichlich besseren Braten ab. Das weiß ich schon lange. Die ständigen Predigten meines Vaters haben aus mir einen passablen Koch und Jagdspezialisten gemacht.
Trotzdem, ich bin bei der Jagd noch nie dabei gewesen, und mir fährt der Schreck in die Gedärme, dass ich fast vom Hochsitz falle. Der Schuss wummert durch das ganze Tal, und man wundert sich, dass der unglaubliche Knall nicht die Bäume entlaubt. Das Rudel spritzt auseinander. Eine Sekunde später liegt die Schneise ruhig, und mir ist, als wäre nicht nur ich gelähmt, sondern die ganze Natur. Wie der Sekundenzeiger einer batterieschwachen Uhr zuckt ein Bein des kleinen Rehs hin und her. Lautlos, nichts rührt sich sonst, die Vögel sind verstummt, der Wind hat innegehalten, kein Blatt rührt sich, die Natur steht starr.
Der Nimrod neben mir stemmt sich hoch und ist wieder in seiner Welt. Wir klettern vom Hochsitz, und ich denke mir: „Ich hab schon unzählige Rehrücken gebraten, Pasteten gefüllt und Rehkeulen geschmort, aber schießen könnte ich die Tiere nicht. Gäbe es keine Jäger, müsste ich mich mit dem Wild begnügen, das Selbstmord begangen hat.“
Paps ist ein ungewöhnlicher Jäger, er hat keinen Lodenkittel an, sondern ein normales Hemd, über dem sich eine enge Wollweste spannt wie die Wurstpelle über einer dem Platzen nahen heißen Roten. Allerdings hat er unter seinem gewaltig vorstehenden Bauch eine Kniebundlederhose hängen. Aus dem Schenkeltäschchen zieht er seinen Nicker. So nennt sich das Messer, das dazu benutzt wird, das Tier aufzubrechen. Der Mann ist altgedienter Veterinär und kein Typ der zimperlichen Sorte. Wir sind am Ort der Hinrichtung. Vater dreht das Tier mit dem Bauch nach oben. Es liegt still und ergeben auf dem Rücken, zuckt nicht mehr und macht den Eindruck, als hätt es sich hier freiwillig hingelegt und für uns geopfert.
Vater fährt mit dem Messer zwischen Haut und Bauchdecke. Er zieht den Nicker vom Stummelschwanz bis unters Kinn des Tiers. „Willst du das Vieh ausnehmen, bist schließlich Koch?“ Ich kann nur stammeln, „Nö, Paps, ich will kein warmes Fleisch anfassen. Das bin ich überhaupt nicht gewöhnt. Ich krieg’s nich hin!“ In seinen Augen sehe ich die Gier und auch die Freude, die schon der Neolithiker gehabt haben muss, wenn er mit der Beute beladen die heimischen Höhlen ansteuerte. Gebannt schaue ich auf die riesige Wunde, aus der die grünen, dampfenden Gedärme quellen. Dann fällt mir mit Schreck meine Tochter ein. Mein Gott, wird sie einen seelischen Schaden davontragen? Ich nehme sie in den Arm und bedecke mit flacher Hand ihre Augen. Sie wehrt sich stürmisch, stößt einen ärgerlichen Schrei aus und hüpft zwei Schritte von mir weg auf das Gemetzel zu. Fasziniert sieht sie hin und zeigt grenzenlose Bewunderung für den blutverschmierten Waidmann. Von einem Bein aufs andere hüpfend kräht sie: „Opa, kochst du das nachher?“ Opa nickt heftig. Sie dann wieder: „Mit viel Soß?“ Die beiden verbrüdern sich richtiggehend. Der Waidmann holt seine Siebensahen aus dem Auto. In einem Plastiksack verschwindet die haarige Beute. „Den Kittel ziehen wir erst aus, wenn das Fleisch gereift ist.“ In eine weiße Plastikwanne kommt das Geschlinge: Herz, Leber und Lunge, die alle aneinanderhängen. Die grünen Gedärme fliegen ins Gebüsch, und Opa sagt zur Enkelin: „Weißt, die Füchse wollen auch was haben.“
Eva quietscht rum, als hätte sie schon lange nichts mehr zu essen bekommen. Opa schleift den Plastiksack mit der Beute. Eva schnappt sich einen Zipfel des Sacks und hängt sich dran. Fürchtet sie, um die Braten zu kommen? Ich trage die Schüssel mit den Innereien. Opa führt Selbstgespräche und redet von gebratener Rehleber in Majoran. „Leberknödel wären auch nicht schlecht“, meint er. Eva fängt wieder zu hüpfen an und kräht: „Leberknödel, Leberknödel, Leberknödel.“
Mir schwirrt der Kopf. Was geht hier vor? Habe ich als Erziehungsberechtigter völlig versagt? Ist meine Tochter ein Tier wie mein Vater?
Bei ihm kann ich das Verhalten ja verstehen. Alte Russlandkämpfer sind Leute der Tat, und das lange Leben führt ja meistens nicht zu Einsichten, sondern zur Verhärtung. Von ihm erwarte ich keine Sentimentalitäten. Die Härten des Lebens machen den ungestümen Jüngling zum zivilisierten Menschen und im Alter wieder zum Tier. Und das Kind? Ist es genetisch wie ein Raubtier programmiert und wird erst durch Erziehung zum guten Menschen?
Die Jagd war vorbei, und im Forstfahrzeug verbreitete sich fresslustige Stimmung. Der Alte redete dauernd vom Essen, und Eva war fasziniert: „Aus der Rehkeule könnten wir dünne Schnitzel schneiden und sie mit Pilzen füllen.“ Eva guckte ihren Opa an wie ein Wundertier.
Nichts gegen Diskussionen über Rezepte und übers Kochen. Doch ich konnte darauf keinen Gedanken verschwenden. Die beiden waren auf den vorderen Sitzen am Schwelgen, und ich machte mir ein schlechtes Gewissen. Wie konnte es sein, dass die angesichts eines toten Tieres vom Mampfen redeten?
Ich wollte genauer wissen, warum sich die Zivilisation bei meinen Blutsverwandten dermaßen verschoben hatte. Ein Freund empfahl mir einen Kinder-Psychotherapeuten in Freiburg. Der sei Spezialist für gewalttätige Kinder. Genau, damit hatte ich mich sowieso mal befassen wollen, seitdem ich im Stuttgarter Kunstmuseum lange das Bild eines Kinds des Malers Otto Dix betrachtet hatte. Dix hatte den richtigen Blick, ohne die Gefühlsduseleien des stolzen, depperten Papas. Fein und doch intensiv gemalt, schaute seine Tochter mit gehässig verzogenem Mund und den Augen eines Killers in die Welt hinaus. Soll noch einer sagen, in jedem Kind werde der Frieden neu geboren. Nö, Kinder sind die nackte Gewalt.

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Abb.: Nelly mit Spielzeug, 1925; Bildquelle: Otto Dix

Noch am selben Tag rief ich an. Der Therapeut redete auf mich ein, sanft bemüht, mich zu therapieren: Das Töchterlein sei völlig okay. „Erst mit der Pubertät trennen sich im Kind das Innen und das Außen. Das Kind ahmt auch nach: Wenn die Mutter das Hauskaninchen nicht aufessen kann, dann folgt das Kind diesem Muster.“
In einem Jägerhaushalt würden andere Verhaltensweisen vorgelebt. Außerdem meinte der Arzt: „Kinder kommen mit solchen Realitäten sehr gut klar, schlimmer wären Fantasien aufgrund von Erzählungen über das Totschießen von Tieren.“ Ich erinnerte mich daran, wie lustig ich es einst gefunden hatte, Frösche aufzublasen; mein aktuelles Verhalten war das Resultat von Kultureinfluss, von Abwägen und Erwägen.
Grau ist alle Theorie. Am Abend des Massakers bereitete Opa seinen berühmten Aufbruch, also Herz-Leber-Lunge in Blutsauce. Ich durfte am Schmaus teilhaben, was nicht selbstverständlich war, denn der Aufbruch galt seit Werk und Mensch, Zucht und Sitte des in Jägerkreisen immer noch präsenten Großjägermeisters und Abschusstheoretikers Hermann Göring als eine Art Zaubertrank: „Die Kraft und Schnelligkeit des Tiers geht in den Essenden über.“
Das blutige Gericht hatte Folgen: Mit der Zeit wurde das Töchterlein von der Zivilisation unterwandert und ist heute Vegetarierin.



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Anmerkungen

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Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

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Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft 30

Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink

Verlag: © 2007 Edition Vincent Klink

Website: https://vincent-klink.de/

ISBN: 978-3-927350-28-1

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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.

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