Leviathan oder Der Wal: Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe

Buchvorstellung

Moby Dick ist ein unsterbliches Monument der Literatur. Wie ein Naturereignis reißt es den Leser mit seiner poetischen Sprache in eine fremde und unglaublich dramatische Welt. Wer Herman Melvilles Buch zu Ende gelesen hat, bleibt am Schluss der Reise für immer verändert zurück. Er konnte um Haaresbreite wahnwitzige Abenteuer überstehen und den Vorhang vor großen Geheimnissen lüften. Auf den letzten Seiten wähnt er sich glücklich, nicht nur klüger geworden zu sein, sondern auch überlebt zu haben. J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe ist die einzige mir bekannte Literatur, welche auf eine ähnliche packende Weise mit nichts Vorhergeschriebenem vergleichbar ist.

In dem der britischen Literaturwissenschaftler Philip Hoare nahezu jeden Aspekt von Moby Dick von seinem persönlichen Standpunkt aus durchleuchtet, ist ihm mit Leviathan oder Der Wal ein facettenreiches Meisterstück gelungen. Das Buch beschreibt Hoares persönliche Beziehung zum Meer und dem Schwimmen und erläutert zoologische, historische und symbolische Fakten rund um die Wale. Es beschreibt die damalige Walfangkultur, enthält eine anekdotenreiche Kurzbiographie Melvilles sowie Reisebeschreibungen des Autors  in das Londoner Natural History Museum, nach Cape Cod oder zur Mitte des Atlantiks. Und und und muss ich hinzufügen.

Ein Treppenwitz der Weltgeschichte für den sich nur das wirkliche Leben nicht zu schade ist: Einige der Nachkommen jener Männer, die vor zweihundert Jahren alles bei der Jagd auf Wale riskierten, setzen heute ihren Hals bei der Rettung der Gattung aufs Spiel.

Kaum ein Thema um den Pottwal Moby Dick, das nicht angesprochen, nicht überraschend erörtert, nicht in faszinierende Zusammenhänge eingebettet wird. Die unfassbare Menge an Erkenntnissen und die Brutalität des spartanischen Walfängerlebens präsentiert der Autor dabei in einem glänzenden Stil, der mich oft an seinen Landsmann James Hamilton-Paterson erinnert. Für die kongeniale deutsche Fassung ziehe ich den Hut vor dem Übersetzer Hans-Ulrich Möhring. Gebildet, einfühlsam, spannend und humorvoll ist Leviathan ein reines Lesevergnügen, dass ich mir schon mehrfach gönnen musste und an Freunde verschenkte.

Laut Hotlist 2013 eines der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen
Von der Darmstädter Jury gewählt zum Buch des Monats Mai 2013
Auf der Shortlist des NDR-Kultur-Sachbuchpreises 2013

Ich freue mich sehr, hier eine Leseprobe präsentieren zu können. Sie ist dem Kapitel „VI Versiegelte Order“ (S. 158 – 162) entnommen worden. Philip Hoare beschreibt, wie es Melville vor fast zweihundert Jahren, während seiner ersten Tage auf einem Walfänger, erging und die Jagd auf die größten Raubtiere dieses Planeten begann.

 

von Philip Hoare

Melville stach am Sonntag, den 3. Januar 1841, auf der Acushnet von New Bedford aus in See. Er mag kein greenhand mehr gewesen sein, doch seine frühere Überfahrt nach Liverpool mit Baumwolle als Ladung statt Öl hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Abenteuer, das vor ihm lag.

Auf See trafen dann die Maate die Auswahl für die Fangbootbesatzungen. Achtern versammelt, wurden die Männer nach ihren Erfahrungen befragt und die Maate prüften ihre Hände und Füße und fühlten ihre Muskeln wie bei einer Sklavenauktion. Auf jedem Schiff gab es drei oder vier solcher Besatzungen, die aus dem Kapitän oder einem Maat, vier einfachen Matrosen (wie Melville einer war) und einem Harpunier bestanden; es konnte sein, dass keine fünf Männer an Bord des Schiffes blieben, wenn die Boote von den Davits abgelassen wurden, an denen sie einsatzbereit hingen. Wie immer beim Walfang wechselten Zeiten hektischer Betriebsamkeit mit einschläfernder Untätigkeit oder stumpfsinniger Plackerei ab. Die Zeit selbst lief anders auf See. Fern vom Land walzte der alles nivellierende Ozean die Tage zu einem Kontinuum aus, das von Mittag zu Mittag in nautische Einheiten aufgeteilt wurde.

Erster Teil, Mittag bis 8 Uhr abends

Mittelteil, 8 Uhr abends bis 4 Uhr morgens

Letzter Teil, 4 Uhr morgens bis Mittag

Wache um Wache regelte das Leben der Mannschaft. Wenn sich keine Wale blicken ließen, segelte das Schiff aufs Geratewohl durch die noch nicht definierten Zeitzonen. Wenn die Jagd lief, beschleunigte sich die Zeit oder hörte ganz auf. Und alles – die Männer, ihr Mühen und Hoffen – war nur auf die paar Minuten ausgerichtet, in denen ein Wal bezwungen werden konnte. Von der Anwerbung und Anstellung bis zum Ausschauen und Erspähen einer fernen Unruhe im Wasser, gefolgt von der wilden Jagd, diente alles nur dem Zweck, Holzfässer zu füllen, die für einen kurzen Landaufenthalt sorgten, bis es losging zur nächsten Fahrt. Das ganze Geschehen war ein unerbittlicher Kreislauf, dem man unter Umständen erst entkam, wenn die Natur oder die Laune eines Wals einen daraus befreiten. Wie die Wanten den Mast am Schiff hielten und die Leine an der Harpune den Wal, so war der Seemann in einer Art Glaubensakt fest an seine Beute gebunden.

»Ah, die Welt! Oh, die Welt!«

Decks wurden geschrubbt und Männer für zwei Stunden auf Ausguckwache geschickt, um nach Walen zu schauen. Bis dahin hingen das Schiff und seine Besatzung gewissermaßen in der Schwebe. Neu Angeworbene übten in den Booten, um in einer hohen Schule der See ihre Muskeln zu stählen und ihre Koordination zu schärfen. Sie probierten ihre Techniken an vorbeiziehenden Tümmlern oder Grindwalen aus, deren Tran weniger ehrliche Walfänger gelegentlich zur Gewinnsteigerung dem Walrat untermischten. 69 Tage lang segelte die Acushnet auf einer Route, die wir nicht genau kennen, obwohl davon auszugehen ist, dass sie wie die meisten neuenglischen Walfänger auf den Azoren anlegte, um frischen Proviant und neue Männer an Bord zu nehmen. Erst anschließend, wenn sie über die 8000 Meter tiefen Abgründe des mittleren Atlantiks fuhren, begann die eigentliche Jagd.

Pottwale sind nicht an jahreszeitliche Wanderungen gebunden wie die Buckelwale; dennoch legen sie jährlich viele Zehntausend Meilen zurück, wobei sie sich häufig in bestimmten Gebieten sammeln, die bei den Walfängern »Gründe« heißen. Sie wurden auf Seekarten vermerkt und mit Walsymbolen gekennzeichnet, ähnlich wie Landkarten in einem Feldzug. Ein beliebter Walgrund war die Äquatorregion, »die Linie«. Hier am Mittelring der Erde kamen die Wale zusammen, als gehorchten sie einem vorherbestimmten Schicksal.

Seit Wochen hatten die Männer auf den Bramdwarssalings gestanden und Ausschau gehalten und alle warteten darauf, dass die winzigen Gestalten, die dort 25 bis 30 Meter hoch in der Luft schwankten, die magischen Worte riefen:

Da bläst er! D-a b-l-ä-s-t e-r!

– woraufhin auf einmal die Tiere erschienen, wie aus der Tiefe he-raufbeschworen.

Und siehe, ganz nah in Lee, keine vierzig Faden entfernt, lag ein riesiger Pottwal und wälzte sich im Wasser wie der kieloben dahintreibende Rumpf einer gekenterten Fregatte. Sein breiter, glänzender, äthiopisch schwarzer Rücken glitzerte wie ein Spiegel in der strahlenden Sonne.

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Manchmal sahen sie 20 oder 30 Wale auf den Wellen reiten wie Surfer und »herumpurzeln, wenn die hohen Wellen sie mitrissen, sodass sie sich fast überschlugen«, wie der junge Haley bewundernd festhielt. »Manchmal sah man einen auf dem Kamm einer Welle. Wenn sie brach, schoss er mit solcher Geschwindigkeit an ihr hinunter, dass er in seinem Kielwasser einen Streifen weißer Gischt hinterließ. Unten im Tal zwischen zwei hohen Wellen schob er gemütlich seine Spautlöcher aus dem Wasser und blies, als wollte er sagen: ›Seht her, so wird’s gemacht!‹« Doch noch während die jungen Wale dergestalt spielten, erscholl der Befehl, die Boote wegzufieren.

Das Yankee-Walboot war »das vollkommenste Wasserfahrzeug, das jemals die Wellen durchschnitt«: ein schnittiges, spitzes Boot von neun Metern Länge, doch »so leicht«, wie Melville schrieb, »dass drei Mann es davontragen könnten«. Gleich an Bug und Heck, war es leicht manövrierbar und in beide Richtungen zu rudern und mit seinen klinkerbeplankten Seiten und seinen 5,5 Meter langen Riemen trug es seine sechsköpfige Besatzung flink und leise übers Wasser. »Auftriebig und elegant in den Bewegungen«, schrieb Frederick Bennett, Arzt auf einem britischen Walfänger, »springt es von Woge zu Woge und scheint eher über die See zu tanzen, als mit dem Kiel ihren Busen zu zerpflügen.« Achtern hielt der Maat ein großes Steuerruder und gab Befehle an die barfüßigen Männer, denn wie die Dollen gedämpft waren, so trugen sie auch keine Schuhe, um ihre Beute nicht zu erschrecken. Ein Pottwal konnte jederzeit durchgehen wie ein erschreckter Hirsch – und ein »gegallter« Wal nutzte niemandem etwas.

Der Kommandant jedes Boots trieb seine Männer an, wie etwa im beschwörenden Flüsterton ein Nantucketer Maat:

»Nun pullt doch, um Himmel willen! Das Boot kommt ja über-haupt nicht voran. Ach, ihr schlaft ja alle! Da liegt er! Pullt, Kinderchen, pullt! Ich liebe euch, meine braven Jungs, ja, wirklich, das tue ich. Ich werde alles für euch tun, ich werde euch mein Herzblut zu trinken geben, nur bringt mich dieses eine Mal zu diesem Wal und pullt.«

Das waren die Worte eines schmachtenden Liebhabers, wie die Harpunen die Pfeile eines todbringenden Amors waren – Anfeuerungen, die wechselten zwischen wilder Beschimpfung und Schüren der Rivalität:

»Pullt, pullt, meine wackeren Kerls – pullt, meine Kindchen – pullt, meine Kleinen«, säuselte Stubb lang gezogen und schmeichelte seinen Mannen … »Warum brecht ihr euch nicht alle Knochen im Kreuz, meine Jüngelchen? … Warum brecht ihr die Riemen nicht, ihr Halunken? … Der Teufel soll euch holen, ihr liederliches Lumpenpack; ihr schlaft ja alle miteinander. Schluss mit Schnarchen, ihr Schlafmützen, und pullt!«

So flitzten die tödlichen kleinen Boote durchs Wasser, flink und zerbrechlich, immer mit dem Risiko, bei dem Zusammenstoß zu Kleinholz zerschmettert zu werden. Wenn sie in der Nähe des Gegners waren, zogen die Männer die Riemen ein und warteten.

Und warteten.

Pottwale bringen die meiste Zeit unter Wasser zu und können für zehn Minuten oder eine Stunde auf Grund gehen. Ein erfahrener Walfänger erkennt an der Größe, wie lange ein Tier unten bleiben wird: Mit jedem Fuß Wal verlängert sich die Wartezeit um eine Minute.

Es war eine beängstigende Rechnung: Je länger sie warteten, umso größer das Monster, mit dem sie es zu tun bekamen…

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.

Ich danke dem mareverlag und der Literarischen Agentur Kossack für die freundliche Zusammenarbeit und Genehmigung dieses umfangreichen Textausschnittes auf meinem Weblog.

Copyright (c) 2013 by mareverlag, Hamburg

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Titel: Leviathan oder Der Wal: Auf der Suche nach dem mythischen Tier der Tiefe

Verlag: mareverlag GmbH & Co. oHG

Autor: Philip Hoare

Übersetzer: Hans-Ulrich Möhring

ISBN: 978-3-86648-154-1

 

Verlagslink: http://www.mare.de/index.php?article_id=3514

Autorenlink: http://www.philiphoare.co.uk/

Übersetzerlink: http://www.xn--bersetzerwerkstatt-erlangen-h3c.de/de/M%C3%B6hring_Hans-Ulrich

 

Eine sehr lesenswerte Rezension in der FAZ: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/philip-hoare-leviathan-oder-der-wal-wer-kann-sagen-wie-sich-die-welt-einem-wal-darbietet-12157016.html

Hans-Ulrich Möhring hat ebenso James Hamilton-Paterson Seestücke: Das Meer und seine Ufer (siehe: https://www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/Seestuecke/4307) übersetzt. Auch ein grandioses Buch, welches ich gerade lese.

Im mareverlag wurde ein weiteres Meisterwerk James Hamilton-Patersons herausgegeben. Wer sich für das Meer interessiert und lesen kann, sollte es sich anschaffen. Vom Meer: Über die Romantik von Sonnenuntergängen, die Mystik des grünen Blitzes und die dunkle Seite von Delfinen (siehe:  http://www.mare.de/index.php?article_id=2214).

James Hamilton-Patersons Website: http://www.jdhp.net/#!/about

Der anarchische Schriftsteller und Freiheitsdenker Henry David Thoreau, Autor von Walden oder Leben in den Wäldern hat zur Zeit der Handlung von Moby Dick eine Reise nach Cape Kod, die Heimat der amerikanischen Walfänger, unternommen und darüber ein Buch geschrieben. Eine erstmalige deutsche Ausgabe von Cape Kod ist im Residenz Verlag erschienen (siehe: http://www.residenzverlag.com/?m=30&o=2&id_title=1686). Habe ich ebenfalls gelesen und kann es empfehlen.

Wer sich über die traditionelle (nicht kommerzielle und industrielle) Grindwaljagd von Dorfgemeinschaften am nördlichen Rande Europas informieren möchte, wird in Magnus Nilssons Werk Nordic – Das Kochbuch bedient. Verlag / Edition: Phaidon by Edel (siehe: https://buch-findr.de/verlage/phaidon-by-edel/). In diesem kulinarischen Mammutwerk findet sich u.a. die bebilderte Reportage samt Rezepten Faröer Waljagd. Leseproben, Rezepte und eine Rezension aus Nordic werden auf KRAUTJUNKER in den kommenden Tagen und Wochen folgen. Magnus Nilson ist nicht nur Autor, sondern vor allem Koch in Fäviken. Für Mitteleuropäer Das Restaurant am nördlichen Ende der Galaxis, um es mit Douglas Adams zu sagen (siehe: http://faviken.com/).

Für Bücher, Filme oder Hörfunkbeiträge rund um das Meer, gehört in Deutschland das Haus mare zu den ersten Adressen: http://www.mare.de/index.php

Viel Freude beim Lesen! Über Rückmeldungen zu den Büchern würde ich mich sehr freuen.

 

 

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