Buchvorstellung
Dieser Buchvorstellung des Rowohlt Verlages konnte ich nicht widerstehen:
»Als Europas Herrscher eine große Familie waren – das schwungvoll erzählte Panorama einer Zeit, die sich uns faszinierend fremd und doch seltsam vertraut darstellt.
Ein eigenartiger Kontinent ist das Europa der Könige: Hier kann ein König von England, der kein Englisch spricht, auf die Idee kommen, die Pläne eines kein Spanisch sprechenden Königs von Spanien zu durchkreuzen, indem er dem kein Polnisch sprechenden König von Polen anbietet, König von Sizilien zu werden. Hier residiert die Macht in überfüllten Schlössern, deren Höflings-Bewohner sich den ganzen Winter über um das Recht streiten, in Gegenwart der Königin auf einem Hocker sitzen zu dürfen, bevor sie im Sommer losziehen, um an der Spitze knallbunt uniformierter Truppen direkt in das Musketenfeuer der Kriegsgegner hineinzumarschieren. Hier lebt eine Gesellschaft, in der ein Edelmann, der erst mit dreiundzwanzig Jahren feststellt, keinen Vornamen zu haben, weniger auffällt als einer, der seine Frau mit ihrem Vornamen anredet. Hier schart sich der höfische Adel um Herrscher, die in einem dichten Netz aus diplomatischen Beziehungen, Intrigen und Verschwörungen gefangen sind: Nationalität und Ideologie sind ihnen nichts, die eigene Dynastie dagegen alles.
Leonhard Horowski führt uns kenntnisreich und unterhaltsam durch untergegangene Welten, deren Bewohner er auf die Schlachtfelder des Krieges wie auf die der Heiratspolitik begleitet; er folgt Edelleuten und Prinzessinnen durch labyrinthische Palast-Korridore und sieht zu, wie mit Duellen und Zeremonien Politik gemacht wurde. Er zeichnet ein schillerndes Porträt des Adels in jener Epoche, als er noch keine natürlichen Feinde kannte – im Europa der Könige, das an sich und seinem dynastischem Denken schließlich gescheitert ist.«
Der Autor Leonhard Horowski, welcher neben der universitären Lehrtätigkeit in der Diplomatenfortbildung sowie als historischer Berater für Dokumentarserien arbeitet, hat eine 1.047 Seiten starke Erzählung über die Welt des europäischen Adels vor der französischen Revolution verfasst.
Abb.: Leonhard Horowski, © Thorsten Wulff
Eine Gesellschaft, die so sehr dem Prinzip der Ungleichheit huldigte, wie wir Heutigen dem der Gleichheit.
»Schon immer hatte es eine feudale Kaskade der Verachtung gegeben, in der Herzöge auf Grafen herabsahen, Grafen Barone bemitleideten und diese sich untitulierten Adeligen überlegen fühlten. Adelige mit viel Land übertrumpften solche, bei denen es nur noch für ein größeres Bauernhaus, ein altes Pferd und ein verrostetes Schwert reichte, während elegante Höflinge in der Hauptstadt sich über Krautjunker aus der Provinz amüsierten und alle zusammen als alter Adel auf den neuen schimpften. Der wurde trotzdem immer zahlreicher, weil zwar der Adel keine Könige mehr machen konnte, der König sehr wohl aber neue Adelige. Ein Jurist nach dem anderen erhielt das Adelsdiplom, kaufte Land und heiratete nach oben. Der alte Adel mochte darüber spotten – wird eine Maus adelig, wenn sie das Adelsdiplom auffrisst? – , reagieren musst er doch. Zum Glück wurde aber mit dem Problem bereits die Lösung mitgeliefert, denn dieselbe Maschinerie von Staat und Militär, die die Macht des Monarchen stärkte, bot auch dem Adel ungeahnte neue Aufstiegsschancen. Diejenigen Nachkommen des alten Ritteradels, die zum Einstieg in den neuen Apparat bereit waren, konnten nun gewissermaßen als leitende Angestellte des Königsprojekts an bisher ungeahnter Macht und unvorstellbarem Steuer-Reichtum teilhaben und sich nicht nur über ihre altadeligen Standesgenossen, sondern auch über die meisten Emporkömmlinge erheben. Bis vor kurzem waren die meisten Angehörigen dieses niederen Adels Grundbesitzer gewesen, die sich dem König nur nach Aufforderung als anarchische Einzelkämpfer zur Verfügung stellten und nach einer Saison Krieg wieder zu ihren Feldern zurückkehrten; jetzt wurden Offiziere aus ihnen, die die immer größeren Heere ihrer Herrscher kommandierten, zugleich Hofwürdenträger, Diplomaten, Statthalter oder Gerichtspräsidenten.
…
Was sollte bei dieser Entwicklung aus dem Hochadel werden, den Adelsfamilien also, die schon vor Jahrhunderten mit oder ohne Könige aufgestiegen waren, die daher schon seit langem Fürsten oder Herzöge waren und selbst über Hunderte, ja Tausende niederadelige Vasallen herrschten? In manchen Teilen Europas half ihnen das Fehlen einer Zentralmacht, so konnten sie im Römisch-Deutschen Reich als fast unabhängige Herrscher kleiner Staaten überleben und all die Universitäten und Hoftheater gründen, von denen wir bis heute zehren. In England andererseits fiel der alte Hochadel erst den Rosenkriegen und dann den Henkern der Tudor-Könige zum Opfer und wurde ziemlich vollständig durch jene Nachkommen erfolgreicher Schafzüchter ersetzt, die heute noch an der Spitze des britischen Adels stehen. In Böhmen erlaubte es der Dreißigjährige Krieg den Habsburgern, den alten tschechischen Herrscherstand fast komplett zu vertreiben und die enteigneten Ländereien zu Spottpreisen an deutsche, belgische und italienische Söldnerkommandeure weiterzureichen, deren Erben dann bis 1945 den böhmischen Hochadel ausmachten. Die meisten Länder blieben zwischen diesen Extremen; überall aber mussten Grandseigneurs wie Talmond oder Radziwill sich entscheiden, ob sie sich der wachsenden Kronautorität unterordnen oder sie auf die Hörner nehmen wollten. Durch Verwandtschaft und Reichtum den Monarchen ähnlich und wie sie mehr ans Befehlen als ans Gehorchen gewöhnt, waren sie zu guten Untertanen denkbar ungeeignet – ganz gleich, ob sie nun wie in Frankreich einem König und seinem Kardinal-Minister gehorchen sollten oder wie in Polen-Litauen einer egalitären Adelsrepublik, die sich ihren König bloß als Präsidenten auf Lebenszeit hielt. In filigranen, unübersichtlichen und schwankenden Staatsgebäuden lebten wie nur halb gezähmte Raubtiere diese Männer, die mit einer Handbewegung einen Bürgerkrieg auslösen konnten.«
Im 21. Jahrhundert, in dem die europäischen Nationalstaaten in ein von politischen Parteien gelenktes, soziales Europa verschmelzen sollen, mag sich manch Leser angesichts des dicken Buches fragen, ob er Zeit für diese Epoche aufbringen kann. Leonhard Horowski liefert eine gute Begründung:
Es »… lohnt sich die Beschäftigung mit der Frühneuzeit schon deshalb, weil sie in Abwandlung eines Wortes von Uwe Hölscher nun einmal das „nächste Fremde“ unserer eigenen Gesellschaft ist – nah genug, um nicht außerirdisch zu sein, und doch zugleich fremd genug, um uns daran zu erinnern, wie wenig selbstverständlich unsere Selbstverständlichkeiten sind. Wer sich einmal näher angesehen hat, wie lauter individuell vernünftige Menschen mit der größten Überzeugung Dinge tun, die uns nach bloß drei Jahrhunderten wie der reine Irrsinn vorkommen, der mag sich danach auch zweimal überlegen, etwas nur deswegen für richtig zu halten, weil das im Hier und Heute alle anderen tun.«
Ein weiteres Argument für das Buch ist, dass seine Lektüre größtenteils ein unglaublich amüsantes Lesevergnügen darstellt. So folgt man Geschichten wie jener eines kleinen, bärtigen Mannes, der 1676 an einem Februarmorgen an einer Strickleiter aus dem durchgesägten Fenstergitter seiner Zelle in der Alpenfestung Pignerol floh. »Einmal blickte er noch zurück, um zu sehen, ob sein Brief an den König auch gut sichtbar auf dem Tisch lag.« Derselbe Mann, mit dem Talent zu unglaublichen Abenteuern, half der englischen Königen und dem Thronfolger zwölf Jahre später bei der Flucht aus London. Es handelt sich um Antonin de Caumont, Marquis de Puyguilhem, dem späteren Herzog von Lauzun. Ein durchtriebener Aristokrat, der sich nicht zu fein war, ein Stelldichein Ludwigs XIV. mit Madame de Montespan unter dem Bett zu belauschen.
Das Europa der Könige hat Horowski wie ein gelungener Klon aus einem neuzeitlichem Klatschreporter und einem detailversessenen Geschichtsprofessor verfasst. Er liefert dabei Inspiration für hunderte von Romanen oder Drehbüchern. So erfährt der gebannte Leser von der unglücklichen Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg, welche nach der Ermordung ihres Liebhabers in ein einsames Wasserschloss gesperrt wurde, während ihr geschiedener Mann Georg von Hannover auf den englischen Thron gelangte. Oder von dem rüpelhaften Ferdinand III. von Neapel, der seine Makkaroni mit Händen aß und beim Hofball seinem erschrockenem Habsburger-Schwager Joseph II. auf den Rücken sprang. Oder von der Fürstin Orsini, welche zwanzig Jahre lang die Geschicke Spaniens lenkte, bis sie in einer eisigen Winternacht in einer Kutsche mit zerstoßener Scheibe zur französischen Grenze eskortiert wurde. Oder die Geschichte der für ihre antikischen Schleierposen bekannten Diplomatengattin Emma Hamilton, wie sie in Neapel ihrem nächsten Rendezvous mit dem britischen Admiral Nelson entgegenfieberte. Oder von dem als »norditalienischen Wackelkanditaten« bezeichneten König von Sardinien, welcher »aus jedem Krieg in einem anderen Bündnis herauskam, als er hineingegangen war, wenn er nicht zufällig eine gerade Zahl von Seitenwechseln schaffte. Oder von dem preußischen Höfling und Staatsminister Grumbkow, wie er mehrere Wagenladungen Champagner mühsam in die Provinzstadt Crossen speditieren ließ, um August den Starken bei einem Trinkgelage über seine Pläne als polnischer König auszuhorchen. Eine Unternehmung, die schwieriger war, als man es sich heute vorstellen mag, denn wie transportierte man den teuren Champagner? In Fässern war es nicht möglich, da das herrliche Gesöff in Flaschen reift. Aus den über Feldwegen rumpelnden vielspännigen Staatskutschen knallte es jedoch wie aus Musketenschüssen, sobald sich bei einem Schlagloch ein Korken lösten.«
Dies alles ist das farbenfrohe Gemälde einer Epoche, als feudale Macht nicht mehr und finanzieller Wohlstand noch nicht der Treibstoff der Macht waren und es keine politischen Parteien im heutigen Sinne gab. Eine erstaunliche Zeit, in der Politik, für eine miteinander verwandte Herrscherschicht, nur die Fortsetzung des Famlienlebens mit anderen Mitteln war. Es liest sich einerseits oft unglaublich unterhaltsam, andererseits fordert es auch das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit des Lesers stark heraus, den seitenlangen Aufzählungen aus genealogischen Verstrickungen zu folgen. Bei Aristokraten, mit ihren oft ornamental komplizierten Namen, eine ungeahnte Herausforderung, denn in ihren Namenssystemen steckte eine ganze Weltsicht. So hieß der spanische Botschafter am Hof Ludwigs XV. Don Fernando de Silva y Álvarez de Toledo Beaumont Portocarrero Enriquez de la Cerda Acevedo y Zúñiga Fonseca y Ayala duque de Huescar, Conde de Galve et cetera et cetera und es konnte ein Duell nach sich ziehen, bei der Anrede einen Fehler zu machen.
Zusammenfassend somit ein farbenfroh gewebter Erzählteppich, sofern man sich zehn bis vierzehn Tage Zeit nehmen kann, den ausführlich geschilderten Verknüpfungen in den 170 Jahren zwischen 1640 und 1810 zu folgen. Fehlen jedoch Zeit und Konzentration, besteht die Gefahr, in dem ausufernden Werk den roten Faden zu verlieren. Ist dies der Fall, weiß man bald nicht mehr, wer sich jetzt wieder mit wem um die Gunst stritt, in Gegenwart des Königs auf einem Hocker zu sitzen, dem tabouret de grâce und somit aufsteigen konnte oder in der Bedeutungslosigkeit versank. Das Europa der Könige ist keine soziologisch fundierte wissenschaftliche Arbeit, sondern ein mit Schwung und literarischer Finesse geschriebener Schmöker für Liebhaber erzählter Geschichte.
Die grundlegende Erkenntnis besteht für mich darin, dass ich unsere Gegenwart nicht für normal halte. Weiterhin bin ich der Meinung, dass wir Heutigen, mit unseren Hoffnungen, Ängsten und Lebensweisen, den Zukünftigen nicht weniger kurios, abergläubisch und rückständig erscheinen werden, als uns die Aristokraten des Absolutismus. Vermutlich würden auch diese Höflinge aus dem Europa der Könige verwundert über uns lachen.
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Anmerkungen
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Der Titel ist als Hardcover, Taschenbuch und E-Book erhältlich. Ich nenne hier die ISBN des Hardcovers, bzw. der gebundenen Ausgabe.
Titel: Das Europa der Könige – Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts
Autor: Leonhard Horowski
Verlag: Rowohlt
Verlagslink: https://www.rowohlt.de/hardcover/leonhard-horowski-das-fest-der-intriganten.html
ISBN: 3498028359
Großartig, das klingt nach einem Buch genau nach meinem Geschmack und erinnert mich durch die hohe Anekdotendichte entfernt an Jud Süß. Danke für dem Tipp; bei zwei Wochen Zeit am Stück wird’s gelesen.
Gruß, Jana
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Herzlichen Dank, Dein Kommentar hat mich sehr gefreut. Es ist immer schön, wenn sich Bibliomane begegnen und austauschen.
Ich möchte Dir das Lieblingsbuch der Dir sicherlich bekannten Autorin Ildikó von Kürthy empfehlen: „Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ von Friedrich Torberg.
Der Titel ist für schmales Geld auf http://www.buchhai.de erhältlich.
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Den Tipp nehme ich gerne entgegen!
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