Buchvorstellung
Die skandinavische Küche genoss bis vor relativ kurzer Zeit unter Gourmets den gleichen Ruf wie früher die Automobile der Marke Volvo: solide, langweilig und teuer. Die nördlichen Länder waren lange vergleichsweise arm und bedingt durch das kalte Klima und die langen Winter bringt der Boden nicht die Fülle an Früchten und Gemüsen wie in südlicheren Gefilden hervor. Hinzu kam der Einfluss des Protestantismus, der üppige Sinnenfreuden als unmoralisch bewertet. Auch die skandinavische Sterneküche galt als uninspiriert und überteuert. Die Nahrung der ländlichen Bevölkerung bestand traditionell aus Fisch, Kartoffeln, Schweine- und Elchfleisch sowie Molkereiprodukten wie Milch und Käse.
Kein Wunder, dass man die skandinavische Küche selbst in der The Muppet Show mit dem schwedischen Koch veräppelte.
In Das Lagerfeuer Kochbuch schreibt Niklas Ekstedt: „Während der Kochausbildung versuchte man uns einzubläuen, es gäbe keine guten Zutaten aus skandinavischer Erzeugung. Ich schwärmte für italienisches Olivenöl und französische Schmorhähnchen, und als ich mit 21 mein erstes Restaurant eröffnete, setze ich ganz auf die gerade voll im Trend liegende Molekularküche…“.
Dies änderte sich mit Köchen wie Claus Meyer, dem Mitbegründer des legendären dänischen Restaurants Noma, der in seiner Kindheit mit einer Mischung aus Dosen- und Tiefkühlnahrung sowie Fastfood aufgewachsen war. In dem Restaurant, dessen Name aus den dänischen Wörtern „nordisk“ (nordisch) und „mad“ (Essen) hergeleitet war, revolutionierte er mit seinen kreativen Interpretationen die traditionelle nordische Küche. Inspiriert wurden sie von den Rezeptideen eines Überlebenshandbuches der schwedischen Armee. Dort konnte der hungrige Landser nachlesen, wie man sich im Krieg von saisonalen Naturprodukten ernähren kann. Natürlich ist es hilfreich, wenn man im Zweifel ein Sturmgewehr und nicht nur ein Küchenmesser in der Hand hält, sofern man einen Elchbullen in Koteletts verwandeln möchte …
Nur wenig später begann der Erfolg von Magnus Nilsson, der in seinem nordschwedischen Restaurant Fäviken ebenfalls saisonale skandinavische Lebensmittel, teils selbst gejagt und geangelt, in Köstlichkeiten verzauberte. Klingt für manche Ohren vielleicht erst einmal langweilig, aber Wildforellenrogen in einer Kruste aus getrocknetem Schweineblut soll ein ungeahnter Genuss sein. Außen süß und knusprig wie angebratene Blutwurst, süß und im Inneren die salzigen, weichen Fischeier…
Nach der Veröffentlichung des gleichnamigen Kochbuchs Fäviken wollte Magnus Nilsson wissen, „was die nordische Küche eigentlich ist, welche Kulturen dahinterstehen und ineinander übergehen.“ Zu diesem Zwecke bereiste er drei Jahre lang die skandinavischen Länder, um Rezepte zu sammeln und zu fotografieren. Ein Mammut-Projekt, denn immerhin handelt es sich um eine Region, die mit Schweden, Dänemark, Finnland, Island, Grönland und den Färöer-Inseln, 3,4 Millionen Quadratkilometer umfasst. Das Ergebnis dieser Expedition ist zu einem Buch mit 700 Rezepten auf knapp 770 Seiten geworden.
Bei diesem himmelblauen Wälzer handelt es sich nicht um ein normales Kochbuch, sondern eher um eine teilnehmende ethnologische Beobachtung. Eine in sich abgeschlossene reine skandinavische Küche gibt es eigentlich nicht, da die nordischen Länder nicht bis vor kurzem isoliert im Nordatlantik lagen. So kam die Kohlroulade ursprünglich nach dem Krieg mit dem Osmanischen Reich um 1650 nach Schweden. Weinblätter gab es nicht, so nahm man Weißkohl. Der Hammel wurde durch Schweinefleisch ersetzt.
Im Gegensatz zu einem normalen Kochbuch, welches eine nachkochbare Darstellung der Wünsche und Gedanken des Kochs darstellt, beinhaltet dieses Buch vor allem auch die Erzählungen der Menschen, die Nilsson auf seinem Weg durch die skandinavischen Küchen antraf.
Abb.: Magnus Nilsson fand die NORDIC-Rezepte beispielsweise in einer Landküche in Nordschweden. © Magnus Nilsson
Magnus Nilsson versuchte hierbei seine eigene Meinung zurückzuhalten, da sie in diesem Kontext nicht ausschlaggebend war. Das Buch sollte nicht nur das Standardwerk zum Thema, sondern alle sechs Jahre aktualisiert und somit eine konstante Erzählung werden. Spannend wird es dabei sein, zu verfolgen, wie sich die Leibspeisen der Skandinavier weiter verändern. So ist jetzt das meistgesuchte herzhafte Rezept der Schweden eine Taco-Quiche…
In der aktuellen Ausgabe präsentiert sich die ungeheure Vielfalt in den gängigen Produktgruppen von Eiern, über Milchprodukte, Gemüse und Hülsenfrüchte, Süß- und Salzwasserfische, Geflügel, Wild, Schwein, Rind und Kalb, Lamm und Hammel, Hackfleisch und Haschees, Blut und Innereien, Wurst und Schinken, Körner und Samen, Brot und herzhaftem Gebäck, Feingebäck, Plätzchen und Süßigkeiten, Kuchen und Torten, Nachspeisen, Grundrezepten, Marmelade, Sirup und Fruchtsuppen zu Getränken. Am Ende findet sich noch ein nützliches Glossar mit Bezugsquellen.
Da sich die nordische Landbevölkerung in den früheren mageren Zeiten regelmäßig von Nahrungsmittelknappheit bedroht sah, schöpfte sie aus blanker Not alle kulinarischen Möglichkeiten aus, lokal vorkommende Tiere und Pflanzen in Lebensmittel zu verwandeln. Heutzutage, wo es eher einen Überfluss an genormten Produkten der modernen Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie gibt, hat sich diese traditionelle Kochkultur zur Inspirationsquelle für die moderne Spitzengastronomie entwickelt. Um die Perioden von Saison zu Saison kulinarisch zu überbrücken, werden bei der Zubereitung der Speisen oftmals frische Zutaten mit konservierten Lebensmitteln kombiniert.
Wunderbar archaische Rezepte wie gekochte Seehund-Innereien mit Seehundspeck und Krähenbeeren aus Grönland, samisches Rentierherz oder isländischer verrotteter Hai finden sich zwar auch in dem Buch, sind aber die Ausnahme und verständlich als kulturhistorische Archivierung der nordeuropäischen Esskultur. Der allergrößte Teil der Rezepte besteht aus Alltagsrezepten wie Rahmblumenkohl, Hähnchen in Currysauce oder Hering-Kartoffel-Auflauf. Natürlich vor allem auch viele taugliche Fischrezepte, vor allem mit Lachs, der früher ein Arme-Leute-Essen war. Dazwischen immer wieder Inspiration für unerschrockene kulinarische Abenteurer wie „Lammkeule aus dem Erdofen“.
Die benötigten Zutaten sind in den allermeisten Fällen problemlos in einem deutschen Lebensmittelmarkt erhältlich. Zwar gibt es nicht zu jedem Rezept ein Foto, aber dafür einen einleitenden Text, in dem Magnus Nilsson die Geschichte, Zubereitung und den Geist der Speisen erklärt. Hin- und wieder fallen Übersetzungsfehler auf wie bei dem norwegischen Nationalgericht Fårikål (S. 347), Schaf mit Kohl. Es wird nicht mit Grünkohl, sondern mit Weißkohl zubereitet. Bei der schieren Masse an übersetzen Informationen kann eine erste Auflage auch nicht makellos sein.
Mein Fazit: Ein hervorragend gestaltetes, detailversessen recherchiertes und mit wunderbaren Fotos illustriertes Standardwerk, welches alle Facetten des Nordens abbildet und dabei Alltagstauglichkeit mit Schmökerqualitäten verbindet.
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Anmerkungen
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Titel: Nordic – Das Kochbuch
Verlag: Phaidon by Edel
Autor: Magnus Nilsson
Verlagslink: http://www.edel.com/de/buch/release/magnus-nilsson/nordic/ & https://www.prego-shop.de/magnus-nilsson-nordic-kochbuch
Buchtrailer: https://www.youtube.com/watch?v=vQ9rsSv4B_A
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Leseproben aus dem Buch:
https://krautjunker.com/2016/09/23/islaendischer-verrotteter-hai-kaestur-hakarl/
https://krautjunker.com/2016/11/07/nordic-pilze/
https://krautjunker.com/2017/06/19/frikadellen-a-la-kapitaen-lindstroem/
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