von Norbert Happ
Leben mehrere Sauen in einer Gemeinschaft zusammen, spricht man von einer Rotte, bei größeren Zusammenschlüssen von Familienverbänden oder Sippen. Nach H. MEYNHARDT (2013) sind die Mitglieder einer Rotte immer miteinander verwandt, wenn weibliche Stücke zur Rotte gehören, es sich also nicht um reine Männergesellschaften wie Überläufergruppen oder Keilertrupps handelt. P. MUELLER hingegen weist durch eigene telemetrische Untersuchungen und I. KRÜGER aufgrund französischer Studien nach, dass es geschlossene Schwarzwildverbände geben kann, deren Mitglieder keine oder nur weitläufige verwandtschaftliche Beziehungen haben und die trotzdem homogene Gruppen bilden.
Abb,; „Landflucht“ – Sauen in Berlin
Abb.: Mutterorientierte Rotten sind die häufigste und wichtigste Organisationsform; Foto: Hubert Demmel
Schwarzwildrotten sind jedenfalls keine zufällig zusammengewürfelten „Saubanden“, deren Mitglieder außer der leicht zu beobachtenden Mutter-Kind-Beziehung keine weiteren Bindungen untereinander haben und flurplündernd und unstet durch die Lande ziehen, sondern Tiergruppen mit sehr komplexen Beziehungen zueinander und einer ausgeprägten, allerdings großörtlichen Standortbindung, das heißt einem Streifgebiet von etwa 100 bis 1 000 ha. Je älter die führende Bache, also die Leitbache, desto kleiner ist das Streifgebiet einer Rotte, wenn die Lebensraumausstattung es zulässt.
Abb.: In einer Großstadt Polens haben sich zwei Frischlinge in einem Spielplatzzaun verfangen, aber …
Abb.: … niemand wird im Stich gelassen: Der Familienverband bewacht beide und „holt“ sie „ab“; Fotos aus Polen: Archiv
In Habitaten, in denen fraßarmer Nadelwald in der Nachbarschat zu großflächig bewirtschafteten Feldfluren liegt, können Sommer- und Wintereinstände der Sauen weit auseinanderliegen und vor allem die Kopfstärke einer Schwarzwildgruppierung beeinflussen. Auf jeden Fall bildet das Sozialsystem ein Schutzschild für seine Mitglieder und dieselben Lebenschancen für die Jungtiere. Prädatoren erbeuten fast ausschließlich Jungtiere (MÜLLER, 2009), kranke oder ganz alte Stücke, die der Familienflucht nicht folgen können, und jagen erwachsene, gesunde Stücke erst gar nicht an. Ein Zusammenschluss zu großen Verbänden findet statt, wenn Prädatoren wie der Wolf auftreten. Wir kennen das vor allem beim Rotwild. Beim Schwarzwild ist eine „Landflucht“ in menschliche Siedlungsräume zu erwarten.
Überläuferkeilerrotten mit oft sehr unterschiedlich starken Mitgliedern führen zu dem Schluss, dass diese aus unterschiedlichen Familien stammen. Nach K. POHLMEYER (2006, schriftl.) ist das aber nicht der Fall, sondern eher auf in manchen Familien zeitversetzte Frischtermine zurückzuführen. In intakten Beständen ist Letzteres aber eher selten.
UNTERSCHIEDLICHE FRISCHLINGSENTWICKLUNG
Die individuelle Körperentwicklung auch bei gleichaltrigen Frischlingen kann sehr unterschiedlich verlaufen, wie ich bei von mir markierten Sauen in meiner Kontaktrotte hin und wieder beobachtet habe. Bei der Pirsch auf eine Rotte mit starken Jungtieren traf ich einmal zwei geringe Stücke mit je 15 kg Gewicht an, die ich a tempo erlegen konnte. Sie waren nach Zahnbefund etwa 13 Monate alt, also Überläufer. Ihre gleichaltrigen Geschwister waren erheblich stärker. Die beiden Stücke waren gesund und in einem guten körperlichen Zustand.
Ein von einem Drückjagdteilnehmer nahe meines Wohnsitzes erlegter Frischling brachte es auf 60 kg Gewicht.
Abb.: Familie bedeutet Heimat; Foto: Bettina Diercks
ROTTEN SIND FAMILIENVERBÄNDE
MEYNHARDT hat uns den Familienaufbau des Schwarzwildes anschaulich plausibel gemacht. Er schreibt in seinem Schwarzwildreport (1978/2013): „Alle angetroffenen Rotten Sauen sind Familienverbände!“ In seiner Schwarzwildbibliothek (1989) führt er aus: „Der Aufbau eines Familienverbandes kann von einer einzelnen Bache oder von einem geschlossenen Wurf weiblicher Stücke ausgehen. Eine Bache, deren letzter Wurf und verbliebene weibliche Stücke des vorletzten Wurfes bilden eine Familiengruppe. Bleiben mehrere Bachen, meist Geschwister, mit ihren Frischlingen des letzten und den Überläuferbachen des vorletzten Wurfes zusammen, bezeichnet man sie als Rotte.“ Von dieser Grundstruktur gibt es allerdings einige Varianten.
Abb.: Gegenseitige Körperpflege ist ein wichtiges Bindeglied in der Rotte; Foto: Bettina Diercks
FLUKTUATIONEN INNERHALB DER ROTTE
Nicht alle weiblichen Nachkommen verbleiben in der Familie; einzelne oder mehrere verlassen mitunter mit ihren Nachkommen den Verband und bilden eigene Rotten. Jagdliche und sonstige Abgänge, z. B. durch den Straßenverkehr, vermindern die Kopfzahl aller Gruppierungen und können nach neueren Erkenntnissen (MÜLLER, 2009) auch dazu führen, dass sich einander fremde Kleinrotten zu einem neuen Verband zusammenschließen. Das dient sicher sowohl der Vielgestaltigkeit (Heteromorphie) der Art als auch der Resistenz gegen Krankheiten. Wollen sich einzelne Sauen einer fremden Rotte anschließen, werden sie abgeschlagen. Das habe ich wiederholt beobachtet, allerdings nur an Ablenkfütterungen, wo absolute Territorialität herrscht. MEYNHARDT schreibt dazu: „In all den Jahren meiner Beobachtungen ist es nie vorgekommen, dass ein fremdes Stück Mitglied dieser (beschriebenen) Rotte werden durfte.“ Dem jedoch stehen die vorzitierten Untersuchungen von P. Müller und I. Krüger entgegen.
Der Familienverband besteht nach H. MEYNHARDT immer aus weiblichen Stücken mehrerer, mindestens zweier Generationen mit ihrem Nachwuchs und männlichen Jungtieren bis zu deren Ausscheiden. Die Entstehung von Familienverbänden hängt vorrangig mit der Stärke und Art der Bejagung zusammen und wird maßgeblich gefördert, wenn der Eingriff sich weitestgehend auf die Jugendklasse erstreckt, was dem natürlichen Zustand einer Schwarzwildpopulation mit Prädatorendruck nahekommt.
ROTTENTEILUNG
Ein Familienverband teilt sich, wenn der Lebensraum – das Streifgebiet – die ausreichende Ernährung des Verbandes nicht mehr gewährleistet. Sicher teilt sich die Familie eher, als dass sie versucht, ihr Streifgebiet auszudehnen, denn Sauen sind standorttreu, wenn die natürliche Raumausstattung das erlaubt. Es gibt keine gesicherten Beobachtungen, wie und wo abgespaltene Gruppen neue Streifgebiete besetzen.
DER AUSZUG DER ÜBERLÄUFERKEILER
Überläuferkeiler werden mit 15 bis 18 Monaten aus der Mutterfamilie vertrieben, mitunter dauert dieser Prozess wochenlang. Am „Herausekeln“ beteiligen sich alle weiblichen Stücke der Rotte. Sicherlich hing das bis in jüngere Zeit mit dem Erreichen ihrer Geschlechtsreife und der natürlichen Verhinderung von In- oder Inzestzucht zusammen. Diesem „Sozialprozess“, der Ausmusterung der Überläuferkeiler, habe ich viele Jahre in meiner Kontaktrotte beigewohnt. (KRAUTJUNKER-Kommentar: Dieses Kapitel geht im Buch weiter.)
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AUFGEPASST
Rotten, die nur aus einer Bache mit ihren aktuellen Frischlingen bestehen, kommen häufig vor, insbesondere in Gebieten mit wenigen alten Bachen, also Führungspersönlichkeiten. Nach meiner Einschätzung sind sie aber auch typisch für fraßärmere Regionen, in denen die in einem durchschnittlichen Streifgebiet verfügbare Nahrung nicht für einen größeren Verband ausreicht.
Abb.: Vom Verfasser markierte Sauen; Foto von Norbert Happ
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Anmerkungen
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Titel: Hege und Bejagung des Schwarzwildes
Autor: Norbert Happ
Verlag: Franckh-Kosmos Verlag
Verlagslink: https://www.kosmos.de/buecher/ratgeber/jagd/jagdpraxis-hege/9026/hege-und-bejagung-des-schwarzwildes
ISBN: 978-3440154113
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Website des Autors: https://norberthapp.de/
Deutsches Jagd Lexikon über den Autor: http://deutsches-jagd-lexikon.de/index.php?title=Happ,_Norbert
Zeitungsartikel über Autor: http://www.general-anzeiger-bonn.de/region/vorgebirge-voreifel/wachtberg/Schwarzwildexperte-Norbert-Happ-kl%C3%A4rte-auf-article908279.html
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Nachtrag vom 26. Juli 2018:
https://www.jaegermagazin.de/jagd-aktuell/news-fuer-jaeger/sauen-legende-norbert-happ-verstorben/
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