von Christian Carl Willinger

Des Todes Verleugnung
Wir leben in einer Gesellschaft, die den Tod völlig aus ihrem Alltag ausklammert und verdrängt. Gestorben wird anonym in Krankenhäusern, in Altersheimen und virtuell im Fernsehen oder in Computerspielen.
Noch zur Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts war es zumindest auf dem Lande üblich, daß man zu Hause starb. Schon die Kinder erlebten mit, wie ihre Urgroßeltern starben, später dann die Großeltern und mancher Verwandte, schließlich die Eltern, und man hat sie am Sterbebett auf ihrem letzten Weg begleitet. Für beide Seiten war dieses in gewissem Sinne öffentliche Sterben eine unendliche Bereicherung: für den Sterbenden gibt es nichts Humaneres, als im Kreise seiner Liebsten zu scheiden. Hier offenbart sich wahre Menschlichkeit, hier siegt die Liebe über den Tod, hier auch zeigt sich die Kontinuität des Lebendigen, der irdische Teil der Unsterblichkeit. Und umgekehrt offenbart sich schon dem Kinde die ganze Wahrheit des Lebens: daß es nämlich ein unerbittliches Schlußwort gibt, das keinen Widerspruch duldet und mit dem man sich arrangieren muß. Diese Erkenntnis führt heraus aus infantilen Befindlichkeiten und hin zum reifen Menschen.
Das natürliche Verhältnis zum Tod und zum Sterben ist der modernen Gesellschaft abhanden gekommen, was sich auch in ihrer emotionalen Infantilität manifestiert. In der Spaßgesellschaft ist für Leid und Tod kein Platz. Wenn dann plötzlich ein Bekannter, ein Verwandter nicht mehr unter uns weilt, ist man schockiert und für einige Zeit vielleicht sogar irritiert und verstört, doch rasch geht man zum Alltag über und verdrängt die unangenehmen Gedanken. Erst wenn Partner, Eltern, Kinder sterben, bleibt eine Wunde zurück, die lange nicht heilt. Doch es ist allein der Verlust, mit dem man zu kämpfen hat, dem Akt des Sterbens beizuwohnen bleibt den meisten erspart. Das jedoch ist der zentrale Punkt: um das Sterben in seiner ganzen Tragik, aber auch in all seiner Natürlichkeit zu erfassen, muß man ihm beiwohnen, muß man den Sterbenden mit eigener Hand hinübergeleitet haben, und dann muß man mit der ungeheuren Erschütterung, welche dieses Erlebnis zurückläßt, auch fertig werden.
Bei diesem Verarbeitungsprozeß kommt der religiösen oder philosophischen Reflexion eine große Bedeutung zu, in deren Verlauf die Erkenntnis reifen muß, daß Sterben und Tod nicht ein unerträgliches Ende, sondern eine erlösende Vollendung sind. Wer es unerträglich findet, daß Lebewesen unseretwegen sterben müssen, ob zur Ernährung oder Bekleidung oder gar des Vergnügens wegen, der hat die Bedeutung des Todes weder emotional noch rational erfaßt.
Die meisten Kulturen haben den Umgang mit dem Sterben und mit dem Tod ritualisiert, um das Ungeheuerliche faßbar und erträglich zu machen. Dabei kommt den Religionen eine besondere Bedeutung zu. Im abendländischen Kulturkreis zählen zu diesen Ritualen das würdevolle Sterben im Kreise der Familie, die Sterbesakramente, die Aufbahrung, das gemeinschaftliche Beten, das Begräbnis sowie das Totengedenken zu Allerheiligen und am jährlichen Sterbetag.
Ein weiteres Ritual ist das Totenopfer, welches in vielen Kulturen üblich war und ist. Eng damit verwandt ist das ritualisierte Töten, zu dem im erweiterten Sinn auch das jagdliche Töten zu zählen ist und welches in Form der Tauromachie eine spezifisch mediterrane Ausformung erfahren hat.
Das Sterben, der Tod und das Töten stellen also einen Themenkomplex dar, der für die Menschheit eine zeitlose intellektuelle Herausforderung darstellt. Wer das Sterben verdrängt und das Töten ablehnt, zelebriert eine Form der Realitätsverweigerung, wie sie infantiler kaum sein könnte. Denn der Tod ist allem höheren Leben inhärent, und tierisches Leben kann nur auf Kosten anderen Lebens existieren. Wer sich moralisch besser fühlt, wenn er auf bewußtes Töten fühlender Wesen verzichtet, soll dies tun. Aber er soll nicht anderen vorschreiben, daß sie ebenso zu empfinden und zu handeln hätten. Das nämlich ist die Crux an jeder Form von Moralismus, daß man die ganze Welt „in guter Absicht“ unter sein Joch zwingen will, koste es, was es wolle.

Sanguinis mysterium
Blut ist ein ganz besonderer Saft, läßt uns Goethe im Faust wissen. Worin jedoch besteht diese Besonderheit?
Zunächst einmal galt Blut in vielen Kulturen als der Sitz der Seele, nicht nur im Vetus Testamentum, wo es heißt: Anima carnis in sanguine est – die Seele allen Fleisches ist im Blut (Lev. 17, 11), denn ganz offensichtlich entweicht beim simplen Verbluten von Mensch und Tier die Essenz des Lebens aus dem Körper. Das jedenfalls konnten schon unsere ersten der Reflexion fähigen Vorläufer feststellen. Als der Mensch schließlich eine Seelenvorstellung entwickelt hatte, mußte es ihm erscheinen, als verließe den Körper mit dem Blut auch die Seele.
Deshalb auch das Schächtungsgebot bei Juden und Muslimen, um die fremde Seele freizusetzen und zu Gott zurückzuführen. In anderen Kulturen hingegen dient gerade das rituelle Bluttrinken dazu, die fremde Seele und mit ihr die erstrebenswerten Eigenschaften der getöteten Kreatur in sich aufzunehmen. Auch der christliche Priester, der den verwandelten Wein als Blut Christi trinkt, nimmt symbolisch die Seele des Gekreuzigten in sich auf. Selbst dem Ekel, welchen viele heutige Menschen vor Blut empfinden, liegt abgesehen von infektiologischen Aspekten diese Idee vom Lebenssaft als Sitz der Seele zugrunde: das extrakorporale Blut wird assoziiert mit Krankheit, Leiden, Tod und Ende.
So obliegt dem Blute eine ungeheure Faszination, die teils abstoßender, teils anziehender, fast immer aber sakraler Natur ist. Das Blut ist somit vielleicht das älteste und mächtigste Symbol für das Leben und zugleich für den Tod, das wir kennen.
Und in dieser doppelten Symbolik liegt wohl das eigentliche Mysterium des Blutes, dessen Anblick uns erschüttern soll, um sich der Tatsache bewußt zu werden, daß das Leben zugleich eine Tragödie als auch eine Komödie ist, und zwar ausnahmslos für alle und jeden. Denn jeder kennt Krankheit, Leid und Tod, und jeder kennt auch Freude, Lust und Ekstase. Dies gilt es zu akzeptieren und uneingeschränkt zu bejahen.
Und hier kommen wir zurück zur Jagd und zur Tauromachie, denn beide bergen diese Bejahung in sich. Wenn der schottische Stalker am jungen Jäger das First Blood zelebriert, wenn man den Bruch mit Schweiß benetzt, wenn man die frische Wildleber kurzgebraten serviert, wenn das Blut des Stieres in Strömen fließt und sein süßlicher Geruch in der glühenden Hitze des andalusischen Nachmittags emporsteigt, so sind all diese Momente zutiefst durchdrungen von jenem Mysterium des Blutes, das diesen Ritualen erst einen tieferen Sinn gibt.
Und gerade deshalb haben wir Heutigen die Symbolik des Blutes dringender nötig denn je, wir Heutigen, die wir in infantiler Befindlichkeit alles Unangenehme aus unserem Leben verbannen, die Naturgesetze nicht wahrhaben wollen und für das terminale Stadium auf Morphium setzen; nötig, damit wir aufwachen und uns als reife Menschen der Realität stellen.
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Die beiden hier abgedruckten Texte sind die ersten beiden Teile des Kapitels ANSICHTEN, EINSICHTEN, APHORISMEN des unten bezeichneten Kulturjagdreisebuches AUF LEBEN UND TOD.
Der Autor hat sie ursprünglich nicht als Essays für das Internet verfasst, was erklärt, dass er Bezug nimmt auf Einführungen aus dem vorangestellten Prolegomena und seine Gedanken in den folgenden Texten weiter ausführt.
Im Anschluss an Sanguinis mysterium behandelt er unter anderem die Grenzen des Veganismus, den Trophäenkult einst und jetzt, die Totenwacht am erlegten Wild et cetera.
Seine Grundhaltung hat er im letzten Satz der Einleitung seines Buches GOOD SPORT & FAIR CHASE in einem Satz zusammengefasst:
»Der Jäger ist weder ein Lustmörder noch ein emotionsfreier Wildregulator, sondern ein sehr sensibler Teilhaber an den ewigen Gesetzmäßigkeiten des Lebens und Sterbens in der belebten Natur.«
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Verlagsinformation über den Autor:
Dr. Christian Carl Willinger, Jahrgang 1962, studierte an der Universität Innsbruck Humanmedizin und bereiste von Jugend an zahlreiche Länder Europas, Afrikas und Asiens, seit 1990 vor allem mit der Büchse oder im Sattel.
Schon früh begann er seine Eindrücke aufzuzeichnen und durch vielfältige Lektüre zu vertiefen. Seine Interessen sind geprägt von Dualismen: Natur und Kultur, Askese und Genuß, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

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Anmerkungen
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Titel: Auf Leben und Tod: Ein Kulturjagdreisebuch
Autor: Christian Carl Willinger
Verlag: CCW-Verlag
ISBN: 978-3200059221
Fotos des Blogbeitrages: Tobias Janzen