Das stille Jahr

von Bertram Graf v. Quadt

Es gibt keinen Lebensbereich, in dem man nicht spürte, dass dieses Jahr anders ist. Ein Virus lähmt das Leben – sagen die einen. Die anderen sagen, dass der politische Umgang damit das Leben lähmte. Beides stimmt aus der Sicht des Autoren. Aber die Ursache ist angesichts der Wirkung letztlich sekundär.

Eigentlich sollte ich längst die Hunde hören. Oder die Treiber. Oder zumindest Schüsse. Wild war noch keines da. Die Waffe liegt ungenutzt auf der Kanzelbrüstung. Seit zwei Stunden bin ich auf diesem Stand, und auch wenn er nicht grade wie der allerbeste aussah: so leer, so still war noch keine Drückjagd, seit Jahren nicht. Und dann fällt mir ein: es ist keine Drückjagd. Und es wird dieses Jahr für mich auch keine Drückjagden geben. Ich bin auf dem Ansitz. Mehr bleibt mir nicht für dieses Jahr. Wir schreiben Anfang November 2020.

Die Freunde und Verwandten, die mich sonst alljährlich einladen, haben alle Jagden abgesagt, oder sie halten sie im kleinsten Rahmen nur  mit Schützen aus der direkten Umgebung ab: „Wir könnten uns ja nicht einmal zum Schüsseltreiben treffen, und logistisch ist das alles eh ein Albtraum. So kann man keine Gesellschaftsjagd machen.“

Und jedes Mal, wenn ich das hörte, hätte ich am liebsten gesagt: „Mir wurscht, ich komm zur Ansprache und fahre nach der Strecke wieder, egal ob ich dafür acht Stunden im Auto sitze!“ So sehr fehlen mir diese Jagden: der Hals der Hunde, die hallenden Schüsse, die verhaltenen Treiberrufe. So sehr fehlt mir dieses ungewisse Gefühl der Gewissheit: Jetzt kommt was! Fehlt mir dieses heiße Schauern, wenn das Wild sichtbar wird, in Sekundenbruchteilen sauber angesprochen und sauber erlegt sein will, fehlt mir diese Verdichtung eines langen Erlebens in einen einzigen Punkt hinein.

Die Höflichkeit hält mich jedes Mal davon ab, diesen oben zitierten Satz zu sagen. Die Freunde wollen eben nicht einfach nur jagen, sie wollen mit Freunden jagen, gemeinsam jagen. Früher war mir das relativ egal: da war mir Jagd ausschließlich Jagd, und damit hochheilig. Gesellschaftliches Drumherum, vielleicht sogar noch im Smoking und an silberbesteckter, kristallfunkelnder Tafel – das war allenfalls eine Begleiterscheinung, und eine eigentlich verzichtbare. Aber heute, auf meinem Stand hier im Herbstlaub in den Streuobstwiesen am Waldrand, heute fällt mir auf: auch das fehlt mir schmerzlich.

Das Jagen mit Freunden, das Teilen, das Lachen, die Frotzeleien, das Teil sein eines großen Ganzen. Das „Waidmanns Heil!“ nach der Jagd, das selbst gesprochene wie das vom Freund empfangene. Das Mitfreuen, das man erlebt. Das miteinander Sein und Jagen. Das wird es nicht geben in diesem Jahr. Ich könnte im Landesforst mitjagen, aber das will ich nicht. Ich kenne dort kaum jemand. Ich würde allein jagen in einer Gruppe. Ich hätte vielleicht das jagdliche Erlebnis, aber niemanden, mit dem ich die Freude daran unmittelbar danach teilen könnte. Es wäre fade. So bleibt nur der Ansitz. „Nur der Ansitz“. Das klingt überheblich. Das ist es wohl auch. Andere würden sich die Finger lecken, hätten sie denn zumindest den. Ich habe ihn, aber ich hatte auch Jahr um Jahr die Freunde um mich und war mit ihnen. War es auch nur einmal im Jahr, so war ein jedes ein besonderes Mal. Dieses Jahr können wir uns nur schreiben, können uns Bilder schicken. Und oft genug wenn ich die Fotos dann sehe, schmerzen sie mich. Das ist zwar ungehörig, denn ich sollte mich doch mit den Freunden freuen, mit denen ich jetzt eigentlich auf einer dreitägigen Drückjagd wäre, und die nun zu zweit, weil unmittelbar benachbart, auf Damhirsche pirschten. Aber um wieviel lieber wäre ich bei ihnen und teilte mit ihnen. Ich sitze aber hier, weit weg, und fühlte mich abgeschnitten.

Soviel hatten wir geplant für dieses Jahr: Reisen nach nahen und fernen Zielen, um gemeinsam zu jagen. Besuche beim einen, beim nächsten, endlich bei mir. Alles verfiel. Zumindest hatten wir drei engsten Freunde im Sommer für einen lustigen Abend gesehen. Wie wenig ist das, und wie viel gleichzeitig. Wir planen zwar schon eifrig für 2021, aber keiner von uns weiß sicher, ob nicht diese Planungen auch verfallen werden. Man muss fast davon ausgehen: hört man auf die Fachleute, die als vernünftig gelten, dann wird frühestens 2022 wieder etwas Normalität herrschen. Wie die dann aussehen wird, ist noch ungewiss.

Ungewiss ist viel geworden: wie das Leben morgen sein wird, wie übermorgen? Ob die Freunde übers Jahr noch leben werden? Viele sind recht alt schon. Ob ein weiterer heißtrockener Sommer weitere Jagden vernichten wird, so wie es dieses Jahr schon geschehen? Ob Jagd in Afrika noch möglich sein wird, ob ich mein Revier in England werde behalten können, ob die Afrikanische Schweinepest die guten Jagden im deutschen Osten befallen wird? Wie oft habe ich guten Freunden, die über die jagfeindlichen Zeitläufte geklagt haben, gesagt: „Gewiss ist: Wir werden weiter jagen. Die Frage ist nur, wie wir jagen werden.“ Heute sehe ich mich selbst mit dieser Feststellung unangenehm konfrontiert.

Für jetzt und hier und heute bleibt mir „nur“ der Ansitz. Da werde ich meine Kraft tanken müssen. Es wird schon gehen, irgendwie. Ich werde meine Kitze schießen, den ein oder anderen Frischling und Überläufer, vielleicht auch einen Fuchs – hier gibt es noch Niederwild. Aber ob mir das Jagen sein wird, erfüllendes, bereicherndes, reiches Jagen? Oder wird es nur Erlegen sein, Aufgabenerfüllung? Was werde ich davon mitnehmen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ein langer, stiller Winter bevorsteht.
Und da fällt mir ein Satz ein, den mir mein Vater gottselig mit auf den Weg gegeben hat:

„Es wächst viel Brot unterm Schnee.“

*

Geständnis des Autors Bertram Graf v. Quadt

Man kann sich gegen schwere erbliche Belastungen nicht wirklich zur Wehr setzen. Damit war die Jagd unausweichlich. Beim Blick in die Generationen gibt es auf weite Sicht keinen männlichen Vorfahr – und nur wenige weibliche – die nicht gejagt hätten. Vater, Mutter, beide Großväter und so weiter und so fort – alles Jäger, und zum Teil hochprofilierte Jäger: der Vater meiner Mutter, Herzog Albrecht v. Bayern, hat die bedeutendste Monographie des 20. Jahrhunderts über Rehwild verfasst („Über Rehe in einem steirischen Gebirsgrevier“) und darin mit viel Unsinn über diese Wildart aufgeräumt. Meine Mutter war an den Forschungen dazu intensiv beteiligt, gemeinsam mit meinem Vater hat sie die Erkenntnisse im gemeinsamen Revier im Allgäu umgesetzt. Nun will und muss aber jeder junge Mensch rebellieren. Ich habe mir dafür aber nicht das jagdliche Erbe ausgesucht, sondern die Schullaufbahn, das nie begonnene Studium, das Ergreifen anrüchiger Berufe (Jurnalist, pfui!) und anderes mehr. Und ich kann im Rückblick sagen: das war die richtige Entscheidung.

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es nicht nur eine Facebook-Gruppe, sondern jetzt auch Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titelbild: Bertram Graf v. Quadt

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Tja, das ist wohl die neue Realität.
    Schön geschrieben, Jagd ist in der Tat mehr als nur Wild erlegen. Glücklicherweise wurde die Elchjagd bei uns nicht beeinträchtigt. Ich muss aber ganz ehrlich sagen das ich die Vogeljagd alleine mit Hund ebenso geniesse wie die ‘soziale’ Elchjagd.
    Alles wird gut zum Schluss ! 😊👍

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