Urphänomen Jagd: Eine allgemeinverständliche Einführung in die Jagdtheorie

Buchvorstellung von Werner Berens

Als Jäger und Fliegenfischer, also als Beutemacher im sozusagen doppelten Sinne liegt mir das Buch von Christian Carl Willinger Urphänomen Jagd vor. In dem anspruchsvollen Werk verspricht der Autor, die folgenden Fragen zu beantworten:

1.Was ist Jagd? 2. Warum jagt der Mensch? 3. Ist Jagd aus moralischer Sicht zu rechtfertigen?

Seine Absicht ist es, in allgemein verständlicher Form u.a. die Forschungen von Günter R. Kühnle zu „übersetzen“, und er bezieht sich in seinen Ausführungen auf Theorien/Hypothesen/Ausführungen einer Reihe bekannter Namen: u. a. Hemingway, Ortega, y Gasset, Kühnle
Willingers Darstellung ist also nicht im „luftleeren Raum“ persönlicher Befindlichkeiten und Einzelansichten zustande gekommen. Und in der Tat, der Text wird in seiner Gedankentiefe und breiten interdisziplinären Bezugnahme dem Anspruch gerecht, eine populärwissenschaftliche Aufbereitung ansonsten schwer verständlicher Spezialforschungen zu sein, was gleichzeitig seine Stärke aber auch seine Schwäche ist.
Doch der Autor macht es dem Leser nicht immer leicht: Z.B. schreibt er von sich selbst in der dritten Person, wenn er erwähnt, dass der Autor dies oder jenes noch explizieren werde. Wer redet da eigentlich über wen? ist die Frage, die sich der Leser stellt. Diese auf den ersten Blick manieriert daherkommende Angehensweise ist vermutlich der Versuch mittels Distanz zwischen dem Erzähler-Ich und dem Autor-Ich dem Eindruck allzu großer Subjektivität des Geschriebenen entgegenzuwirken.

1. Was ist Jagd?

Willinger entwickelt einen umfassenden Jagdbegriff: »Jagd ist allgemein das Streben nach Ressourcensicherung zur Selbst- und Arterhaltung und als solches eine Vitalkategorie, eine Konstante der Evolution«. Das heißt- und er führt es im Buch aus: Jede Lebensform jagt. Der Tiger den Hirsch, der Mensch ebenso und darüber hinaus jagt er nach Glück, Aktien und Gewinn, die Antilope nach frischem Gras und das Coronavirus nach noch nicht Infizierten.
In der Tat ist es so, dass die metaphorische Verwendung des Jagdbegriffs (Jagd nach Anerkennung) in der Alltagssprache nahelegt, dass Jagd weit mehr ist als die Wildtierjagd des Menschen. Willinger unterscheidet dabei zwischen dem naturalen/biotischen Jagdschema und dem kulturellen Jagdschema. Ersteres ist der Beute-Nahrungserwerb, der unmittelbar dem Überleben dient, allen Lebensformen eigen ist und unseren frühen Vorfahren Entwicklung ermöglichte. Zweiteres ist das kulturell überformte Beutemachen, das sich von den ursprünglichen Zwecken des Nahrungserwerbs entfernt hat, namentlich die Jagd nach Reichtum, Wissen, Anerkennung, Glück, Genuss und eben auch die Wildtierjagd in unserer Zeit, die nicht mehr dem unmittelbar notwendigen Lebensunterhalt dient.
Die Ausführungen dazu im Teil I des Buches sind durchaus lesenswert, weil sie –auch jedem Jäger-ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur und dem eigenen Jägerdasein eine reflexivere Basis ermöglichen.

2. Warum jagt der Mensch ?

Bei der Beantwortung dieser Frage bleibt einiges offen respektive unbewiesen.
Da eine ausführliche Diskussion die Möglichkeiten einer Buchbesprechung überschreiten, erwähne ich hier nur einige Begrifflichkeiten-nebst der Kritik daran.
Das dem Menschen gegebene Bewusstsein des unausweichlichen eigenen Todes erzeuge ein Gefühl der Ohnmacht, die durch positiv empfundene »Allmachtserfahrungen« (z.B. das Jagen und Töten eines Wildtieres ) zeitweilig »kathartisch« aufgelöst werde. Am Begriff der kathartischen Auflösung zeigt sich jedoch eine Schwäche populärwissenschaftlicher Darstellung: Die Theorie hinreichend zu belegen, versäumt der Autor. Wenn dem Laien nicht anhand nachvollziehbarer empirischer Forschung in verständlichen Worten erklärt wird, wieso Jagd eine vorübergehende Suspendierung von eigenen Todesängsten bewirken soll, bleibt es eine Behauptung im Stile freudscher Spekulationswissenschaft, der man glauben kann oder auch nicht.

Jägern gehe es beim Jagen um die Macht über Leben und Tod, nicht des speziellen Stückes, sondern ganz allgemein. Das ist ein durchaus interessanter Gedanke, der eine Analogie nahelegt: Jäger sind keine Tierschützer, sondern Artenschützer. Sie haben im Gegensatz zum Tierschützer nicht das einzelne Individuum im Blick, sondern die Art. Im Gedankengang Willingers entspricht dies nicht der Macht über Leben und Tod des einzelnen Stückes, sondern der Macht über Leben und Tod an sich. Die erwähnte Analogie ist noch nachvollziehbar, Willingers Annahme jedoch nicht ohne weiteres, weshalb an dieser Stelle mindestens eine explizitere, empirisch fundierte Beweisführung hilfreicher wäre als die folgenden Hinweise:
Willinger bezeichnet es als emotionales Jagdparadox, dass der Jäger das Wild liebt und achtet-und es dennoch tötet, »weil es nicht das konkrete Leben des Wildes ist, auf welches der Jäger abzielt, sondern Leben und Tod als Naturphänomen, für welches das Leben des Wildes symbolhaft steht« Jagd sei eine Möglichkeit-neben vielen anderen- (z.B. Sport, Wettkampf) »die Omnipräsenz des eigenen Todes« vorübergehend zu auszublenden. Der »Kick“, der »Machtrausch«, den der Jäger beim Töten der Beute empfinde, sei keine »Lust« durch das Töten, keine Lust am Töten, sondern die temporäre Auflösung dahinter liegender Todesängste.

Wichtig wäre – und hätte er es nur ausführlicher und prägnanter dargestellt – ist, dass Jäger nicht Freude AM Töten haben, sondern dass der Tod der Beute bei der Jagd unvermeidliche Begleiterscheinung ist als Akt der Inbesitznahme. Der Tod ist im Übrigen nicht zwingend erforderlich beim Beutemachen. Als Fliegenfischer empfinde ich keinen Unterschied in Quantität oder Qualität des Kicks, wenn ich die Forelle töte oder sie wieder schwimmen lasse. Der entscheidende Punkt ist die Möglichkeit der Inbesitznahme. Auch hier scheint das Machtmotiv, der Machtgewinn auf.

Macht über etwas oder jemanden gewinnen zu wollen, ist durchgängiges Prinzip menschlichen Strebens und als solches nicht zu verurteilen. (Der Autor erwähnt zu Recht, dass die Verwendung der Begriffe Lust und Kick die moralisierende Abwertung fördert und Freude die bessere Bezeichnung wäre).

3.Ist Jagd aus moralischer Sicht zu rechtfertigen?

Ja das sei sie, wie der Autor ausführt. Und er führt dazu aus, dass Töten »für die Existenz von Leben unvermeidlich ist«, dass moralische Standards historisch bedingt sind, aber absichtliches Töten durch Menschen als moralfähige Wesen der vernünftigen Begründung bedürfe. So weit, so gut, so richtig.
Auf recht dünnes Eis begibt sich der Autor jedoch mit folgender Ansicht: »Nachdem alle Lebewesen ohnehin sterben müssen, handelt es sich beim Töten von Tieren nur um eine lebensverkürzende Maßnahme«.
Die folgende Argumentation jedoch ist durchaus schlüssig. Alles, was der Mensch –»ein Prädator wie jeder andere«tue, zähle zu seiner Natur, seine Moralfähigkeit und auch gerade seine Kulturfähigkeit. Jagd als »kulturelles Phänomen« sei Teil der menschlichen Natur und deshalb ebenso schutzwürdig wie der Schutz anderer Bereiche der Natur.
Die von Jägern und insbesondere von Jägerorganisationen gern ins Feld geführten funktionalen Gründe für Jagd, als da sind Habitatschutz, Artenschutz etc. seien zur Begründung innerhalb der Gesellschaft unverzichtbar, aber letztlich Argumente zweiter Ordnung. Jagd sei ein »kultureller Elementartrieb«, der aus sich heraus legitim sei.

Im Kapitel Moral und Weidgerechtigkeit setzt der Autor sich mit ( moralischer)Entscheidungsfähigkeit und den Implikationen menschlicher Willensentscheidungen auseinander. Dass unterschiedliche Menschen aufgrund unterschiedlicher Gene, Sozialisationserfahrungen und Lebensumstände zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen, ist eine Binse, die nicht der expliziten Begründung bedarf. Der aufmerksame, mitdenkende Leser wird daraus ohnehin den Schluss ziehen müssen, dass der sogenannte freie Wille eine Fiktion ist. Doch bei der Ausführlichkeit, mit der er menschliche Willensentscheidungen auf der Grundlage deterministischer Thesen der entsprechenden philosophischen Fachrichtung und der Hirnforschung expliziert, fragt man sich, wozu dieser allzu umfangreiche Exkurs nötig ist.

Richtig und wichtig ist allerdings die  Feststellung, dass jeder Lebensentwurf, sofern er sich im Rahmen der menschlichen Gesetze befindet, einen Anspruch auf Toleranz durch Andershandelnde und- denkende hat. So wie der Jäger Ansichten und gesetzeskonforme Handlungsweisen von Tierrechtlern zu respektieren hat, so haben diese das im Umkehrfalle mit Jägern zu halten, denn Jäger wird man nicht aufgrund spezieller genetischer Dispositionen oder wegen einer Freude am Töten. Jäger/Jägerin wird man im Zusammenspiel aller persönlichen genetischen, sozialen, familiären, historischen und gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren eben so, wie der oder die andere Rennfahrer, Bergsteiger, Sportler oder Literat wird- eine Ansicht, die moralisierenden Tierrechtlern nicht gefallen wird.
Der Autor hat präzise (konservative) Vorstellungen von Weidgerechtigkeit. Sie entsprechen weitgehend dem derzeitigen Konsens und der geübten Praxis.

Das Buch mündet in einer Jagdtheorie.

»Jagd ist allgemein das Streben nach Ressourcensicherung zur Selbst- und Arterhaltung und als solches eine Vitalkategorie, eine Konstante der Evolution.«

»Menschliche Wildtierjagd ist Ausdruck eines universellen kulturellen Elementartriebes im Schnittpunkt von Natur und Kultur und hat, ohne dass dies dem Jäger bewusst ist, eine psychohygienische Funktion im Rahmen der Bewältigung des Todesbewusstseins.«

»Der Jäger muss sich zur eigenen Natur bekennen, die hinter dem Emotionalen Jagdparadox steckt und darf in einer offenen Gesellschaft gegenüber seiner Lebensform Toleranz einfordern und erwarten, sofern er sein jagen sozial- und umweltverträglich ausrichtet.«

Quintessenz

Die Rezension einer Einführung in die Jagdtheorie müsste, wenn sie allen Aspekten und Verästelungen der erwähnten Thematik gerecht werden wollte, mindestens ebenso lang sein wie das zugrundeliegende Werk. Man wird daher dieser Buchbesprechung den Vorwurf machen können, dass sie durchaus interessante Gedanken des Autors unter den Tisch fallen lässt. Doch mehr ist im Zusammenhang einer Buchbesprechung nicht möglich. Die entscheidende Frage lautet, ob es sich lohnt, das Buch zu lesen oder eher nicht- oder anders, welche Erwartungen das Buch erfüllen kann.
Der nachdenklichen Jägerin und dem nachdenklichen Jäger, die ihr Handeln reflektieren, die stets bestrebt sind, ihren Horizont zu erweitern, ist das Buch eine durchaus empfehlenswerte Handreichung-trotz der oben erwähnten Kritikpunkte. Es ist ein Buch für Jäger, Jägerinnen und für die, die unvoreingenommen immer schon einmal wissen wollten, warum Jäger so ticken, wie sie ticken.
Die der Jagd skeptisch und/oder feindlich gegenüber Stehenden werden unterscheiden zwischen „moralisch verwerflicher“ Wildtierjagd und der Jagd nach z.B. Anerkennung und Medaillen und nicht bereit sein beide Jagdformen als Teilaspekte eines gemeinsamen Ganzen zu sehen. Die Hoffnung des Autors, dass man die Jagd als »Ausdruck eines kulturanthropologischen Persönlichkeitsmerkmals begreife«, wird sich –so fürchte ich- nicht erfüllen, da vor allem die tierliebende Generation Snowflake in ihrer Empfindsamkeit weit davon entfernt ist, die Gemeinsamkeiten bei der Jagd nach Klicks bei Facebook und der Jagd auf Bambi verstehen zu wollen.

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Verlagsinformation über den Autor:

Abb.: Christian Carl Willinger

Dr. Christian Carl Willinger, Jahrgang 1962, studierte an der Universität Innsbruck Humanmedizin und bereiste von Jugend an zahlreiche Länder Europas, Afrikas und Asiens, seit 1990 vor allem mit der Büchse oder im Sattel.
Schon früh begann er seine Eindrücke aufzuzeichnen und durch vielfältige Lektüre zu vertiefen. Seine Interessen sind geprägt von Dualismen: Natur und Kultur, Askese und Genuß, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

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Werner Berens

Werner Berens ist Fliegenfischer, Jäger, Autor und Genussmensch, der den erwähnten Tätigkeiten soweit als möglich die lustvollen Momente abzugewinnen versucht, ohne aufgrund kulinarisch attraktiver Beute übermäßig in die falsche Richtung zu wachsen. Als Leser und Schreiber ist er ein Freund fein ziselierter Wortarbeit mit Identifikationssmöglichkeit und Feind von Ingenieurstexten, die sich lesen wie Beipackzettel für Kopfschmerztabletten. Altermäßig reitet er dem Sonnenuntergang am Horizont entgegen und schreibt nur noch gelegentlich Beiträge für das Magazin FliegenFischen.Hier findet Ihr Werner Berens‘ Bücher auf Amazon!

Hier findet Ihr ihn auf Facebook!

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Urphänomen Jagd: Eine allgemeinverständliche Einführung in die Jagdtheorie

Autor: Christian Carl Willinger

Verlag: CCW-Verlag

ISBN: 978-3200074040

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Christian Carl Willinger sagt:

    In wissenschaftlichen und wissenschaftsnahen Publikationen ist es üblicher Standard, daß die Person des Autors in den Hintergrund tritt und die Ich-Form vermieden wird. Das gilt auch für Sekundärliteratur. Werner Berens nimmt zurecht an, daß es darum geht, Objektivität und Distanz zu signalisieren.
    „Urphänomen Jagd“ ist eine solche Sekundärliteratur, das bedeutet, der allergrößte Teil der Ausführungen beruht auf den wissenschaftlichen Arbeiten und Ideen anderer, hier im Konkreten vor allem des Trios Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Paul Müller, Prof. Dr. Lutz Eckensberger und Dr. Günter Kühnle, dessen Arbeit „Die Jagd als Mechanismus der biotischen und kulturellen Evolution des Menschen“ (Universität Trier 2003) im Internet abrufbar ist (http://ub-dok.uni-trier.de/diss/diss45/20030120/20030120.htm).

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  2. Werner Berens sagt:

    „Urphänomen Jagd“ ist eine solche Sekundärliteratur, „. …………… ..Das hätte, wenn sie denn eindeutig als solche erkennbar wäre, mir die Irritation bezüglich des Perspektivwechsels erspart,….Die Gepflogenheiten wissenschaftlicher Publikationen sind mir bekannt……. Mir ist nicht klar, wo Sie, Herr Willinger, sozusagen referieren und wo Sie persönlich meinen, behaupten, argumentieren,…….was insgesamt aber inhaltlich nichts ändert, sodass ich diese „Marginalie“ nicht als negativ empfinde.

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