von Rolf D. Baldus
Es ist eine mondlose Nacht am 20. April 2004 in Südtansania. Die 75-jährige Salma wirft sich im Halbschlaf hin und her. Neben ihr liegt ihre jüngere Schwester Asha und schnarcht leise. Die feuchtheiße Hitze in der Regenzeit lässt Salma keinen Schlaf finden. Das ist auch gut so, denn sie liegt auf einem „Dungu“, einer Art Hochsitz aus Stöcken und Stangen, die mit Rindenstreifen zusammengebunden sind, und schlägt sich die Nacht um die Ohren, um Elefanten, Wildschweine und Affen von den Feldern zu vertreiben. Aus der Ferne hört sie das Blasen der Nilpferde im Rufiji.
Abb.: Der Selous ist groß genug, um Löwen auch in Zukunft eine sichere Zuflucht zu bieten.
Angespannt späht Salma nach unten. Das fast drei Meter hohe Riedgras hat geraschelt. Doch das war kein bekanntes Geräusch von einem Elefanten oder Wildschwein. Dann ist wieder Ruhe. Wenn es ein Löwe ist, so denkt sie beruhigt, kann es nicht der Menschenfresser sein, denn der geht seinem furchtbaren Gewerbe südlich des Flusses nach. Jetzt bewegt sich das Riedgras wieder, und dann plötzlich sieht sie einen Schatten mit gewaltigen Sprüngen über das Feld setzen. Sie schreit auf vor Entsetzen, doch da ist der Löwe schon in der Luft, landet auf dem splitternden Holzpodest, packt die alte Frau, und beide fallen zu Boden. Der Löwe fasst sie am Hals, beißt zu. Salma ist tot. Ihre Schwester hält sich verzweifelt an der Plattform fest und schreit aus Leibeskräften. Der Löwe aber springt hoch, erwischt auch Asha und reißt sie nach unten. Rippen und Knochen knirschen — Asha ist ihrer Schwester in den Tod gefolgt.
Der Menschenfresser, dem die meist muslimischen Bauern am Rufiji schaudernd, aber auch mit einem Schuss schwarzem Humor, den Namen „Osama”, des gefürchtetsten aller Terroristen, gegeben haben, hat sich Opfer Nummer 34 und 35 geholt. Hinzu kommen weitere zehn Personen, die schwer verletzt überlebt haben.
Es scheint kein Entkommen vor diesem Löwen zu geben. Nachts schnappt er sich die Leute, wenn sie ihre Hütten kurz für ein dringendes Bedürfnis einmal verlassen. Und wenn sie drinnen bleiben, dann springt er auf das schilfgedeckte Dach, zwängt sich hindurch, schnappt einen der Schlafenden und macht sich auf demselben Weg davon.
Auf einer meiner Patrouillen in der Gegend hören wir nachts einen Löwen und versuchen, ihn in der Dunkelheit anzugehen. Wir laufen nur in ein paar Elefantenherden hinein, die die verlassenen Farmen plündern. Auf einen Löwen treffen wir nicht. Im ersten Licht versuchen wir seine Spur zu finden, aber sogar mein Fährtensucher Saidi, ein ganz erfahrener Elefantenwilderer vom Rovuma, kann die Fährte auf gutem Boden nicht halten. Es ist, als habe sich der Löwe in Luft aufgelöst. Schließlich werde ich von einem Bienenschwarm angegriffen und muss die Jagd aufgeben. „Kein Wunder“, bemerkt ein Wildhüter, „das ist sowieso kein natürlicher Löwe.“
In den Dörfern wird erzählt, dass ein Fischhändler vom Makonde-Stamm Verursacher des ganzen Dramas sei. Er tauchte vor einiger Zeit mit Netzen am Fluss auf. Mit einigen jungen Burschen wurde er handelseinig und lieh ihnen seine Netze aus. Sie würden für ihn fischen und einen Anteil am Fang als Gegenleistung erhalten. Aus dem Geschäft wurde nichts, denn Diebe stahlen alsbald die Netze. „Sie gingen verloren”, sagt man in Afrika. Der Makonde tobte, doch alle Verwünschungen und Drohungen halfen nicht. Die Netze blieben unauffindbar. Der Fremde verschwand schließlich ebenfalls und wurde nie mehr gesehen. Doch vorher hatte er noch angekündigt, er werde seine Helfer schicken, und die Leute am Rufiji sollten den Diebstahl noch bereuen. Kurz darauf, am 31. August 2002, wird ein 40-jähriger erstes Opfer der Löwen. Danach tötet er im Schnitt alle zwei Wochen.
So hatte sich Bernhard Grzimek das wohl nicht vorgestellt, als er 1959 in seinem Bestseller „Serengeti darf nicht sterben” schrieb: „Aber wenn ein Löwe im rötlichen Morgenlicht aus dem Gebüsch tritt und dröhnend brüllt, dann wird Menschen auch in 50 Jahren das Herz weit werden. Ganz gleich, ob diese Menschen dann Bolschewisten oder Demokraten sind, ob sie Russisch, Suaheli oder Deutsch sprechen.” Am Rufiji jedenfalls zog sich fast 50 Jahre später den Suaheli das Herz vor Angst zusammen, wenn sie das Brüllen der Löwen hörten. Über Tierschutz lässt sich leicht reden, wenn man in Frankfurt oder New York wohnt und einen Löwen allenfalls auf einer Fotosafari vom Minibus aus sieht.
Abb.: Löwin
Die zuständige Ministerin setzt Ende 2002 jedenfalls 15 Wildhüter in Marsch, die monatelang versuchen, der Menschenfresserei ein Ende zu machen. Die Wildhüter verbringen ihre Nächte zusammengedrängt in einer Hütte mit starken Wänden und einem stabilen Dach aus Wellblech, anstatt höchst unkomfortabel versteckt auf dem Ansitz und in Bäumen Ausschau zu halten. Die Wildhüter stellen also an Wegen und auf Wechseln eine Vielzahl von Schlingen, was in diesem Fall sogar gesetzlich erlaubt ist. Im Laufe einiger Monate fangen sie auf diese Weise neun Löwen. Aber das Töten geht weiter.
Den Wildhütern wird die Sache zu heiß. Sie befürchten, dass eher sie selbst dem Löwen zum Opfer fallen als umgekehrt, und sie verlegen ihre Aktivitäten deshalb auf das sichere Nordufer des Flusses. Dort gibt es Straßen, und sie können endlich wieder im Geländewagen Patrouillen fahren. Sogar zwei harmlosen Löwen aus dem nahe gelegenen Selous Wildreservat können sie auf diese Weise das Lebenslicht ausblasen. Alles hat seine Ordnung: Die Ministerin verkündet im Parlament, dass die Wildhüter vor Ort im Einsatz sind und Tag und Nacht dem Löwen nachstellen.
Aber wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, dann geht der Berg zum Propheten: Am 7. April 2004 springt der Löwe nach Sonnenuntergang in das Wasser des hier 500 Meter breiten Stroms und schwimmt zu einer Insel, wo er einen Fischer angreift, der aber überlebt, weil ihm zwei Kollegen zu Hilfe kommen. Der Löwe ergreift das Hasenpanier, springt wieder in den Fluss und aus Gründen, die wir nicht kennen, schwimmt er nicht zurück, sondern zum Nordufer. Eine Woche später tötet er eine Frau und verletzt eine weitere vier Tage darauf. Der Tod der beiden Schwestern am folgenden Tag besiegelt jedoch sein Schicksal.
Im Morgengrauen finden die Nachbarn die arme Asha. Sie rufen die Wildhüter aus deren nahe gelegenem Camp herbei. Die Scouts folgen der leicht zu haltenden Löwenspur und finden das wenige, was von der armen Salma übrig geblieben ist. Die Nachricht verbreitet sich schnell. Trommeln werden geschlagen, und bald haben sich 100 Dorfbewohner versammelt mit Vorderladern, Speeren, Äxten und großen Haumessern. Man durchkämmt die Dickichte entlang des Flusses und macht einen ohrenbetäubenden Lärm. Der Löwe erscheint plötzlich unter den Treibern, und ein Bauer verpasst ihm eine Ladung groben Schrots aus seinem alten, verrosteten Püster. Der Löwe flieht und taucht vor den Wildhütern auf, die auf hohen Bäumen Zuflucht gesucht haben, der besseren Sicht wegen, wie sie mir später erklären. Wieder eröffnet man das Feuer, und wie es in solchen Fällen durchaus passieren kann, findet das eine oder andere Geschoss sein Ziel. Der verletzte Löwe flieht erneut. Man folgt ihm, und schließlich haucht Osama sein Leben aus, in einer weiteren Breitseite aus allem, was feuern kann.
Nach kurzer Zeit sind ein paar Hundert Leute am Ort des Geschehens. Der Löwe wird in Stücke gehackt. „Nun essen wir ihn auf“, sagt des Volkes Stimme. Danach herrscht Ruhe. Es dauert einige Zeit, bis der nächste Menschenfresserlöwe wieder auftaucht.
Abb.: Hunderte von Dorfbewohnern kamen zum toten Löwen.
Nachtrag
Dies ist die Geschichte des Menschenfressers Osama. Es gilt aber, ein Postskriptum anzufügen. Osamas Schädel, das einzige, was von ihm übrig geblieben war, ging mir einige Zeit später zu. Eine befreundete Zahnärztin, die aus Deutschland zu Besuch war, machte mich auf einen gebrochenen Zahn aufmerksam. Ich brachte den Schädel deshalb in die skandinavische Zahnklinik in Dar es Salaam, wo man eine ordentliche Patientenakte unter dem Namen „Osama“ anlegte und den Zahn röntgte. Die Diagnose ergab einen gebrochenen Molar und einen Abszess, der bereits den Kieferknochen angegriffen hatte. Der Befund schließt mit den Worten: „Der Löwe muss an schrecklichen Zahnschmerzen gelitten haben.“
Die Frage, ob das die Ursache war, warum die große Katze ihre Ernährung umgestellt hatte, kann ich nicht beantworten. Festzuhalten bleibt, dass Menschenfresserlöwen überdurchschnittlich häufig an Zahnproblemen leiden.
Während ich selbst Osama nachstellte, um ihn in die ewigen Jagdgründe zu befördern, entwickelte ich Zahnschmerzen. Als ich dann nach einiger Zeit meinen Zahnarzt im Heimaturlaub konsultierte, fand dieser einen Molar mit Abszess. Der Zahn war nicht mehr zu retten. Kurz darauf litt meine Frau an ganz ähnlichen Zahnschmerzen, und wieder war ein Backenzahn mit fortgeschrittenem Abszess die Ursache. Der Zahn musste gezogen werden. Mein Vater, damals 93 Jahre alt, musste sogar am zweiten Weihnachtstag zum Zahnarzt, damit er von zwei schmerzenden Backenzähnen befreit werden konnte. Osamas Schädel, den mir die Wildschutzbehörde auf eigenen Wunsch als Abschiedsgeschenk bei meiner Rückkehr nach Deutschland Ende 2005 vermacht hatte, war einige Zeit lang in meinem Elternhaus aufbewahrt worden. Alle meine afrikanischen Freunde und Kollegen waren überzeugt, dass der böse Zauber des alten Makonde immer noch wirksam war und jetzt mich und meine Familie verfolgte.
Die Saga war aber noch nicht zu Ende. Meine 14-jährige Tochter hatte wunderbare weiße und gesunde Zähne. Nur ein Backenzahn hatte sich verspätet. Als er schließlich ans Licht kam, fand der Zahnarzt bei einer Untersuchung alles in Ordnung. Danach entwickelte meine Tochter starke Zahnschmerzen, und derselbe Zahnarzt stellte fest, dass der Molar bereits von innen voller Karies steckte. „Ein sehr seltenes Phänomen“ wunderte sich der Arzt.
Da meine Familie es nun ablehnte, dem Schädel von Osama weiter Hausrecht zu gewähren, verlieh ich ihn an einen Wissenschaftler im Zoologischen Museum Alexander König. Einige Monate später erinnerte mich das Museum an das gute Stück. Ich bat eine Mitarbeiterin, den Karton mit dem Schädel dort doch abzuholen, da sie jeden Morgen am Museum vorbeikam. Am fraglichen Tag erschien sie nicht im Büro. Später rief sie an und meldete sich krank. Sie hätte den ganzen Morgen beim Zahnarzt verbracht … – ein Backenzahn!
Zähne und Klauen
von Benson Kibonde
Menschen gehören zum ganz normalen Beutespektrum des Löwen. Deshalb ist Menschenfresserei schon immer vorgekommen. Löwen haben jedoch gelernt, dass es im Allgemeinen nicht ratsam ist, Menschen zu belästigen.
Abb.: Wäre die Fährte eines Löwen doch immer so einfach zu halten …!
Tansania ist das Land mit der größten Löwenpopulation Afrikas, rund die Hälfte davon lebt außerhalb geschützter Gebiete. Etwa 200 Menschen werden in unserem Land jährlich von wilden Tieren getötet, ein gutes Drittel davon durch Löwen.
Im Selous werden etwa 80 bis 100 Löwen im Jahr geschossen. Das ist nachhaltig und hat den Löwenbestand erwiesenermaßen in keiner Weise nachhaltig beeinflusst, denn die Qualität der Trophäen ist nicht zurückgegangen, wie es bei einer Überjagung zu erwarten wäre. Allerdings trägt die Löwenjagd mit etwa 15 % zu den Jagdeinnahmen des Selous bei. Ein Verbot dieser Bejagung, wie von manchen gefordert, würde der Erhaltung des Selous und damit auch der Zukunft der Löwen schaden.Und zu bedenken ist auch, dass die wunderschöne Kreatur „Löwe“ für die Anwohner des Selous auch eine andere, eine dunkle Seite hat.
Abb.: Rolfs Spurensucher Saidi, ein früherer Elefantenwilderer, auf „Osamas“ Spuren
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Das Buch wurde als „Jagdbuch des Jahres 2011“ von der Zeitschrift Wild und Hund ausgezeichnet.
Anmerkungen
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Titel: Wildes Herz von Afrika
Autor dieses Textes: Dr. Neil Stronach
Titelbild: Gemälde von © Bodo Meier -> http://www.bodo-meier.de/
Fotos: © Spike Williamson -> http://www.intrepidexpeditions.com/spike_about.php
Herausgeber: Dr. Rolf D. Baldus -> http://www.wildlife-baldus.com/selous_buch.html
Verlag: Franckh Kosmos Verlag
Verlagslink: https://www.kosmos.de/buecher/ratgeber/jagd/bildbaende-belletristik/4953/wildes-herz-von-afrika
ISBN: 978-3440127896
Erste Leseproben aus dem Buch:
https://krautjunker.com/2017/07/09/menschenfresser-loewen-tote-die-zurueckkehren/
https://krautjunker.com/2017/08/20/die-jagdwaffen-von-f-c-selous/
https://krautjunker.com/2017/11/11/die-letzte-bastion-der-wildhunde/
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