von Marco Heurich und Karl Friedrich Sinner
Jagdtechnik
Im Gegensatz zu Wölfen, die ihre Beutetiere über größere Strecken hetzen, sind Luchse wie andere Katzen Pirsch- und Lauerjäger, die ihre Beute mit einem gezielten Überraschungsangriff überwältigen. Dadurch können sie Tiere erbeuten, die weit schwerer sind als sie selbst. Sie benötigen nicht die Hilfe eines Rudels, im Gegenteil, die Anwesenheit mehrerer Tiere zur gemeinschaftlichen Jagd wäre ein großer Nachteil, da mehrere Tiere, die sich an ein Beutetier anschleichen, leichter entdeckt werden können. Gemeinschaftliches Jagen, selbst von Mutter-Kind-Gruppen, konnte deshalb in freier Wildbahn nur sehr selten beobachtet werden. Selbst wenn die Jungtiere schon relativ groß sind, geht die Mutter alleine auf die Jagd.
Wenn Luchse größere Entfernungen zurücklegen, um von einem Jagdgebiet zum anderen zu kommen, bewegen sie sich sehr geradlinig. Dazu nutzen sie oft Forststraßen, Wanderwege oder Wildwechsel, die ihnen eine leichte und energiesparende Fortbewegung ermöglichen. Ein jagender Luchs hingegen sucht gezielt Felsbereiche, umgestürzte Bäume oder andere exponierte Stellen auf, die ihm eine gute Übersicht bieten. Beim Jagen schleichen die Tiere in leichten Bögen durch den Wald, um Beute zu suchen. Sie bewegen sich langsam, setzen sich oft, vor allem auf erhöhten Stellen nieder, oder legen sich auf den Boden, um zu lauschen und die Umgebung abzusuchen. Anschließend pirschen sie wieder weiter. Häufig nutzen sie viel begangene Wildwechsel, in deren Nähe sie sich niederlegen und auf das Vorbeikommen von Hasen, Rehen und anderen Beutetieren warten. Durch das Ausgehen von Spuren weiß man, dass Luchse bis zu acht Kilometer während einer Jagd zurücklegen.
Für einen Luchs ist es wichtig, seine Beute zu erkennen, bevor er selbst wahrgenommen wird. Dabei helfen ihm seine hervorragend ausgeprägten Sinne. Ist ein Beutetier aufgespürt, versucht der Luchs, sich ihm vorsichtig zu nähern. Das macht er als gewandter Pirschjäger. Dabei schleicht er sich unter Nutzung aller sich bietenden Deckung, wie umgefallenen Bäumen, Bodenwellen, Fels- und Verjüngungsgruppen, an das Beutetier heran. Zwischendurch bleibt er immer wieder regungslos stehen oder legt sich auf den Boden. Dabei sind die Schnurrhaare aufgefächert, die spitzen Pinselohren nach vorne gerichtet, und der Kopf folgt der Bewegung der Beute. Anschließend pirscht er sich wieder weiter an. Hat sich der Luchs dem Beutetier bis auf wenige Meter genähert, spurtet er los und setzt schließlich zum Sprung an, um es mit diesem gezielten Überraschungsangriff zu überwältigen.
Der Luchs schleicht sich von der Hangoberseite an sein Opfer an. Dies hat den Vorteil, dass er das Verhalten der Beutetiere besser überblicken und bei den schnellen Angriffssprüngen eine größere Wucht entwickeln kann. Der tödliche Angriff selbst erfolgt von der Seite, der anspringende Luchs ergreift mit beiden Vorderpfoten den Körper seiner Beute und zieht sie zu sich heran. Gleichzeitig drückt er sich mit den Hinterbeinen vom Boden ab und springt mit voller Wucht gegen den Körper des Tieres. Hat er sich und das Beutetier in die richtige Stellung gebracht, tötet er es mit einem gezielten Biss in die Kehle. Dieser sogenannte Kehlbiss ist ein in Anpassung an große Beutetiere entwickeltes Verhalten und wird von Katzen in Vollendung beherrscht. Der Tod tritt dabei durch Abdrücken oder Zerreißen der Luftröhre und der damit verbundenen Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr ein. Vermutlich stirbt das Tier jedoch bereits zuvor durch einen Schock, beispielsweise in Folge von Verletzungen der Halsschlagader und Nervenbahnen. Kleinere Beutetiere wie Hasen werden meist durch Bisse in den Nacken oder den Kopf getötet.
Abb.: Auf der Suche nach Beute pirscht der Luchs durch seinen Lebensraum.
Während des Pirschens verharrt das Tier oft regungslos, um die Umgebung abzusuchen.
Hat er ein Beutetier entdeckt, kann er sich flach auf den Boden legen, um zu beobachten, bevor er den Angriff startet.
Als Alternative zur Pirschjagd bietet sich dem Luchs noch die Ansitzjagd. Diese Jagdstrategie scheint jedoch nur selten angewendet zu werden, da es für den Luchs hierbei sehr schwierig ist, erfolgreich zu sein. Schließlich muss er sehr genau abschätzen, wann an welcher Stelle ein Beutetier an ihm vorüberzieht. Eine Aufgabe, die eigentlich nur im Winter bei hoher Schneelage einigermaßen zufriedenstellend gelöst werden kann, wenn die Beutetiere immer wieder die gleichen Wechsel nutzen. Und selbst unter diesen Bedingungen konnte der russische Forscher Matjuschkin bei 14 Attacken nur in zwei Fällen einen Angriff aus einem Ansitz heraus beobachten. Günstiger ist die Situation an Wildfütterungen, denn sie sind im Winter wahre Magnete für Rehe und Rothirsche. Meist suchen die Tiere die Fütterungen zu bestimmten Zeiten auf und benutzen dabei die gleichen Wechsel. Diese Konstellation erhöht die Chance für Luchse, mit der Ansitzjagd erfolgreich zu sein.
Bei der Jagd auf Rothirsche, die mehr als doppelt so schwer sind als der Luchs selbst, wendet er eine andere Taktik an. Zunächst beobachtet er die ruhenden Beutetiere aus sicherer Deckung, schleicht sich an und überwältigt sie noch im Liegen, bevor sie aufstehen können, um zu flüchten. Auch hohe Schneelagen sind für den jagenden Luchs günstig.
Insbesondere, wenn sich durch Auftauen und Gefrieren eine Eiskruste auf der Schneeoberfläche gebildet hat oder der Schnee feucht ist, können Luchse aufgrund ihrer schneeschuhgleichen, großen Pfoten auf der Schneeoberfläche laufen, während ihre Beutetiere oft bis zur Brust einbrechen. Unter diesen Bedingungen können Luchse weitaus größere Beutetiere wie beispielsweise Rothirsche überwältigen und töten. Eine hohe Schneelage kann aber auch zu einem Nachteil für den Luchs werden, nämlich dann, wenn die Schneeoberfläche zwar nicht den Luchs, aber den Schneeschuhhasen trägt.
Der schwedische Forscher Haglund hat sich 1966 mit dem Jagderfolg des Luchses beschäftigt und herausgefunden, dass 70 Prozent der Beutetiere innerhalb einer Distanz von 20 Metern überwältigt werden. Bei längeren Verfolgungsjagden sinkt dieser Wert auf nur noch 38 Prozent. Offensichtlich ist der Luchs in der Lage, schneller zu beschleunigen als seine Beutetiere. Haben sich diese aber erst einmal in Bewegung gesetzt, sind sie ihm in Geschwindigkeit und Ausdauer überlegen. Manchmal stellt der Luchs die Verfolgung schon nach wenigen Sprüngen ein, es wird aber auch von Fällen berichtet, in denen ein Luchs sein Beutetier bis zu 100 Meter und darüber hinaus verfolgt hat.133 Interessanterweise können Luchse auch bei sehr langen Jagden erfolgreich sein. Auf 200 Meter wurde eine Erfolgsrate von 67 Prozent und auf 300 Meter sogar eine Erfolgsrate von 100 Prozent festgestellt. Dies steht zunächst im Widerspruch zum oben Gesagten, lässt sich aber dadurch erklären, dass Luchse die Verfassung ihrer Beute beurteilen können und diese nur dann verfolgen, wenn eine hohe Aussicht auf Erfolg besteht, weil die Beutetiere geschwächt oder verletzt sind. Obwohl Luchse sehr gewandte Jäger sind, ist es für sie nicht einfach, Beute zu machen, und so ist nur jeder zweite bis vierte Angriff erfolgreich. Dabei hängen die Erfolgsaussichten stark vom jeweiligen Beutetier ab. So sind etwa 75 Prozent der Attacken auf Rentiere und 66 Prozent der Angriffe auf Rehe erfolgreich, während bei den schnellen und wendigen Hasen auf drei Versuche nur eine erfolgreiche Jagd folgt.
Das Überwältigen der Beute ist für den Luchs mit einem gewissen Risiko verbunden, da sich die Beutetiere mit Fußtritten, Bissen und auch Stößen mit dem Geweih wehren. Verletzt sich ein Beutetier bei einem Angriff beispielsweise am Bein, braucht es nicht zu verhungern. Es gibt Rehe, die mit nur drei Beinen genügend Nahrung aufnehmen können. Verletzt sich aber der Luchs stark, verhungert er mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit. Dass die Erbeutung von großen Wildtieren für den Luchs nicht immer ohne Risiko ist, zeigen Untersuchungen aus Russland. Von 285 untersuchten Luchsen aus dem Uralgebiet wiesen 37 alte Verletzungen auf. Zwei Drittel davon waren Verletzungen, die den Tieren vermutlich im Kampf von ihren Beutetieren zugefügt wurden. Überwiegend handelte es sich um Brüche des Jochbeins und des Scheitelbeins. Auch Verletzungen durch einen Stich mit dem Gehörn wurden beim Luchs schon beschrieben.
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Dies sind die ersten drei von 15 Seiten des Kapitels. Die weiteren Unterkapitel nach „Jagdtechnik“ lauten „Wie erkenne ich einen Luchs im Gelände?“, „Ernährung und Beuteselektion“, „Nahrungsbedarf“, „Woher weiss man, was Luchse fressen?“ und „Indirekter Einfluss“.
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Die Autoren
Karl Friedrich Sinner
wurde am 16. April 1946 in Aschaffenburg geboren. Im Forsthaus in Waldaschaff aufgewachsen, wurde schon in früher Jugend die Liebe zur Natur und zum Wald geweckt. Nach dem Abitur in Lohr am Main und dem Studium der Forstwissenschaften in München legte er 1974 die Große Forstliche Staatsprüfung ab und wurde nach Übernahme in den Staatsdienst Mitarbeiter an der Forstdirektion in Ansbach. Waldfunktionsplanung und die Ausweisung des Nürnberger Reichswaldes als Bannwald zählten zu seinen Hauptaufgaben. Der Nürnberger Reichswald wurde 1980 mit seiner Tätigkeit als stellvertretender Forstamtsleiter in Erlangen und ab 1984 in Nürnberg und von 1988 bis 1998 als Forstamtsleiter mit dem Reichswaldprogramm zu seiner forstlichen Heimat. Der Umbau des „Steckerleswaldes“ in einen naturnahen Mischwald ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. 1998 wurde er zum Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald berufen. Der Bayerische Urwald wurde zu seiner Leidenschaft und Erfüllung. Die neu entstehende Waldwildnis, ihr Vergehen und neues Werden, standen im Zentrum eines mit Engagement und Gelassenheit geführten ständigen Dialogs mit den Menschen. Forschung und Monitoring waren für ihn Grundlage eines erfolgreichen Nationalparkmanagements. Sein Eintreten für Wald und Naturschutz wurde 2002 mit der Karl-Gayer-Medaille der TU München und 2006 mit dem Wilhelm-Leopold-Pfeil-Preis gewürdigt. Die Kooperation mit dem tschechischen Nationalpark Sˇumava wurde 2009 mit dem Umweltpreis des tschechischen Umweltministers ausgezeichnet. Zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand 2011 erhielt er die Umweltmedaille des Freistaates Bayern. Seit 2009 vertritt er die deutschen Nationalparks im Vorstand von Europarc..
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Marco Heurich
Jahrgang 1970, wurde in Fulda geboren und ist im Vogelsberg aufgewachsen. Schon als Kind zog es ihn in den Wald, wo ihn vor allem die wilde Natur faszinierte. Er studierte zunächst Forstwirtschaft in Freising und anschließend Geoinformatik in Salzburg. Während des Studiums spezialisierte er sich auf wildbiologische Themen und verbrachte ein Forschungssemester im Isle Royale National Park in den Vereinigten Staaten. Dort und im Norden Minnesotas arbeitete er mit Rolf Peterson und David Mech an der Erforschung von Elchen und Wölfen in unberührter Natur. Seit 1996 forscht er im Nationalpark Bayerischer Wald, wo er sich mit den Themen Wald- und Wildtierökologie beschäftigt, und mittlerweile mehr als 200 Veröffentlichungen publiziert hat. Für seine „hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten zum Ausgleich zwischen Technik, Wirtschaft und Natur“ wurde er mit dem Lennart-Bernadotte-Preis für Landespflege ausgezeichnet. Ein Schwerpunkt seiner Arbeiten bildet die Erforschung der Luchspopulation im Böhmerwald und die Entwicklung von Strategien für ein erfolgreiches Zusammenleben von Luchsen und Menschen. Dabei liegt ihm der Erhalt des in Mitteleuropa einzigartigen Böhmerwald-Ökosystems besonders am Herzen. Nationalparks sind auch im Privatleben seine Leidenschaft. Mittlerweile hat er 57 Nationalparks in 15 Ländern besucht und versucht seine Begeisterung auch an seine zwei Kinder Lea und Noah weiterzugeben.
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Anmerkungen
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Titel: Der Luchs: Die Rückkehr der Pinselohren
Autoren: Karl Friedrich Sinner und Marco Heurich
Fotos: Jaroslav Cerveny und Christoph Piela
Verlag: Buch- und Kunstverlag Oberpfalz
Verlagslink: https://www.battenberg-gietl.de/Heimat/Buecher/Buchdetails?name=der-luchs
ISBN: 978-3-935719-66-7
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Erste Leseprobe aus dem Buch: https://krautjunker.com/2018/08/09/die-sinne-der-luchse-sehen-und-hoeren-wie-ein-luchs/
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Lesetipp zum Buch:
http://www.bayerns-beste-buecher.de/de/kategorie-2/bildbaende/weiden-die-stadt-menschen2
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