Der andere: Herbstlorchel (Helvella crispa)

von Michael Rudolf

Wie oft ertappten wir uns bei Gedanken und Grübeleien darüber, warum ausgerechnet jetzt, da wir auf dem besten Weg in den Wald sind, auch andere Sammler unterwegs sein müssen. Haben die nichts Wichtigeres zu tun? Wie oft scheint uns, als trügen sie ihre Körbe demonstrativ und uns zum Hohn. Die größten Steinpilze, die gewaltigsten Rotkappen aufgeschichtet, um Neid zu provozieren. Wie oft gewinnt die pure Verzweiflung Gewalt über uns, sehen wir die Waldränder von Personenkraftwagen verschiedenster Herkunft umstellt. Und wie oft beten wir mit jedem Herzschlag, die vor uns Laufenden mögen erst hinter unserer Geheimschonung ausschwärmen.
Der Sammelkonkurrent ist beileibe nicht beliebt. Nicht bei uns. Nicht nur bei uns. Bei keinem Sammler. Schimpfnamen gehen uns spielend leicht von der Zunge. Warum auch nicht? Was hat er dort verloren, worauf allein wir ein ehernes Anrecht durch tausendmalige Pilzkollekten uns erworben haben? Warum bleibt er nicht an den Wegrändern in den Hochwäldern, wo es von wurmkontaminierten Ziegenlippen (Xerocomus subtomentosus) und Rotfußröhrlingen (Xerocomellus chrysenteron) und Perlpilzen (Amanita rubescens) wimmelt?
Gott sei Dank, heute macht er sich über den Nadelboden im Hochwald her, der Sonntagssammler, heute wird er uns kaum mehr gefährlich. Außerdem hat der null Ahnung von der Magie der Pilzstelle, kennt außer Marone (Xerocomus badius), Steinpilz (Boletus edulis) und Espenrotkappe (Lecinum rufum) höchstens den Pfifferling (Cantharellus cibarius). Könnte das Mitleid sein? Maybe.
Trotzdem haben wir komplexe Ablenkungsmanöver ausgetüftelt: Betont unwaldliche Kleidung anlegen, Umwege zum Stammwald fahren und ständig unauffällig nach Verfolgern spähen. Im Wald notfalls zickzack fahren oder bei der nächsten Weggabelung links die Hand raushalten und rechts abbiegen. Gräben um den ganzen Wald ziehen, Zäune aufrichten, Fallgruben und Fußeisen aufstellen, in der Dangerzone Selbstschußanlagen alle zehn Meter.
Wir haben ihn längst vergessen, als wir durchs Fichtendickicht brechen, immer tiefer hinein. Bald müßten die ersten Steinpilzstellen kommen. Hitze verbiegt die Luft. Heute könnte man sogar um die Ecke kucken. Hm, hier ist erst mal nichts. Und da hat einer vor uns gewildert. Sollte seinen Gnadenort auch etwas ordentlicher verlassen, der Strolch! An der nächsten Stelle das gleiche, an der übernächsten dito. Da streift also einer auf der gleichen Fährte durch den Grund, wie wir. Wie ist das möglich? Das Schwein! Entschuldigung. Aber ein bißchen tut das weh. Das Pilzherz blutet. Bisher hat man an seine eigene Singularität geglaubt, den Garanten unzähliger Pilzausbeuten, hat auf eine innige Beziehung mit dem Wald gesetzt. Eifersucht keimt auf. Wie achtlos er die wurmigen Steinpilze zerschnitten und verstreut hat, die Putzreste mutwillig verteilt. Dreht er sie nun heraus oder schneidet er ab. Oha, er schneidet. Hm, vorhin hat er herausgedreht. Die zurückgelassenen Rümpfe sind immer doppelt so breit, wie unsere. Hängt er sich die Großen in den Korb, und die Kleinen läßt er für uns laufen? Unsinn, wir spekulieren selbstverständlich nie auf Menge.
War da nicht ein Zweigeknacken? Ein Ästebrechen? Ducken. Still! – Noch mal. In Stellung gehen. Gleich murksen wir ihn ab und ziehen ihm die Haut in Streifen vom Fleisch. In diese Schonung verläuft sich außer uns beiden keienr. Niemand wird dich jemals finden. Hier kannst du in Ruhe verwesen. Doch die Geräusche entfernen sich, werden leiser. Ein blaues oder rotes Blinken von Hemd oder Bluse noch, so genau ist das nicht zu erkennen.
Kühlen Kopf bewahren. Weitersuchen. Was war das? Sicher ein Tier. Nein, doch nicht. Wieder einer! Kommt aus der anderen Richtung. Ist da wo ein Nest? Wir gehen vorsichtshalber in die Hocke. Halten gleich mal die Luft an.
Das Herz pocht bis in die Stirn. Nur von ferne hallt das Zischen der Zweige, die sich an seiner Freizeitbekleidung wischen. Unser Revier lassen wir nicht ungestraft plündern. Im Wiederholungsfall gibt‘s auf die Nuß. Die Finger verstümmeln wir gliedweise. Deine Alte versklaven wir im nächsten Baumarkt, und mit den Schädeln deiner Bälger spielen wir Baseball. Wäre doch gelacht. – Wir hören weg. Weil: Wir wollen weiter.
Endlich, an der Grenze zum Hainbuchenhain, breiten sich kleine Rasen von Herbstlorcheln aus. Nicht an den gewohnten Stellen. Außerdem ist das ein Steinpilzwald. Man kann nicht alles haben. Hauptsache schöne Exemplare. Spröde, vielgestalt, wie aus dem Pilzbuch. Da! Allmächtiger! Noch mehr. Wer sagt‘s denn. Rasch die hier noch. Hat sich doch gelohnt, oder? Fragen wir uns befriedigt, nein rundherum zufrieden.

 

Herbstlorchel

 

Wir wollen gerade aufstehen, knackt es doch wieder im Unterholz, fürs Flüchten zu spät. Verstecken geht auch nicht. Jeans, olivgrüne Jacke, männlich, um die Vierzig, offener, freundlicher Blick, sicher verheiratet, zwanzig schulpflichtige Kinder, Gattin Verkäuferin. So sehen sie zum Beispiel aus, die ewigen Widersacher. Gespannter, aber doch wie beiläufiger Blick in unser Sammelbehältnis. Was das denn für komische Dinger seien. Herbstmorcheln? Nie gehört. Sehen ziemlich giftig aus. „Sie nehmen wohl alles mit, wie?“ Wenn man jetzt einen Hut hätte, würde man ihn verlegen in den Händen drehen. Am liebsten würde man sich als armes Würstchen verkaufen. Er stolz: „Sehen Sie mal: Steinpilze. Bloß in dem kleinen Flecken da hinten. Absolut kraß. Soviel hatte ich hier noch nie.“ Aber dieser Wald sei schließlich bekannt für seine Steinpilzstellen. Riesendinger mitunter. Am Rand sogar Rotkappen. Das wüßte ja jedes Kind. Und von wo die Leute alle herkämen, irre. „Na ja, viel Glück noch.Tschüs. – Herbstschnorcheln, tsts.“
Fort isser. Das Messer ihm in den Rücken spicken. Was soll‘s? Was bringt‘s? Wäre höchstens einer weniger. Von vermutlich Hunderten. Schweine, alle!
Die Herbstlorcheln haben etwas von ausgebleichten Knochen, und von Tropfkerze, vielleicht. Morbide und zerbrechlich, elfenbeinern bis hellgraubraun lasiert. Das Gebilde wirkt immer wie hohl, grubig, die Fleischschicht selten dicker als ein Millimeter. Bei großen Varietäten könnte man glatt eine Kerze hineinstellen und sie als gespenstische Laternen nutzen. Wo andere Pilze einen Hut tragen, sehen wir nur eine faltige, seltsam zerbeulte, hirnartig gewundene Mitra mit mehreren Zipfeln. Kein Wunder, daß niemand auf die Idee kommt, sie zu sammeln. Im Gegensatz zu den giftigen Frühjahrslorcheln (Gyromitra esculenta) kann man sie aber in allerhand hübschen Kochexperimenten aufgehen lassen.
Wir laufen sinnend zum Rad zurück, schließen auf, da stürzt unser Blick auf vier untertassengroße braungewölbte Scheiben. Darunter jeweils buchtiges hellgrünes Futter, die allseits beliebten hellbraunen Stiele mit Netzintarsien. Woran alle vorbeitrampeln. Und die beiden Rotkappen daneben lassen wir auch gleich mitgehen. Die legen wir obendrauf, in der vagen Hoffnung, die Herbstlorcheln nicht vollends zu zerbröseln. Ein sorgfältiges Arrangement. Den Korb vorsichtig an den Lenker hängen, damit jeder sehen kann, was bei uns Sache ist. Dabei betont unauffällig und beiläufig tun. Wo sich Augenkontakt nicht vermeiden läßt: Ein wenig Hohn und Geheimniskrämerei in den Blick mischen. Schätze, die sauberen Herrschaften Nachzügler werden heute leer ausgehen.
So läßt sich‘s heimfahren.

 

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.

hexenei und krötenstuhl

Titel: Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer

Verlag: Reclam Leipzig, 2001

Autor: Michael Rudolf (* 1961; † 2007) 

ISBN: 3-379-01736-1

Link zum aktuellen Verlagsprogramm: https://www.reclam.de/programm

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Folgende Beiträge aus dem Buch sind bereits auf KRAUTJUNKER erschienen:

https://krautjunker.com/2018/08/01/saisonkollektion-mit-optimaler-koerbchengroesse-frauentaeubling-russula-cyanoxantha/

https://krautjunker.com/2017/09/27/horn-of-plenty-herbsttrompete-craterellus-cornucopiodes/

https://krautjunker.com/2017/09/03/krustenschmutz-und-pustelwulst-perlpilz-amanita-rubescens/

https://krautjunker.com/2017/05/19/saisonstart-am-elfenteich-schuppiger-porling-polyporus-squamosus/

https://krautjunker.com/2017/01/14/ausgetueftelte-bueschelaesthetik-austernseitling-pleurotus-ostreatus/

https://krautjunker.com/2016/11/10/schwarze-diamanten-trueffel-tuber/

https://krautjunker.com/2016/09/29/vom-glueck-auf-dem-land-faltentintling-coprinus-atramentarius/

https://krautjunker.com/2016/09/05/unser-allergroesster-hallimasch-armillaria-ostoyae/

https://krautjunker.com/2016/08/25/zwischen-brendel-und-teufelskanzel-goldgelber-laerchenroehrling-suillus-grevillei/

https://krautjunker.com/2016/07/10/landtage/

https://krautjunker.com/2016/07/05/der-weg-ist-das-ziel/

https://krautjunker.com/2016/07/02/die-fruchtkoerper-des-europaeischen-grosspilzes-und-ihre-lage-in-der-gesellschaft/

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Für die Bereitstellung des wunderschönen Fotos für das Titelbild bedanke ich mich einmal mehr bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher

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