Der Auerochs: Seine Fährte in unserer Kultur

Der Auerochse, [althochdeutsch uro; lat. Bos primigenius] ist die um 1600 ausgestorbene Stammform unserer Hausrinder. Die athletischen Stiere mit einer Schulterhöhe von bis zu zwei Metern und einem Gewicht von bis zu einer Tonne ähneln dem in engen Boxen gehaltenem Mast- oder Milchvieh wie Etagen-Möpse den Wölfen und waren weit imposanter als die untersetzen französischen und spanischen Kampfstiere mit Schulterhöhen von etwa 1,30 Meter. Selbst afrikanische Kaffernbüffel, die bei Löwen und Großwildjägern gerne den Spieß umdrehen, wirken, mit einer Schulterhöhe von bis zu 175 cm, gegenüber dem europäischen Auerochsen verhältnismäßig schmächtig.

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Seitdem diese Tiere in der Riß-Eiszeit (vor ca. 250 000 Jahren) aus Indien kamen, hinterließen sie einen nachhaltigen Eindruck auf die Materie und den Geist Europas. Zusammen mit anderen großen Pflanzenfressern wie Elchen, Wisenten, Wildpferden und Rothirschen, hielten sie die Landschaft durch ihre Beweidung offen.

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So muss man sich das Europa zur Zeit der Urmenschen wahrscheinlich nicht als dichtes Waldgebiet, sondern vielerorts halboffene Weidelandschaften mit großer Artenvielfalt vorstellen. Die Ähnlichkeit mit der prähistorischen Heimat des Menschen, den Savannen Ostafrikas, ist frappierend. Diese Landschaftsform war für unsere Vorfahren perfekt, denn Busch- und Baumgruppen boten Rückzugsmöglichkeiten und Aussichtspunkte, die Weideflächen hingegen große und gut sichtbare Beutetiere. Dieser optische Eindruck hat sich laut soziobiologischen Theorien so tief in dem Unterbewussten der Menschen eingeprägt, dass Kinder und Erwachsene Parks malen, wenn sie eine Ideallandschaft darstellen. Auch Erwachsene fühlen sich hier am wohlsten und bilden sie mit Stadtparks im Stil der englischen Landschaftsgärten nach.

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Nicht minder prägend war der direkte Eindruck der Wildrinder auf die menschliche Geistesgeschichte. Obwohl Grasfresser und somit Beute, neigten Auerochsen nicht zur Flucht. Wie die Kaffernbüffel der Savannen Afrikas, attackieren sie in für sie bedrohlichen Situationen auch Löwen, Bären oder Menschen und lassen diese oft selbst mit dem Leben für ihren Angriff zahlen.

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Nachdem die Löwen um 3000 v. Chr. aus Ungarn und in der Antike vom Balkan verschwanden, blieb nur unsere Spezies als Bedrohung übrig. Von Wolfsrudeln litten sie, laut zeitgenössischen Aufzeichnungen, keinen Schaden. Auf zahlreichen Felsdarstellungen finden sich seit der Altsteinzeit Abbildungen. Die 25.000 Jahre alten a oder die  12.000 Jahre alten Felsgravuren von Messak, in den Bergen Süd-Lybiens, zählen zu den bekanntesten Darstellungen und ältesten sakralen Denkmälern der Menschheit.

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Ab 3.500 v. Chr. hatten Rinder im alten Alten Ägypten eine religiöse Bedeutung. Die mächtige Göttin Bat wurde mit Kuhohren und Kuhgehörn dargestellt, ägyptische Pharaonen mit dem Titel „Stier seiner Mutter geehrt“.  Seit dem  3. Jahrtausend vor Christus gibt es das Sternbild des Stieres, welches den mörderischen Gegner des sumerischen Helden Gilgamesch oder des griechischen Jägers Orion darstellt.

Die antiken Griechen benannten unseren Erdteil Europa nach der Tochter eines phönizischen Königs, die der Göttervater Zeus in Stiergestalt nach Kreta entführte und schwängerte.

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Der Sohn des Zeus und der Europa heiratete eine Frau, die der Meeresgott Poseidon wiederum dazu brachte, sich von einem Stier besteigen zu lassen. Aus dieser Verbindung entstand der Minotaurus, ein Wesen mit menschlichem Körper und Stierkopf. Er galt den Festlandgriechen als typisch kretisch. Hintergrund ist, dass auf Kreta die Minoer die früheste Hochkultur Europas entwickelten, der Funke dessen, was überhaupt das Feuer der europäischen Zivilisation entfachte. Im Zentrum des kultischen Lebens stand ein Stierkult, der mit der Verehrung der weiblichen Fruchtbarkeitsgöttin in Zusammenhang stehen soll.

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Asterix-Leser werden sich erinnern, dass über Eingangstür des Majestix der Kopf eines Auerochsen angebracht war. Ebenso hielt man es im Deutschland der Renaissance an Rathausfassaden. Die Verwendung ihrer Hörner zu Trinkgefäßen ist in Germanien seit Caesar belegt und wurde durch die Zeitenläufe von weltlichen und kirchlichen Herren bis mit dem letzten Auerochsenhorn 1620 in Schweden fortgeführt.

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In Griechenland, Frankreich, Spanien, Portugal bis nach Lateinamerika werden immer noch verschiedene Stier-Rituale zelebriert, die teils blutige Kämpfe, teils liturgische Opferungen beinhalten und immer mit der Marienverehrung der römisch-katholischen Kirche in Verbindung stehen. Kein Torero betritt die Arena, ohne zuvor ein Gebet an die Muttergottes gerichtet zu haben, zu deren Ehren er den Stier opfern möchte, der als Inbegriff von Kraft und Potenz gilt.Es sind Fortführungen antiker Kulte, welche zumindest bis auf die Pharaonen des Alten Ägypten zurückreichen.

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Ökologisch ebenso wie kulturell ist es ein empfindlicher Verlust für Europa, dass 1627 das letzte Wildrind im Wald Jaktorówa in Polen verendete.

Seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann man in Deutschland damit, die Tiere aus den archaischsten Hausrindrassen zurück zu züchten. Um die ausgestorbenen Tiere von der Rückzüchtungen zu unterscheiden, nennt man die Ersten Auerochsen und die Lebenden Aueroxen. Dabei wird nicht das erstrangige Ziel verfolgt, sie als Zootiere auszustellen,  sondern wie Wildtiere in verschiedenen europäischen Nationalparks leben zu lassen. Das Ziel ist, hier die ursprüngliche Artenvielfalt wiederherzustellen und zu untersuchen.

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Über die Geschichte und bisherigen Ergebnisse dieser Rückzüchtungen, die manche Aueroxen oder Heck-Rinder nennen, schreibe ich in einem der kommenden Beiträge auf KRAUTJUNKER.

Ein Großteil der Informationen und Fotos, auf denen dieser Text entstand, stammen aus dem Buch Der Auerochs von Walter Frisch.

Der Titel ist aus verschiedenen Gründen empfehlenswert: Der Architekt war 1980 der Erste, der sich der extensiven Bewirtschaftungen und ganzjährigen Freilandhaltung rückgezüchteter Auerochsen widmete. Zusammen mit dem Wildpark Neandertal bei Düsseldorf gründete er 1997 den Verein zur Förderung der Auerochsenzucht und engagiert sich wissenschaftlich mit der Thematik.

Davon abgesehen ist das Buch das einzige seiner Art in deutscher Sprache. Wer sich also für Auerochsen bzw. Aueroxen interessiert, kommt nicht darum herum.

 

 Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.

***

Ich danke Herrn Architekten Walter Frisch für die Erteilung der Bildrechte sowie seine freundlichen und geduldigen Antworten auf alle meine Fragen zu seinem Buch und den Aueroxen. Alle Unstimmigkeiten und Fehler gehen auf meine Kappe.

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Titel: Der Auerochse

Verlag: Frisch, Ilka

ISBN: 978-3000267642

Verlagslink: http://www.derauerochs.de/

Verein zur Förderung des Auerochsen: http://www.aueroxen.de/

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Bildquellen

Titelbild:
Abbildung 307 aus Der Auerochs: S. 197,  – © Walter FRISCH, Insel Wörth 2007

Bilder von oben bis unten:

Abbildung 68 aus Der Auerochs: Bildnis eines Ur-Stieres, Gemälde von K. L. HARTIG 1942, Foto © Museum für Ur- und Frühgeschichte, Potsdam 1987

Abb. 281 aus Der Auerochs: Aus „Der Einfluß von Großherbivoren auf die Naturlandschaft Mitteleuropas“, © ABU im Kreis Soest 2001

Englischer Garten: Bildquelle WIKIPEDIA

Abb. 28 aus Der Auerochs: Abbildung Auerochse, Foto © Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Sachsen Anhalt, Andrea HÖRENTRUP 2008

Abbildung 17 aus Der Auerochs: Jean-Marie CHAUVET: Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche, Foto © SYGMA, Jan Thorbecke Verlag, 1995

Der Raub der Europa: Bildquelle WIKIPEDIA

Minoische Wandmalerei: Bildquelle WIKIPEDIA

Abbildung 50 aus Der Auerochs: Eingefasstes Horn des letzten Auerochsen-Bullen von 1620 aus der Rüstkammer in Stockholm, Foto © Göran SCHMIDT 2008

Abbildung Stierkampf: Bildquelle WIKIPEDIA

Abbildung Aueroxen: Bildquelle WIKIPEDIA

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