Louisa Gray, eine britische Umweltjournalistin und Tochter eines Landwirtes, wollte nicht nur genau wissen, wie die Tiere, welche sie verzehrte, lebten und starben, sondern auch die Verantwortung dafür übernehmen. Würde Sie weniger Fleisch essen, falls sie selbst töten müsste? Sie wagte einen Selbstversuch. »Für ein ethisch verantwortungsbewusstes Leben muss man moralische Maßstäbe entwickeln. Dazu gehört, dass man die Folgen seiner Handlungen überschaut.« Und weiter: »Wenn ich weiß, woher unser Essen kommt, kann ich selbst entscheiden, und das, was ich liebe, schützen und bewahren. Ich will ein Landmensch werden … ich will in der Lage sein, mich von dem zu ernähren, was unsere schöne Landschaft bereithält.« Daher beschloss sie für ein Jahr lang nur das Fleisch von Tieren zu essen, welche sie selbst getötet hatte. Ansonsten und zum allergrößten Teil ernährte sie sich während dieses Zeitraumes, der doch etwas länger wurde, vegetarisch.
Als Tochter eines jagenden Bauern liest sich dies erst nicht besonders revolutionär, aber auch ihre Biographie ist nicht ohne Brüche. »Als Kind war ich Mitglied der RSPCA-Nachwuchsorganisation. Eifrig bappte ich Aufkleber mit der Aufschrift „Hunde sterben in heißen Autos!“ auf die Windschutzscheiben parkender Autos. Auch wenn in den Autos gar kein Hund saß, auch wenn es regnete. Es ging mir darum, etwas Gutes zu tun. Wer ist nicht gerne ein Held?« Und weiter, »Wie Teenager das so machen, schenkte ich dem Sport (Anmerkung: Der Jagd) meines Vaters später schon aus Prinzip kaum noch Beachtung. Mehr noch: Ich machte mich darüber lustig. Als junge Erwachsene suchte ich mir Freunde, die einen anderen Familienhintergrund hatten, und übernahm ihr Misstrauen gegenüber dem Jagen. Es war mir peinlich, damit in Verbindung gebracht zu werden. Ich hatte Dreadlocks und schnitt sie wieder ab, ich beschäftigte mich mit Feminismus und studierte Sozialanthropologie.«
Der Leser begleitet sie auf ihrem Weg, wie sie nicht nur lernt, mit Jagdgewehren Wild zu erlegen und mit Angeln von Flussufern und Booten auf dem Ozean Fische zu fangen (In Großbritannien sind weder Jagd- und Fischereiprüfungen abzulegen), sie besuchte verschiedene Schlachthöfe, Mastviehzüchter, Austernfischer und eine Frau, die totgefahrene Tiere aufsammelt, um sie zu verzehren. »Was ist seltsamer: einen (überfahrenen) Fasan zu essen, der nach Herbstregen riecht und nach Wild und Honig schmeckt?», fragt Louise Gray, «oder ein Huhn zu essen, das nach nichts schmeckt und vier kurze Wochen in seiner eigenen Scheiße gelebt hat? Ich persönlich weiß, was ich merkwürdiger finde«, antwortet sie gleich selbst.
Die Reportagen sind dabei immer wieder in historische Schilderungen eingebettet, wie diese über die Austern: »Jede Auster filtert bis zu fünf Liter Wasser pro Stunde. Gleichzeitig wird der Meeresboden durch die Muscheln gefestigt; über Generationen hinweg haben sie felsenartige Riffe gebildet. Ganz Nordeuropa war einmal größtenteils von Austernbänken umgeben. Vielleicht war die graue Nordsee dank ihnen einmal kristallklar? Kaum vorstellbar. … Austern waren ein Arme-Leute-Essen. Im viktorianischen Zeitalter kamen desto mehr Austern in die Pastete, je ärmer man war – um den Fleischmangel auszugleichen. Austern und Stout, ein schwarzes, obergäriges Bier, waren der Snack fürs Volk. Allein im Jahr 1864 wurden in London 700 Millionen Austern verzehrt. Sie waren billige, leicht erhältliche Proteinbomben…« Unter anderem stoßen wir bei dem Lesen des Beitrages über Austern auch auf Guy Grive aus meiner Rezension über das Buch Eine Büroklammer in Alaska.
Es gibt in dem Buch sehr poetische Schilderungen, wie die über das Forellenfischen in Schottland: »„Am Fliegenfischen gefällt mir, dass es dem steinzeitlichen Jagen ähnelt“, sagt George. „Besonders, wenn man den Fisch sehen kann. Du hast mit der Angel den gleichen Abstand zum Tier wie unsere Vorfahren mit dem Speer. Es geht darum, den Fisch zu finden, ihn zu verfolgen, sich langsam hinter ihm aufzubauen, sich auf die Umwelt einzustellen. Man muss sich darüber im Klaren sein, was der Fisch tut, was er vorhat und was um ihn herum geschieht. Was für Fliegen sich über dem Wasser befinden. In welchem Stadium sie sind. Es ist ja nicht so, dass du den Fisch aufspießt – der Fisch spießt sich selber auf, das ist eine ganz andere Art von Gefecht.“«
Zum Schluss beschreibt sie, wie sie die Forelle ausnimmt, ihn mit Bärlauch füllt, im Ofen backt und schließlich genussvoll verzehrt.
Die Beschreibungen von Schlachthöfen, selbst denen für Bio-Mastvieh, sind weit weniger appetitlich. »Wir betreten den Schlachthof. Jetzt verstehe ich, warum ich einen Helm brauche. Über mir klirren und quietschen Ketten. Von den Metallgerüsten an der Decke hängen schwingende Haken mit Tierkadavern, eine Szenerie wie aus einem Steampunk-Comic. Die Rinder wurden an den Hinterbeinen aufgehängt. Sie sehen monströs aus – wie prähistorische Biester in Höhlenmalereien, blutrot, mindestens doppelt so groß wie ein Mensch und in der Mitte gespalten. Ich schaue noch oben, halte meinen zu großen Helm fest und sehe dann, dass die Wände mit Blut bespritzt sind. Schreiendes Rot auf weißen Badezimmerfliesen, wie nach einem Massaker in einem Gangsterfilm.“«
Ich musste dabei an einen sicherlich nicht zimperlichen bayerischen Medizinstudenten denken, der nach seinem Abitur im Schlachthof gejobbt hat und trotz Grillpartys für ein halbes Jahr Vegetarier blieb.
Interessant sind auch die Veränderungen unserer Gesellschaft zum Fleisch. Vor hundert Jahren wurde weit weniger Fleisch gegessen, als heute, dafür hingen vor Metzgereien ganz selbstverständlich ganze Schlachtkörper, so dass sich potentielle Kunden ein eigenes Urteil über das Tier und seinen Zustand machen konnten. Heutzutage wird Fleisch um ein Vielfaches mehr verzehrt, aber dafür ernten Schlachter, Metzgereien, in deren Auslagen Schweineköpfe präsentiert werden, wütende Proteste. Die Konsumenten wünschen ihr Fleisch möglichst entanimalisiert und schön verpackt, so dass man möglichst nicht ahnt, aus welchem Teil des Tierkörpers es stammt. Aus welchem Körperteil welches Stück stammt, wissen mittlerweile die wenigsten von uns.
Doch es gibt Gegentrends. »In den USA, wo traditionell vielleicht ein größerer Pioniergeist herrscht als hierzulande, sind Hausschlachtungen wieder in Mode. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat 2011 ein Jahr lang nur Tiere gegessen, die er auf einer Farm selbst geschlachtet hat.« Was sind das für Personen, die so etwas machen? Erwachsene, schätze ich mal. Nach einem Schlachttag auf dem Land schreibt sie mit Blick auf die Großschlachtereien, wo im industriellen Maßstab getötet wird, »Aber was opfern wir, wenn wir die Kontrolle über diese Vorgänge aus der Hand geben? Niemand versteht dann mehr, wie hart es ist, ein Tier zu töten, es ordentlich zu machen, es ernst zu nehmen. Die Tiere zu respektieren. Die gemeinsamen Stunden mit den Jungs hier sind erfüllt von Arbeit und Gelächter, Blut und Schweiß, intensiver Kommunikation, Leben und Tod. Angus bezeichnet den Vorgang als Ritual, findet ihn sogar schön. Ich denke, ein Ritual hat einen stärker vorgegebenen Ablauf. Aber die nahezu außerkörperliche Erfahrung des Tötens, die Nähe zum Tier und das Feierliche des Schlachtvorgangs, das hat schon etwas Rituelles.«
Auch wenn viele der Menschen, die sie auf der Jagd, dem Fischen oder Schlachten begleitete, verständlicherweise zu Pathos neigen, ist ihre Sprache meist sachlicher und abwägender. »Beim Griff zur Waffe geht es nicht darum, frei zu sein oder wild, sondern darum, die absolute Kontrolle zu haben. Mit »männlich« oder »weiblich« hat das nichts zu tun. Entweder du hast die Kontrolle – oder eben nicht. Entweder du gibst einen guten, sauberen Schuss ab – oder eben nicht.«
Zum Schluss werden auch moderne Ernährungsideen wie der Insektenverzehr oder im Labor hergestelltes Fleisch thematisiert.
Louise Grays Richtig Tiere essen?! ist reflektiert und kurzweilig, jedoch, wie nahezu alles auf der Welt nicht ganz fehlerfrei. Die Übersetzerin erfindet den „Hirschbock“ und die Autorin zitiert, vom Lektorat offensichtlich ungeprüft, eine Studie der WHO, nach welcher das Darmkrebsrisiko durch den Verzehr roten Fleisches um 18 % steigen würde. Leider typisch für modernen Journalismus, wo das Sendungsbewusstsein in vielen Fällen größer als die Recherchegenauigkeit ist. So erkor das Max-Plack-Institut für Bildungsforschung sie 2015 sogar zu der »Unstatistik des Monats«.
Louise Grays Resümee am Ende ihres Selbstversuches ist nicht ganz unerwartet, aber durch den Selbstversuch und ihre offene Haltung besonders glaubhaft: Beschäftigen wir uns mehr damit, welche Tiere auf unseren Tellern landen, wie ihr Leben und wie ihr Sterben war. Und versuchen wir möglichst viele Schritte auf diesem Weg zumindest aus eigenen Augen zu betrachten. So werden wir die Tiere mehr wertschätzen und die besseren Anbieter unterstützen wollen. An diesem hohen Anspruch werden natürlich fast alle Menschen immer wieder scheitern, auch die Autorin: »Ich mache Fehler, bin gefräßig und inkonsequent», schreibt sie im Nachwort, «aber ich bleibe dran. Das ist für mich der Kern dessen, was es heißt, eine anständige Fleischesserin zu sein. «
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.
Titel: Richtig Tiere essen?! Wie ich ein Jahr lang nur Fleisch von Tieren aß, die ich selbst tötete
Autor: Louise Gray
Verlag: Edel Germany
ISBN: 978-3841905062
Verlagslink: https://www.edel.com/de/label-verlage/buch/edel-books/
Übersetzung: Hanna Lemke
Website der Autorin: http://www.louisebgray.com/
Leseproben aus dem Buch auf KRAUTJUNKER:
https://krautjunker.com/2017/05/24/der-huegel-der-hirschboecke/
https://krautjunker.com/2017/04/23/roadkill-sammler/