Dieser zauberhafte Text Austernpilze für den Sandmann wurde seinerzeit in der Ausgabe 13 des 1998 noch quartalsweise erscheinendem Literaturmagazines Der Rabe veröffentlicht. Inge Meysel (* 1910; † 2004) war noch quicklebendig und der Autor kerngesund.
Mittlerweile ist Knud Kohr (*1966 in Cuxhaven), der in Berlin Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studierte, an Multipler Sklerose erkrankt. Er reagierte konsequent auf den Ausbruch der Krankheit, indem er im Rollstuhl eine Weltreise durchführte und darüber ein Buch schrieb. Weiterhin legte er ein witziges Buch nach, über Behinderte, wie sich selbst. Wer hierbei an Woody Allen bei seinen Judenwitzen denkt, befindet sich auf der richtigen Fährte.
Humor ist nichts was man nicht einmal eben hat und dann wieder ausknipst, sondern eine grundsätzliche Haltung gegenüber den absurden Zumutungen der Welt. Hier ist ein Mann mit Rückgrat und ein Künstler mit Geist bei seinem Kampf auf verlorenem Posten zu besichtigen.
Hätte ich einen Degen, würde ich ihn respektvoll für Knud Kohr senken.
Jenen meiner Leser, die Spaß am Lesen und Denken haben, empfehle ich dringend einen Blick auf www.knud-kohr.de.
von Knud Kohr
Wieder mal 3 Uhr 16. Wieder mal fünf Bier im Schädel und eine Flasche Wein in der Hand. Wieder mal der durchaus Falschen durchaus Richtiges über die eigene Gefühlswelt berichtet. Herr Kohr kehrt heim.
Er öffnet die Flasche, streift sich sein Lieblings-Schlaf-T-Shirt über, auf dessen Brust die – orthopädisch falsche, inhaltlich höchst diskutable – Aufschrift „Knut im Bett“ prangt, und läßt sich schwerfällig auf die Schlafstatt fallen. Gerade führt er die Flasche an den Mund, als es am Fenster klopft: „Erstaunlich“, denkt er sich, „immerhin residiere ich im dritten Stock!“ Trotzdem öffnet er das Fenster und ihm entgegen springt ein Männlein unbestimmten Alters mit Vollbart und einem Sandsack auf dem Rücken. „Morgen. Ich bin es, der Wächter des Schlafs, der Hüter der Nacht, der Überbringer der Träume. Aber so nennt mich kein Schwein. Sag Sandmann zu mir.“
„Was mag Ihr Begehr sein, Herr Sandmann?“
„Kerl, ich hab dich da eben zufällig nach Hause kommen sehen. Mein lieber Herr Gesangsverein, siehst Du fertig aus! Und da dachte ich mir, ich schau mal kurz vorbei und möble dich mit einem anständigen Traum auf. Was darf’s denn immer so sein? Lottogewinn? Agentenabenteuer? Irgend `ne Sauerei?“
„Ach, lieber Herr Sandmann, mir ist so melancholisch zumut. Wäre es möglich, von Dublin zu träumen? Ich steh bei acht Grad Celsius im Regen, die Liffey fließt grau an mir vorüber, und auf dem gegenüberliegenden Ufer zieht ein Trauerzug, Inge Meysel zu Grabe zu tragen.“
„Mann, Mann, Mann, das ist so ziemlich das Bescheuertste, was ich je erlebt habe. Da könnte sich dieser Stoffel Naomi Campbell hinter die Lider hexen lassen, und was bestellt er: Sauwetter in Irland. Aber versprochen ist versprochen. Zwei Bedingungen: Erstens schüttest du die Flasche irgendwo anders hinein als in dich selbst. Die Reise soll ja schließlich nach Dublin gehen und nicht ins Schwarze Loch. Und zweitens erzählst du mir Rezepte, bis du weggeratzt bist.“
Herr Kohr tat, wie ihm geheißen. Der Inhalt der Flasche landete im Küchenausguß, und dann ließ er sich liegend einige Sandkrumen aus dem Sack auf die Lider streuen.
„Nun denn, Herr Sandmann. Versuchen Sie es doch einmal mit einer einfach zu fertigenden Austernpilzsuppe. Sie besorgen sich drei Gläser Pilzfond, das ist ein vorgekochter Suppengrundstoff, den Sie überall erwerben können. Während dieser im Topf heiß wird, lösen Sie 100 Gramm Butter mit etwas Olivenöl in einer Pfanne auf. Geben Sie nacheinander 200 g gehackter Austernpilze, ein Bund gehackter Schalotten, ein Bund gehackter Möhren, Weißwein, Curry und Knoblauch nach Geschmack hinzu. Wenn alles schön glasig ist, löffeln Sie den Pfanneninhalt in den Topf, wo er noch etwa 10 Minuten nachgegart wird.
Danach können Sie es mal mit einem Artischockendip versuchen. Finschen Sie vier Artischocken aus der Liffey…. Unsinn: Kaufen Sie vier Artischocken, und putzen Sie sie, indem Sie das obere Drittel abschneiden. Alsdann werden sie in acht Grad Celsius … Quatsch, in leicht köchelndem Salzwasser gegart, bis sich die einzelnen Blätter mit der Hand leicht lösen lassen. Das dauert etwa 40 Minuten. In einer Schale mischen Sie vier zerkleinerte harte Eier, ein halbes Pfund Mayonnaise, Knoblauchöl, Rotweinessig, Salz, schwarzen Pfeffer und Inge Meysel … Unfug, Inge Meysel wird ja gerade begraben. Also muß es heute ohne Frau Meysel gehen. Wenn sie alles gemischt haben, höhlen sie das das sogenannte Heu in der Mitte jeder Artischocke aus, und füllen Sie statt dessen den Dip ein. Und seien Sie dabei etwas vorsichtig, gerade bei dem Dauerregen… bei diesem grauen Dauerreee…“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Herr Kohr in die Hauptstadt Irlands. Der Sandmann aber schwebte lautlos aus dem Fenster. Mahlzeit!
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Anmerkungen
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Diese Geschichte ist ein Kapitel aus der Nr. 13 der Literaturzeitschrift „Der Rabe“, einer Literaturzeitschrift im Taschenbuchformat, die zwischen 1982 und 2001 im Haffmanns Verlag, Zürich, erschien.
Verlag: Haffmanns Verlag AG Zürich
Titel: Der Rabe – Magazin für jede Art von Literatur – Nummer 53 (1998)
ISBN: 3 251 10053 3
Verlagslink: http://www.edition-tiamat.de/
Der Inhalt dieser Ausgabe lässt sich wie folgt zusammenfassen: Stopfpilze & Pilzköpfe, Speisepilze & Pilzspeisen, Mischpilze & Pilzmischungen, Giftpilze & Pilzgifte, Faulpelze & Pilzfäule, Blätterpilze & Pilzblätter.
Leseproben aus Ausgabe Nummer 13 aus Der Rabe:
https://krautjunker.com/2017/06/16/max-goldt-der-unbekannte-geruch/
https://krautjunker.com/2016/09/09/mit-opa-in-die-pilze/
Über Knud Kohr in der FAZ: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/reisen-trotz-multipler-sklerose-12933416.html
Leseabenteuer auf http://www.knud-kohr.de/
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