von Gerhard Henschel
Es kam nur selten vor, daß Bruno mich zum Essen einlud, und nur ein einziges Mal, daß er mich persönlich verköstigen wollte. Weil ich dem Braten mißtraute, hatte ich zu Hause eine Pizza bereitgestellt, bevor ich der Einladung folgte. Für eine seiner Liebsten hat Bruno angeblich einmal Hasenrücken und als Nachtisch Birnen im Teigversteck zubereitet, aber ich wußte nicht, ob diese Information der Wahrheit entsprach. Meiner Erfahrung nach war Bruno, was seine Ernährung betraf, immer außerordentlich pragmatisch verfahren: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam, und die Reste des auf den Tisch Gekommenen sahen gewöhnlich so aus, als seien sie bereits verdaut worden.
Als ich eintrat, stand Bruno fieberhaft arbeitend an der Küchenspüle. „Ich bin jetzt unter die Gourmets gegangen“, rief er und berubbelte seine verdreckten Nägel mit einer kaum weniger verdreckten Wurzelbürste. „Heute wird Pilzsuppe serviert!“
Von Zweifeln war ich bereits beschlichen worden. Jetzt bekam ich Angst. „Und woher stammen die Pilze?“ fragte ich und nahm am Küchentisch, auf dem nur eine dralle Brötchentüte und ein rostiges Messer lagen, Platz.
Bruno drehte den Wasserhahn zu, rieb sich die Pfoten am Hosenboden trocken, nahm die Tüte und schüttete sie aus. „Meine heutige Ernte“, sagte er. „Frisch auf den Tisch aus dem großen Garten von Mutter Natur!“
Was Bruno Mutter Natur aus der Nase gezogen hatte, waren mehrere Objekte mit der Anmutung von Zungenbelag und Heizungskeller, hölzerne Brösel, Knotiges und Amorphes, graubraune Schwammpartikel, ein versteinertes Etwas in Tischtennisballgröße, ein paar Klumpen Schmutz und eine Art Hartgummiknorpel, der reichlich Staub versprühte, wenn man mit dem Finger nach ihm schnippte.
„Das esse ich nicht.“ Mein Entschluß stand fest.
„Das muß ja auch erst noch gekocht werden“, erwiderte Bruno, schaufelte den Unrat in ein Küchensieb, schreckte ihn mit einem Warmwasserstrahl ab und praktizierte die nachlässig gereinigte Materie in einen Kochtopf. „Pfeffer und Salz, Gott erhalt’s“, sagte er, streute aus verschiedenen Büchsen Gewürze in den Topf, drehte den Herdplattenschalter auf drei, warf sich auf den freien Stuhl am Küchentisch, griffelte eine Zigarette aus dem Hemd, steckte sie an, blies pfeifend den Rauch aus und fragte mich: „Wieso macht Safran eigentlich den Kuchen gehl? Das hab ich noch nie kapiert.“
Er war bester Dinge, wie immer, wenn er ein neues Betätigungsfeld gefunden hatte und es nach Methoden beackern konnte, die – zurückhaltend ausgedrückt – unorthodox waren. Auch als Koch ging Bruno autodidaktisch vor. Das Aroma, das die Küche füllte, als die Suppe zu brodeln begann, überzeugte mich endgültig und mit großer Bestimmtheit davon, daß er darauf verzichtet hatte, Fachliteratur zu konsultieren.
Ich riß das Fenster auf und schnappte nach Luft. „Bruno“, stöhnte ich, „tu mir einen letzten Gefallen. Kipp die Suppe ins Klo. Jetzt sofort!“
Selbst für Pumanasen wäre der Geruch, den Brunos Suppe machte, eine Provokation gewesen. Bruno war erblaßt, und seine Hände hatten sich um die Tischkanten gekrallt, doch er blieb in der Spur, obwohl offenbar auch ihn die joie de vivre verlasssen hatte. „Ich wußte gar nicht, daß du so konservativ bist. Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht, oder wie?“
Während ich mich aus dem Fenster streckte, schluckte ich die passende Antwort herunter. Und manches andere.
Hinter mir wurde gescharrt und gedengelt. Bruno hatte den Topf von der Platte entfernt. Ich legte das als Sieg der Vernunft aus, aber da hatte ich mich geschnitten.
„Wenn du glaubst, ich lasse mir von dir den Appetit verderben, hast du dich geschnitten“, brachte Bruno mit brüchiger Stimme hervor. „Das ist eine erstklassige, leckere und delikate Pilzsuppe. Aber bitte, wenn der Herr es wünscht, werde ich einen Vorkoster kommen lassen!“
Nun hörte ich hinter mir Schritte, die sich entfernten, und boshaftes Türenklappen.
Flau und faul hing ich unterdessen herum, gegen den Fensterrahmen gelehnt, und saugte mir große Portionen von der guten alten Abendluft in die Lungenflügel. Daß Bruno auf die Schnelle einen Irren auftreiben könne, der gewillt war, den Vorkosterposten zu bekleiden, schloß ich aus und überließ mich dem Genuß des Duftcocktails, der außerhalb von Brunos Giftküche vom himmlischen Barmixer angerichtet worden war.
Nach und nach kehrten meine Lebensgeister zurück.
Festen Schritts und türenknallend kehrte bald darauf auch Bruno zurück. Im Schlepptau führte er Purzel mit sich, den Rauhhaardackel von Frau Morgenstern, seiner Vermieterin.
„Bruno, das Tier wird sterben!“ rief ich, als ich begriff, aber es war schon zu spät. Bruno hatte Purzel eine Schale von der Suppe abgefüllt, und Purzel schlabberte die stinkende Henkersmahlzeit gierig in sich hinein.
Und setzte sich. Und zeigte uns die Zunge.
Auch Bruno setzte sich.
Purzel hyperventilierte, aber das tat er immer.
„Also?“ frage Bruno. „Irgendwelche Einwände?“
Ich behielt Purzel im Auge. „Bruno“, sagte ich, „wenn deine Pilzsuppe so schmeckt, wie sie riecht, will ich sie nicht essen, völlig unabhängig von ihrer in Tierversuchsreihen getesteten Bekömmlichkeit. Und wenn du einen altersschwachen Dackel als Versuchskaninchen mißbrauchst, kann ich das nur verurteilen.“
Ich setzte mich ebenfalls.
Bruno machte irgendwas Angeberisches mit seinen Augenbrauen. Zog sie hoch oder so. Ich sah es nicht genau, denn ich konzentrierte mich auf Purzel, der zu husten anfing und seinen Augäpfeln das Hervorquellen gestattete. Auf Purzels Hustenattacke folgten Ächzen, Hecheln und Japsen, plötzlich grelles Kläffen und Brüllen, und bevor ich schlichtend und begütigend eingreifen konnte, hatte sich Purzel aus seiner Ruhehaltung katapultiert, einen Salto geschlagen, Bruno in die Hand gebissen, das Gewürzbord abgeräumt und die Flucht ergriffen, jaulend und entsetzt, durch das sperrangelweit offenstehende Küchenfenster.
Vernehmbar waren noch einige Dackelschreie, die in der Nacht verhallten.
„Ich glaube, den sehen wir so schnell nicht wieder“, sagte Bruno und lutschte an seiner Hand. Die Wunde war zum Glück nicht tief. Wir umwickelten sie mit Klopapier und begaben uns auf die Suche nach Purzel, aber Purzel war weg.
Vom Erdboden verschluckt. Verschwunden. Verschollen. Wir grasten das Viertel ab und riefen nach Purzel, bis man uns Kraftausdrücke und Kerzenstümpfe an den Kopf warf.
„Jetzt hilft nur noch eins“, sagte Bruno.
Was das sein sollte, wußte ich nicht, aber ich ahnte es, als ich sah, wie er in seine Wohnung stapfte und in der Küche auf den Suppentopf zusteuerte.
„Bruno! Tu das nicht!“
„Diese Suppe muß ich auslöffeln“, erklärte er. „Dann wird mir vielleicht klar, wo Purzel abgeblieben ist.“
Sprach’s und schöpflöffelte sich zwei, drei Kellen der mißratenen Mahlzeit aus dem Topf.
Schluckte. Kaute.
Sank zusammen und verdaute.
„Bruno“, flüsterte ich und betastete ihn. „Soll ich die Feuerwehr rufen?“
Er rollte mit den Augen, ließ den Löffel zu Boden sinken und sagte: „Oncken hat manches. Manches hat nur Oncken.“ Dann flutete Grünes aus Brunos Schnauze.
Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte.
Nachdem ich ihn notdürftig gesäubert und in die stabile Seitenlage gewälzt hatte, holte ich sein Rad aus dem Schuppen und fuhr aufs Geratewohl drauflos, und siehe da, ob Sie es glauben oder nicht, als ich bei Oncken ankam, saß Purzel vor der Ladentür.
Sein Blick war stumpf. Er zitterte und zuckte mit dem Kopf und ließ sich widerstandslos auflesen. Ich setzte den armen Hund in den Gepäckträger und radelte zurück.
Als ich Purzel Frau Morgenstern aushändigte, war er schon wieder einigermaßen auf dem Damm; nur die Ohren standen noch in absurden Winkeln vom Kopf ab.
Brunos Küche war leer. Ich pochte vorsichtig an die Toilettentür.
„Bruno? Kannst du mich hören?“
Er sagte nichts.
„Purzel ist wieder da“, rief ich. „Soll ich einen Arzt holen?“
„Geh weg“, krächzte Bruno, und ich ging weg.
Eine Einladung zum Essen hat er seit jenem Abend nicht mehr ausgesprochen. Wer weiß, wozu es gut ist.
*
Verlagsauskunft über Gerhard Henschel: Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser, deren erster Band 2004 erschien. Erfolgsroman ist der achte Teil dieser Chronik. Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde unter anderen mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet.
siehe: http://www.hoffmann-und-campe.de/autoren-info/gerhard-henschel/
Interview mit dem Gerhard Henschel: https://www.goethe.de/de/kul/lit/21112495.html
Artikel über Gerhard Henschel:
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article162783782/Meppener-schreibt-seine-Biografie-im-Massstab-eins-zu-eins.html
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Für die Vermittlung zum Schriftsteller bedanke ich mich bei TOM PRODUKT (siehe: https://www.tomprodukt.de/). Unbedingt auf die Website schauen und großartige Künstler entdecken.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.
Diese Geschichte ist ein Kapitel aus der Nr. 13 der Literaturzeitschrift „Der Rabe“, einer Literaturzeitschrift im Taschenbuchformat, die zwischen 1982 und 2001 im Haffmanns Verlag, Zürich, erschien.
Der Inhalt dieser Ausgabe lässt sich wie folgt zusammenfassen: Stopfpilze & Pilzköpfe, Speisepilze & Pilzspeisen, Mischpilze & Pilzmischungen, Giftpilze & Pilzgifte, Faulpelze & Pilzfäule, Blätterpilze & Pilzblätter.
Der Titel ist nur noch antiquarisch zu erhalten. Für die Bücherjagd empfehle ich https://buchhai.de/.
Verlag: Haffmanns Verlag AG Zürich
Titel: Der Rabe – Magazin für jede Art von Literatur – Nummer 53 (1998)
ISBN: 3 251 10053 3
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Leseproben aus Ausgabe Nummer 13 aus Der Rabe:
https://krautjunker.com/2017/07/17/schlagt-die-bovisten-wo-ihr-sie-trefft/
https://krautjunker.com/2017/07/08/austernpilze-fuer-den-sandmann/
https://krautjunker.com/2017/06/16/max-goldt-der-unbekannte-geruch/
https://krautjunker.com/2016/09/09/mit-opa-in-die-pilze/
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Nochmals vielen Dank an den Autor, Herrn Gerhard Henschel sowie Herrn Michaël Bugmann von Tom Produkt. Es war mir ein Fest.
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