Ist auch mit den Jahren die Gleichgültigkeit wie Efeu an einem hochgewachsen, so gibt es Leben, bei deren Lektüre man sich wie ein Etagendackel fühlt, der den Gummiknochen unter dem Wohnzimmerteppich vergräbt, nachdem er Lassie im Fernsehen gesehen hat.
Leben und Werk von Franz Boas sind so ein Fall. Schon während seines Studiums begegnete er Geistesgrößen, welche der Menschheit bahnbrechend neue Erkenntnisse erschlossen. Der einzige Kontakt zu Personen der Zeitgeschichte in meinem Leben war bisher ein Telefonat mit Barbara Schöneberger.
Abb.: Franz Boas (Bildquelle: Wikipedia)
Aus einer wohlhabenden und liberalen Mindener Familie stammend, wuchs Franz Boas in einem gesellschaftlichen Umfeld auf, welches von humanistischen Idealen und bildungsbürgerlichen Wertvorstellungen geprägt war. Seine Eltern waren musterhafte Angehörige einer Generation von Juden, die sich mit den Idealen der Aufklärung und der Weimarer Klassik identifizierten und zum liberalen Bürgertum rechneten. Da finanzielle Unabhängigkeit zu den Fundamenten einer liberalen Grundhaltung gehört, sollte das dritte von sechs Kindern der Familie nach dem Abitur wie sein Vater Kaufmann werden. Sofern er sich ein Studium nicht aus dem Kopf schlagen konnte, dann doch jenes der lukrativen Humanmedizin. Doch schon mit 13 Jahren hatte Franz Boas einen Traum: „Neue Völker und deren Sitte und Gewohnheiten möchte ich kennen lernen, auch die schon bekannten Galla-, Kaffern- und Hottentotten-Völker!“ So studierte er zuerst in Heidelberg Physik, Geografie und Philosophie. Bereits nach einem Semester wechselte er an die Universität Bonn, wo er den Geografen Theobald Fischer kennenlernte, den Begründer der modernen Geographie, der sich akademischen Ruhm durch die Erforschung der Mittelmeerländer erworben hatte.
Abb.: Theobald Fischer (Bildquelle: Wikipedia)
Durch seinen ebenfalls aus Minden stammenden Vetter Willi Meyer wurde Boas in der Bonner Burschenschaft Alemannia (siehe: http://www.alemannia-bonn.de/) aktiv. Sein Verbindungsleben scheint er sehr genossen zu haben. So gibt es ein Foto, in dem er mit Band und Mütze inmitten seiner Bundesbrüder auf einem Fass sitzt, welches mit dem berühmten „§ 11“ markiert ist, was nach dem alten Bierkomment der Studenten bedeutet: „Es wird fortgesoffen.“
Zur gleichen Zeit freundete er sich in Bonn mit dem später ebenfalls legendären jüdischen Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Aby Warburg (1866; † 1929) an (Lesen! http://www.chbeck.de/michels-aby-warburg/product/23608).
Abb.: Aby Warburg (Bildquelle: Wikipedia)
Als Theobald Fischer zwei Jahre später einen Ruf an die Universität Kiel erhielt, begleitete ihn Boas. Obwohl er in Bonn noch im Fach Physik promovierte, galt sein akademisches Interesse längst der Geografie.
Gefördert durch den Berliner Verleger Rudolf Mosse, unternahm der vierundzwanzigjährige Doktor mit Wilhelm Weike, dem dreiundzwanzigjährigen Hausdiener seines Vaters, auf dem Forschungsschiff Germania eine Expedition in die Arktis. Bei dieser Reise entwickelte er auf der Basis eines kulturökologischen Ansatzes die Grundlagen der ethnologischen Feldforschung. Im Habilitationsgutachten wurden Boas‘ wissenschaftliche Beobachtungen jedoch mit banalen Reiseberichten verglichen. Ein weiterer Kritikpunkt war, es handle sich um eine dermaßen entlegene Weltgegend, dass sie ohne Bedeutung sei.
Durch seine neuartigen Forschungsansätze zum akademischen Außenseiter geworden und aufgrund antisemitischer Anfeindungen, siedelte Boas in die USA über. In den Staaten entwickelte er sich zu einem Wissenschaftler von Weltrang und Begründer der Kulturanthropologie. Zu einem der einflussreichsten Sozialwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts wurde er durch seine Erforschung der Wildbeutergesellschaften und des Kulturrelativismus. Nach seinem Standpunkt entwickeln sich Kulturen nicht aufgrund biologischer Eigentümlichkeiten, also rassischer Unterschiede, sondern sind eine Reaktion auf die jeweilige Umwelt. Kulturelle Unterschiede sind relativ und nur aus sich selbst heraus zu verstehen. Dies ist eine Gegenposition zum seinerzeit angesagten Evolutionismus, der die Jäger und Sammler als unterste Stufe einer gesellschaftlichen Entwicklungspyramide begriff.
„Das Verhalten eines Volkes wird nicht wesentlich durch seine biologische Abstammung bestimmt, sondern durch seine kulturelle Tradition. Die Erkenntnis dieser Grundsätze wird der Welt und besonders Deutschland viele Schwierigkeiten ersparen.“
Auch als er schon längst als Bürger der USA lebte, war sein Familienleben in der deutschen Kultur verwurzelt. So wurde zu Hause in New York Deutsch gesprochen, ebenso wie viele private Kontakte Deutsche Exilanten waren. Er war stolz darauf ein deutscher Patriot im Stile der alten Burschenschaften zu sein. Wie er schrieb, war für ihn „ein deutsches Haus prägend, in dem die Ideale der Revolution von 1848 lebendig waren.“ Schon früh bezog er Stellung gegen den seinerzeit weit verbreiteten und wissenschaftlich akzeptierten Rassismus und engagierte sich gegen die Benachteiligung der Afroamerikaner in den USA.
Am Ende seines Lebens hielt ihn der renommierte Ethnologe Claude Lévi-Strauss (*1908; † 2009) für einen der Geistesriesen des 19.Jahrhunderts, welche wir wahrscheinlich niemals wieder sehen werden.
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Buchvorstellung: Bei Inuit und Walfängern auf Baffin-Land (1883 /1884): Das arktische Tagebuch des Wilhelm Weike
Bei dem hier vorgestellten Werk handelt es sich um die Tagebücher seines Dieners Wilhelm Weike (* 1859; † 1917) während der Arktis-Expedition von 1883 bis 1884. Knecht, Gärtner, Haus- und Geschäftsdiener und Portier, in diesen Funktionen lebte und arbeitete er im Mindener Elternhaus des Franz Boas. Der Akademiker, der die Kultur der arktischen Ureinwohner erforschen und mit ihnen leben wollte, benötigte jemanden, der ihm bei der Haushaltsführung und Forschungsarbeit unterstützen sollte. Obwohl nur ein „einfacher Mann“ eignete sich Wilhelm Weike hierfür, da er Lesen und Schreiben konnte, sportlich, zuverlässig, praktisch und fleißig war, Organisationstalent besaß, sowie über eine positive Grundhaltung zu Wissenschaft und fremden Lebensverhältnissen verfügte.
Franz Boas wie Wilhelm Weike sind von der ständisch geprägten deutschen Gesellschaft im Kaiserreich geprägt. Obwohl sie sich sympathisch waren und gemeinsam ein längeres Abenteuer bestanden, blieb die soziale Distanz aufgrund ihrer unterschiedlichen Gesellschaftsschichten bestehen.
Zur Vorbereitung der Expedition erlernte Franz Boas das kartografische Zeichnen und Fotografie an der Technischen Hochschule, eignete sich Kenntnisse in Meteorologie und Astronomie ebenso an, wie die Grundlagen des Dänischen und der Sprache der Inuit. Bei dem großen Mediziner an der Berliner Charité, Rudolf Virchow, belegte Boas Seminare im anthropologischen Messen. Weiterhin arbeitete er in der arktischen Sammlung des Museums für Völkerkunde. Der Direktor und Mitgründer dieses Hauses, der Ethnologe Adolf Bastian, stellte den jungen Wissenschaftler Georg von Neumayer vor, den Nestor der deutschen Polarforschung und Direktor der Deutschen Seewarte in Hamburg.
Wilhelm Weike hingegen lernt kochen, Kugeln gießen, Schuhe besohlen und alle weiteren für eine solche Expedition notwendigen Hilfstätigkeiten.
Abb.: Wilhelm Weike und Franz Boas in Fellkleidung der Inuit. Aufnahmen des Photo Studio Minden, 1885 (Bildquelle: Buch; Porträts von S. 132 und S. 133)
Franz Boas betrat nicht nur räumlich, sondern auch geistig Neuland. So fasste er den ungewöhnlichen Beschluss, dass nicht nur seine Beobachtungen und Erkenntnisse, sondern auch die seines Dieners von Bedeutung seien und bat ihn, ein Tagebuch zu führen. Die meisten schriftlichen Quellen aus der Vergangenheit stammen von Mitgliedern der Oberschicht. So ist das Tagebuch eines Dieners, welches weder von ihm noch seinem Herren zur Veröffentlichung vorgesehen war, das seltene Zeugnis eines einfachen Menschen unter besonderen Umständen in einer ihm fremden Welt.
Abb.: Reiserouten von Franz Boas und Wilhelm Weike auf Baffin-Land, 1883/1884 (Bildquelle: Buch, Karte von S. 223)
Geschrieben wurde das Tagebuch mit einer Feder, zeitweise bei 40° Celsius Kälte, so dass er die Tinte über einer offenen Flamme aufwärmen musste. Obwohl Weike nicht in den Genuss einer höheren Bildung kam und schon als Kleinstädter über die Weltstadt Hamburg staunte, zeigen seine Aufzeichnungen der arktischen Forschungsreise, wie er mit praktischem Verstand, Herzensbildung fremden „Wilden“ begegnete und dabei kulturelle Hürden überwand. Die spätere Korrespondenz zwischen dem Leiter der schottischen Walfangstation und Franz Boas enthält sogar Hinweise auf eine Liebelei zwischen Wilhelm Weike und der Inuit Tookavay. Dies alles in einer Zeit, als farbige Eingeborene in Europa noch wie Tiere ausgestellt wurden und als Untermenschen galten. So kommt der Leser in den Genuss der ungefilterten Sichtweise eines einfachen und liebenswerten Deutschen auf das Zusammenleben von Seeleuten, Walfängern und Inuit auf der Baffin-Insel im Winter 1883 bis 1884.
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Anmerkungen
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Titel: Bei Inuit und Walfängern auf Baffin-Land (1883 /1884): Das arktische Tagebuch des Wilhelm Weike
Verlag: Mindener Geschichtsverein https://www.mindener-geschichtsverein.de/
Vorwort: Bernd Gieseking http://www.bernd-gieseking.de/
ISBN: 978-3929894318
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Mehr über Franz Boas: http://www.burschenschaftsgeschichte.de/pdf/girtler_franz_boas.pdf
http://userwikis.fu-berlin.de/display/sozkultanthro/Amerikanische+Kulturanthropologie
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KRAUTJUNKER-Lesetipp: Alle Bücher von Roland Girtler. Unterhaltsame und kluge Beobachtungen eines vagabundierenden Kulturwissenschaftlers:
http://www.univprofdrgirtler.at/