Buchvorstellung
Kein Mensch, keine Kultur lebt ohne Monster. Diese unheimlichen Bestien verkörpern auf bildliche Weise die oft abstrakten und unkontrollierbaren Gefahren in unserem Leben. Und wie die schönsten Gefahren üben sie einen verlockenden Reiz auf uns aus.
Jeremy Wades Leben lief aufgrund ganz realer unglücklicher Umstände aus dem Ruder. Zwar erhielt er mit 16 Jahren ein Vollstipendium für eine exklusive englische Privatschule, aber mit seinem Examen in Zoologie wusste er nichts anzufangen. Auf sein Studium folgte eine lange Reihe abgebrochener Jobs inklusive gelegentlicher Verkäufe von Artikeln an Zeitungen. Es führte ein planloses und unzufriedenes Leben. Unterm Strich war sein erwirtschaftetes Einkommen geringer als der gesetzliche Mindestlohn. Ein Teil seines Problems, so bildete er es sich zumindest ein, war sein Vater, der mit seiner Familie gebrochen hatte und daraufhin enterbt wurde. Jahrelang, so schien es, war er in die dysfunktionale Systemdynamik seiner Verwandtschaft verstrickt und dazu verflucht, sie zu wiederholen.
Seine einzige Leidenschaft galt dem Angeln. Eine Passion, die zu Unrecht über kein gesellschaftliches Renommee verfügt. Landläufig gelten Angler als stumpfe Typen, die in ihren Parkas mit einer Büchse Bier am Flussufer hocken und hirnlos aufs Wasser starren. Entgegen dem äußeren Anschein vollbringen erfolgreiche Angler in ihren Köpfen erstaunliche Leistungen. Ihr Spielgrund und Jagdrevier ist komplexer als jene, die sich auf den ersten Blick erschließen. Sie visualisieren eine geheime Welt unter anderen Umweltbedingungen, bewohnt von mysteriösen Wesen, deren Verhalten nur ausnahmsweise sichtbar wird und richten ihr Gerät und Jagdverhalten darauf aus.
»Wer eine Schnur ins Wasser hält, stellt eine Frage. Vielleicht hält sich direkt unter einem etwas auf, aber man sieht es nicht – da, aber nicht da. Manchmal macht nur eine Rute die Dinge real, auch wenn die Aussichten manchmal sehr gering erscheinen. Schlaff und leblos hängt die Schnur da, manchmal Stunden, manchmal Tage, manchmal auch Wochen oder Jahre, aber dann fängt sie an zu zucken und die Rute biegt sich wie eine Wünschelrute. Und wenn einem dann das Gerät und die eigenen Nerven keinen Strich durch die Rechnung machen, wird man praktisch aus dem Nichts etwas ans Tageslicht ziehen, das aus einer anderen Dimension stammt. Und das hat etwas Magisches an sich – wie beim Magier, der ein Kaninchen aus dem Hut zaubert.«
Gewisse pathologische Obsessionen, sind tief in Jeremy Wades Wesen verankert: Zwanghafte Selbstgespräche, manisches Zählen oder andere Zwangsstörungen, wie jene immer wieder an einem Türgriff zu rütteln, begleiteten ihn über viele Jahre. Anscheinend ist das Sahnehäubchen ein Schuss Tourettesyndrom. Es mag ein Zeichen geistiger Unreife sein, aber ich muss dabei immer an diesen großartigen Cartoon denken.

Zum Glück ist es etwas, dass er in den Griff bekommen hat. Während er Superkleber auf den zwanzigfach verdrehten Bimini-Twist-Knoten aufträgt, der ihm einen Meter Doppelschnur über sein verschmolzenes Fluorocarbon-Vorfach verschafft, rechnet er im Kopf Bruchteile von Prozenten aus. Und ist dabei überzeugt davon, dass ihm dieser penible Umgang mit den kleinsten Details Monsterfische eingebracht hat, die ansonsten entfleucht wären.
Seine Macken erinnern mich ein bisschen an das Buch des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz Irre! Aufgrund einer Kombination von Zufällen, Hartnäckigkeit und Instinkt ist es ihm gelungen, die Energie seiner psychischen Störungen zu nutzen, um für sich eine sinnstiftende und finanziell einträgliche Arbeit zu erfinden: Die des Monster-Anglers. Zu beobachten ist er in einer aufwendig produzierten Serien-Doku, die weltweit seit Jahren erfolgreich ausgestrahlt wird und der auch ich verfallen bin.
Mittlerweile verdient er gutes Geld damit und hat seinen Weg und sein Glück gefunden. Es jedoch ein Pakt mit dem Teufel. In den Momenten wo er Strapazen erleidet oder in erschöpfenden Drills mit mannsgrossen Fischen kämpft, liegt seine Seele für Millionen von Zuschauern offen. Einen weiteren Preis zahlt er dadurch, dass man sich diesen Abenteuern anscheinend nur ganz oder gar nicht verschreiben kann. Ein Familienleben mit Frau und Kindern ist für einen Besessenen nicht drin.
In River Monsters begleitet ihn der Leser bei seinen Expeditonsvorbereitungen und auf den strapaziösen Reisen, bei denen er die gefährlichsten Süßwasser-Raubfische in den entlegensten und abgefucktesten Winkeln der Erde angelt. So sehen wir ihn mehrfach im unerschlossenen Amazonas-Becken, dessen Zentrum Manaus ist. »Jede Menge Korruption, Prostitution, Armut, Verbrechen … ein großartiger Ort!«

Weiterhin angelt er in weiteren No-go-Areas wie dem bürgerkriegsgeschädigten Kongo oder sogar in Berlin am Schlachtensee, wo er mit dem jodelnden Schlachter Horst Welse verfolgte, welche Badende anfielen. Das halten nur die Härtesten aus.

Die Fische, welche er verfolgt, sehen tatsächlich größtenteils aus, als entstammen sie der Phantasie eines Alptraum-Designers. Beunruhigend vor allem, dass sie nicht im offenen Meer an exotischen Küsten, sondern im Landesinneren in Flüssen schwimmen. Wobei den nachhaltigsten Eindruck ein Winzling macht, den ich noch aus den Büchern Rüdiger Nehbergs kenne: Der Candiru, auch Vandelliinae oder Penisfisch genannt, der im Urinstrom badender Männer durch die Harnröhre in deren Blase schwimmt. Eine besonders bizarre und schmerzhafte Form der sexuellen Belästigung, die auch im hemmungslosen 21sten Jahrhundert jede Grenze des Anstands überschreitet.

Im Gegensatz zu den Filmen, welche man auf DMAX, Amazon Prime oder auf DVD schauen kann, erfährt man durch das Lesen des illustrierten Buches immer ein wenig mehr. Unter anderem über seine Technik tote Zeit zu überbrücken. Tote Zeit, dass sind die Zeiträume, die neben Anglern und Jägern auch Frontsoldaten beschreiben. Die meiste Zeit passiert nichts und dann, auf todbringende und gewalttätige Weise, viel zu viel gleichzeitig und dies viel zu schnell. Und darauf folgt wieder eine den Geist lähmende tote Zeit. Seine Technik, Körper und Geist zu trennen und sich dabei in einen Zustand zu versetzen, in welchem er diese Phasen überstand, ohne an Langeweile zu sterben, besteht darin, Körper und Geist mental zu trennen. Das lernt man natürlich nicht in einem Yoga-Tutorial auf Youtube, aber eine Grundausbildung beim Heer ist schon mal ein gutes Fundament.
Die Kapitel sind seltsamerweise anders angeordnet als die Filme der Staffel. Das erste Kapitel des Buches fand ich etwas hölzern, danach wurde es stilistisch immer besser. Oder verfiel auch ich dem Wahn der Rivermonsters? Wie auch immer. Ich mag Monster, ich mag Angeln, mir gefallen die wissenschaftlichen Einschübe – beispielsweise im Kapitel über den Bullenhai, was Salz- und Süßwasserfische unterscheidet – daher werte ich das Buch als gelungenes Infotainment.
Jeremy Wade, der nahezu alle Fische am Ende des Drills wieder freilässt – was in Deutschland verboten ist – möchte eigentlich für die Wildnis und ihre größten Räuber werben. Notorische Menschenfresser sind die allerwenigsten der dargestellten Fische und auch die statistisch gesehen bergen sie geringere Gefahren als Autos im Innenstadtverkehr. Insbesondere in den Fischgründen der Dritten Welt wird aus Unwissenheit und Verzweiflung viel zu hemmungslos gefischt, teilweise sogar mit Chemikalien oder Dynamit. So geht es selbst in den hintersten Ecken der Welt den Fischpopulationen erschreckend schlecht.
An dieser Stelle wird sich manch umweltbewegter Leser fragen, warum denn River Monsters trotzdem für das Angeln wirbt. Der Grund liegt darin, dass die Angler die Ersten waren und jetzt noch die Eifrigsten sind, die nicht nur reden, schreiben oder auf Demos Schilder schwenken, sondern sich ganz praktisch für die Renaturierung von Süßwasser-Gewässern und das Einsetzen neuer Fische engagieren. Ihr egoistischer und ehrlicher Antrieb ist es schlichtweg, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen und ihre Passion weiterbetreiben möchten.
Erweisen wir den Fluss-Monstern unseren Respekt, mahnt der Autor am Ende des Buches, denn der Tag, an dem das letzte Monster stirbt, ist der Tag, an dem auch der Fluss stirbt.
Und bald darauf sind wir dran.
»Flüsse sind die Adern des Planeten und wie gesund diese Adern sind, lässt sich daran ablesen, ob sich im Fluss noch Spitzenprädatoren finden lassen.«
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: River Monsters: Auf der Jagd nach den größten und stärksten Räubern in den Flüssen und Seen der Erde
Autor: Jeremy Wade
Verlag: Plassen Verlag ein Imprint der Börsenmedien AG
Verlagslink: http://www.plassen-buchverlage.de/buecher/River-Monsters.htm
ISBN: 978-3864702495
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Jeremy Wades Website: https://jeremywade.co.uk/
Jeremy Wade auf DMAX: https://www.dmax.de/programme/fluss-monster/