Buchvorstellung
Am südöstlichen Ende Russlands befindet sich die von den Chinesen shubai, das „Waldmeer“ genannte Urzeit-Landschaft. KRAUTJUNKER-Leser werden sie schon in der Rezension des Buches „Der Taigajäger Dersu Usala“ (siehe: https://krautjunker.com/2018/09/23/der-taigajaeger-dersu-usala/) literarisch durchstreift haben.
Wladiwostok, die wichtigste Stadt dieser Region, liegt südlicher als die französische Riviera, zieht aber weniger betuchte Badegäste an, da ihre Küste nicht nur sehr abgelegen, sondern vor allem bis Anfang April zugefroren ist. In harten Wintern erbeuten dort in den Vororten Tiger Hofhunde. 1997 musste eine dieser riesigen Raubkatzen am Flughafen erlegt werden, da sie nicht aufhören wollte, Autos anzufallen.
Nicht nur Natur und Technik, auch die Jahreszeiten prallen hier hart aufeinander. Die Sommer bieten Monsunregen und Taifune, die Winter arktische Schneestürme. Die Temperaturen können in dieser Region von minus bis plus 40°C schwanken. Wo vier biogeografische Zonen zusammentreffen, begegnen sich Pflanzen und Tiere aus der sibirischen Taiga, den mongolischen Steppen, den Subtropen Koreas und der Mandschurei sowie den Kalt-Urwäldern des hohen Nordens.
Die Ureinwohner teilen ihren Stammbaum mit den nordamerikanischen Indianern. Viele der Stammeskulturtechniken, die wir aus Amerika kennen – Totempfähle, Tipis, Birkenrindenkanus und Hundeschlitten – gab es schon früher hier.
Eine konfuse Lage, welche den Ehrgeiz von Wissenschaftlern, jede Landschaft korrekt zu etikettieren, auf eine harte Probe stellt. Nennen wir diese Region mit der größten Biodiversität einfach „borealer Dschungel“. Es wirkt wie die Szene kurz nach der Landung der Arche Noah, wenn sich Löffelreiher, Rotbeiniger Ibis und Giftschlangen ihr Habitat mit Rentieren und Wölfen teilen. Im selben Tal wachsen Birken, Fichten, Eichen und Kiefern neben wilden Kiwis, riesigen Lotuspflanzen und zwanzig Meter hohen Flieder. Nirgendwo sonst trinken Leopard und Himalaja-Schwarzbären aus dem gleichen Fluß wie Vielfraß, Elch und Braunbär. Die Spitze der Nahrungskette beherrscht der Sibirische- oder besser Amur-Tiger, die größte Katze und das gefährlichste Landraubtier der Welt.
Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze kann er bis zu drei Meter lang sein. Seine Schulterhöhe beträgt bis über einen Meter. Der Kopf eines Tigermännchens mit Backenbart, ist so breit wie die Schultern eines Mannes. Ein mit mit fingerlangen Reißzähnen bestücktes Tigermaul wird mit den schwersten Knochen fertig. Seine Pfotenabdrücke haben den Durchmesser von Topfdeckeln. Die Krallen des Amurtigers wirken wie eine Kombination aus Fleischaken und Stiletten und sind mit sagenhaften zehn Zentimetern so lang wie die von Velociraptoren. Im Gegensatz zu den Krallen von Wölfen oder Bären, welche hauptsächlich Halt geben und zum Graben dienen, sind sie nadelspitz und teilweise auf der Innenseite scharfkantig.
Dieses natürliche Waffenarsenal einer Raubkatze von 350 Kilogramm urtümlicher Muskelkraft, die aus dem Stand drei Meter hoch springen kann, ist der Grund, warum ausgewachsene Amur-Tiger alles jagen und fressen. Im Gegensatz zu den meisten Katzen schwimmen sie gerne und gut, so dass von Lachsen und Enten bis hin zu Wölfen und sogar ausgewachsenen sibirischen Braunbären kein Lebewesen vor ihnen sicher ist. Da die Tiere in den letzten hundert Jahren gelernt haben, dass im Osten Russlands fast jedermann in der Taiga bewaffnet ist, suchen sie unter normalen Umständen keine Konfrontationen mit Menschen. Anders ist es, wenn man sie ärgert. In dem Buch werden mehrere dokumentierte Fälle beschrieben, wie Tiger gezielt die Wilderer bejagten, von denen sie zuvor beschossen wurden.
»Wladimir Schtschetinin, der ehemalige Leiter der Inspektion Tiger und ein Experte für die Fährten des Amur-Tigers, hat in den letzten 30 Jahren mehrerer solcher Geschichten zusammengetragen. „Mein Team und ich haben mindestens acht Fälle untersucht“, sagte er im März 2007, „und es ist immer dasselbe: Wenn ein Jäger auf einen Tiger schoss, spürte ihn der Tiger auf, auch wen es zwei oder drei Monate dauerte. Es ist unbestreitbar, dass der Tiger genau auf den Jäger wartet, der auf ihn geschossen hat.“«
Abb.: Sibirischer Tiger, Bildquelle: Wikipedia
In ganz Asien gibt es keine Kultur, in welcher der Tiger nicht im kulturellen Gedächtnis als nahezu göttliches Wesen mit magischen Kräften verehrt wird. Nach einer wissenschaftlichen Studie sind in den letzten 400 Jahren eine Million Menschen Tigern zum Opfer gefallen, die meisten davon in Indien.
Die Naturvölker vom Baikalsee bis zum Pazifik waren Animisten. Sie errichteten ihm Schreine, verehrten ihn als Herrscher der Taiga und mystischen Ahnen des Clans. Leider sind die Ureinwohner am Verschwinden, da sie seit dem Kontakt mit der Zivilisation den gleichen Lastern und Krankheiten wie die Indianer Nordamerikas erliegen.
Reiche Russen, die heute auf die Jagd gehen, betrachten zwar den Wald mit einem ähnlichen Anspruchsdenken wie historische Adelige, verfügen aber weder über deren waidmännischen Ehrenkodex noch jagdliche Fähigkeiten. Oligarchen und Neureiche bilden in Russland zwar gewissermaßen eine neue Aristokratie, nur dass es ein Adel ohne Verpflichtung ist, der sich über dem Gesetz wähnt und dessen Launen weder von Tradition noch Religion in Schranken gehalten wird. Es sind Leute, die teilweise aus Geländewagen mit Zielfernrohren auf jedes Tier schießen und nicht nachsehen, ob sie getroffen haben. Oder die nachts mit Scheinwerfern in den Wald leuchten und auf reflektierende Augenpaare ballern.
Im neuzeitlichen Russland der Provinz „Ferner Osten“ beruht die wackelige wirtschaftliche Basis der Bevölkerung auf Holzwirtschaft, Bergbau, Fischerei und Jagd. Durch die Auflösung der Sowjetunion wurden Spannungen, Wut, Freiheitswillen und Unzufriedenheit freigesetzt, welche despotische Regierungen über Jahrhunderte gewaltsam unterdrückten. Die alte Wirtschaft und Moral brach zusammen, eine neue bildete sich nicht über Nacht. Ganze Industrien und riesige Gebiete wurden über Nacht privatisiert und durch gute Beziehungen und Schmiergeld in neuzeitliche Feudalherrschaften umgewandelt. Einfachen Menschen blieb oft keine andere Wahl, als sich von dem zu ernähren, was das Land hergab – und zwar unter der ständigen Missachtung von Gesetzten, die es auf die strategische Benachteiligung von Armen abgesehen zu haben schienen. Man lebte nicht, man überlebte.
»Frage an Radio Eriwan: Was versteht man unter „russischem Geschäftssinn“? – Eine Kiste Wodka stehlen, sie verkaufen und den Erlös vertrinken.«
Die Löhne waren niedrig, die Arbeitslosigkeit hoch und – zumindest in der Zeit zwischen 1997 und 2009 – der Staatsapparat unmotiviert und korrupt. Seit jeher paternalistisch, paranoid, fremdenfeindlich und gewalttätig sowieso. Habe ich die Inflation vergessen?
Viele Familien litten unter Armut, Orientierungslosigkeit, Gewalt, Alkoholismus und einer hohen Scheidungsrate. Vor der Jahrtausendwende lag die Lebenserwartung von Männern bei 58 Jahren. »Ein russisch-amerikanischer Autor behauptete einmal über die Russen, sie bräuchten nach der Perestrojka keine Wirtschaftshilfe, sondern eher eine Flugzeugladung Sozialarbeiter … Ein hartes Leben gilt als selbstverständlich, und besonders von Männern wird erwartet, dass sie damit fertig werden. Als Therapeut, Beichtvater oder Fluchtmöglichkeit bleibt nur der Wodka.«
Im Süden liegt China. Seit seinem Wechsel zur Marktwirtschaft wirtschaftlich immer mehr erstarkend, mit einem unersättlichen Hunger nach illegal geschlagenem Holz und auch Tigern. Die »ortsansässigen Russen fühlen sich von den Chinesen überfahren – von ihrer Betriebsamkeit, ihrer Geschäftstüchtigkeit und ihrem unersättlichen Appetit auf alles von Ginseng und Seegurken bis zu Amur-Tigern und slawischen Prostituierten.« Ihre unersätzlichen Naturschätze tauschten die Russen eifrig gegen zweitklassige Ware ein. »Gebrauchtwagen aus Japan, ausgemusterte Busse aus Südkorea, billige Synthetikkleidung und Obst voller Pestizide und Schwermetalle aus China.«
In der traditionellen chinesischen Medizin sind Tiger begehrt und dementsprechend teuer. Ihrem Blut, ihren Knochen und ihren Organen werden an Zauberkraft grenzende Wirkung nachgesagt. Manche glauben sogar, dass ihre die Schnurrhaare unverwundbar machen. Und natürlich gibt es auf dem ganzen Erdball solvente Interessenten für Tigerfelle. Zwischen 1992 und 1994 wurden etwa einhundert Tiere – ein Viertel des landesweiten Bestandes – gewildert und zum Großteil nach China geschmuggelt.
Aufgrund internationaler finanzieller Unterstützung und politischen Drucks wurde anschließend die Inspektion Tiger gegründet, um wieder so etwas wie Recht und Ordnung durchzusetzen. Die Teams – meist erfahrene Jäger und ehemalige Soldaten – wurden mit umfassenden Waffen, Vollmachten und Ausrüstungen ausgestattet, denn ihr Einsatz gleicht in vielerlei Hinsicht dem Drogenkrieg. Perspektivlose Bewaffnete, die sich keine Skrupel leisten können, haben die Möglichkeit auf die Schnelle viel Geld verdienen. In der Zeit nach der Perestrojka war aus Militärstützpunkten von Waffen über Sprengstoff so ziemlich alles zu haben. Mit genügend Geld konnte man mit einem Schützenpanzer durch die Taiga fahren. Aber auch die Tiger sind keine Schäflein, sondern jagen seit zwei Millionen Jahren große Beutetiere, unter anderem Menschen. Trafen von diesen drei Parteien in der abgelegenen Wildnis auch nur zwei aufeinander, konnten nur die Tiger von den Inspektoren Gnade erwarten – sofern sie friedlich blieben. Bei den anderen knallte es zwangsläufig.
»An einem klirrend kalten Dezembernachmittag in Sibirien wird der Wildhüter Juri Trusch zum Ort eines unglaublichen Geschehens gerufen. Im Wald hinter einer Einsiedlerhütte liegen die blutigen Überreste des Gelegenheitswilderers Markow im Schnee. Markow wurde durch eine offenbar sorgsam geplante Tat regelrecht ausgelöscht. Ein Akt der Rache – vollzogen von der blitzschnellen, vier Meter langen, 300 Kilo schweren Inkarnation eines Mythos: dem Amur-Tiger. Er ist der unbestrittene Herrscher der gewaltigen, prähistorisch anmutenden russischen Taiga.
Trusch ermittelt, dass dieses Exemplar nicht aus Hunger oder Notwehr gehandelt, sondern seinem Opfer gezielt aufgelauert hat. Ein nie dagewesener Fall. Wenig später schlägt es wieder zu. Trusch muss das Tier finden. Auf seiner Suche in der Wildnis lernt er den Tiger immer besser kennen – seine Geschichte, seine Motive, die ihn zum Menschenjäger machen, seine von erstaunlicher Intelligenz und Intuition zeugenden Handlungen. Bis es zum finalen Aufeinandertreffen der beiden Jäger kommt.«
John Vaillants Der Tiger – Auf der Spur eines Menschenjägers ist mehr als ein dokumentarischer Thriller. Es ist ein komplexes Mosaik-Bild aus Geschichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Hintergrund bildet die politische und wirtschaftliche Situation des Fernen Ostens Russlands zum Zeitpunkt der Handlung und die Protagonisten der Geschichte sind der menschenjagende Amur-Tiger, verschiedene Wilderer und Wildhüter, die genau porträtiert werden.
Was mich nicht minder fasziniert, ist die Vielzahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Evolution, Ökologie, Jagd und der Wechselwirkung zwischen Großkatzen und Primaten. Nach welchen Prinzipien schaffen es schwache Beutetiere, wie unsere äffischen Ahnen, Raubtieren zu entgehen? Und wie gelingt es einer sehr großen und streng riechenden Katze sich innerhalb der Sinnesreichweite von Hirsch- oder Wildschweinrudeln so unsichtbar zu machen, dass sie nicht bemerkt wird? Diese Rudel von Tieren mit hochentwickelten Sinnen und Überlebenserfahrung, sind so »nervös wie ein Haufen Beamter des Secret Service«. Um dies zu erreichen, benötigt der Tiger, neben Empathie und Intelligenz eine schon an das Metaphysische grenzende Fähigkeit, sich bis zur brüllenden Attacke nichtexistent zu machen.
Autos, Steckdosen und verdorbene Lebensmittel mögen mehr Menschen töten, aber in unserem kulturellen Bewusstsein ist die Angst eingraviert, wie wehrlos wir gegenüber diesem Superjäger sind. Weder unsere Geschichten noch unsere Psyche lassen es uns je vergessen, dass wir ohne Waffen zu ihrer natürlichen Beute zählen. Haben sie gewonnen, lassen sie unsere Körper in ihrem Verdauungstrakt verschwinden, als seien wir Hasen. Nun, und auch naturliebende Atheisten gruselt die Vorstellung, als dampfender Haufen Tigerkot zu enden.
Befindet man sich in der Wildnis in einer Konfrontation mit einem solchen Tier, beschreibt das Wort Angst eigentlich nicht, wie man sich fühlt. In das Maul eines brüllenden Tigers zu schauen, erfüllt selbst Kriegsveteranen mit einem animalischen Schrecken. Man fühlt sich, von sich selbst getrennt und ist in den ersten Sekunden gelähmt. »Nur selten wird man … mit einem so überwältigen Beweis seiner eigenen Verwundbarkeit durch eine lebendige, empfindsame Kraft der Natur konfrontiert.« Daher schlagen diese Raubkatzen eine Seite tief in uns an, wie es sonst nur den Monstern unserer Phantasien gelingt. Und daher ist es so schwer, Tiger frei leben zu lassen. Dies vor allem, wenn wir mit unseren Familien in der Nähe wohnen. Andererseits ist eine Wildnis ohne die natürliche Spitze der Nahrungskette defekt. Eine Lösung hierfür zu finden und den Tigern eine Chance zu geben, ist eine große Herausforderung. Das Lesen von John Vaillants Der Tiger – Auf der Spur eines Menschenjägers, lässt einen dies alles besser verstehen. Unterhaltsame und elegant geschriebene Lektüre ist das Buch zudem.
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PRESSESTIMMEN
»Das Buch liest sich wirklich so spannend wie ein Thriller. Die Spuren im Schnee, der Geruch des Holzfeuers, das Geräusch des Atems im winterlichen Wald – all das entsteht vor dem inneren Sinn des Lesers, so wie auch die Landschaft Primorjes und ihre Bewohner Konturen und Gesichter gewinnen. Es ist die Sorte Buch, die man gern an Winterabenden liest, mit gelegentlichem Blick in den dunklen, verschneiten Garten. Doch es ist noch mehr. Mit ebenso suggestiver Kraft zeichnet Viallant das Bild einer Gesellschaft – der Primorjes nach der Perestroika -, für deren Bürger das Leben zu einer Frage des Überlebens geworden ist und deren Beziehungen zur Natur sich infolgedessen verändern. … Wie Vaillant die haarsträubende Geschichte von Markow und dem Tiger in ihre sozialen und ökologischen Zusammenhänge einflicht, ist fesselnd und unbedingt lesenswert.«
Christian Jostmann, Süddeutsche Zeitung
»Diese Geschichte hätte man nicht besser erfinden können.«
Gabriele Hausmann, NDR 1 Niedersachsen, Bücherwelt
»So wie Hemingways alter Mann mit dem Meer und einem riesigen Marlin gekämpft hat, so fordert in John Vaillants packendem Tatsachenbericht der sibirische Waldhüter Trush ein hochgefährliches Raubtier heraus. … Vaillant, der fünf Kontinente und fünf Ozeane bereist hat, gilt als Spezialist für dokumentarische Thriller über außergewöhnliche Naturphänomene.«
Susanna Gilbert-Sättele, dpa
https://www.deutschlandfunkkultur.de/wuchtiges-epos-voller-schoenheit-und-grausamkeiten.950.de.html?dram:article_id=139314
Susanne Billig, Deutschlandfunk Kultur
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Anmerkungen
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Titel: Der Tiger – Auf der Spur eines Menschenjägers
Autor: John Vaillant
Verlag: Karl Blessing Verlag
ISBN: 978-3896673800
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Das Buch findet sich nicht mehr im Verlagssortiment, ist aber gebraucht für schmales Geld erhältlich. Einfach die ISBN kopieren und in die Suchmaske von https://buchhai.de/ eingeben.
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