300.000 Jahre Spitzentechnik: Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die frühesten Speere der Menschheit

Buchvorstellung

Wer auf der großen Achse Hannover – Braunschweig – Magdeburg – Berlin auf der A2 am ehemaligen Grenzübergang Helmstedt vorbeizischte, mag vielleicht die braune Touristische Unterrichtstafel mit dem Hinweis zum paläon gesehen haben. Hier, im Nirgendwo des ehemaligen Zonenrandgebietes sollte der Fahrer unbedingt den Bleifuß heben, die Autobahn verlassen und einen Zwischenstopp einlegen.

Das paläon ist mehr als ein herkömmliches Museum. Es ist ein Forschungs- und Erlebniszentrum rund um die ersten nachgewiesenen Jagdwaffen der Menschheit. Acht dreihunderttausend Jahre alte Holzspeere, die zwischen 1994 und 1998 bei Ausgrabungen im Braunkohletagebau Schöningen, Landkreis Helmstedt gefunden wurden.

Abb.: Die Schöninger Speere werden im paläon als Originale ausgestellt. Foto: Volker Minkus.

Die Öffnung dieses einzigartigen Fensters in die Altsteinzeit ist vor allem der Verdienst des Archäologen Hartmut Thieme vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege (NLD) und seines Teams.

Das futuristische Gebäude, entworfen von Holzer Kobler Architekten (siehe: https://holzerkobler.com/), erscheint wie ein überdimensionaler Spiegel, der die umgebende Landschaft reflektiert. Mich erinnerte es an Eisberge und Gletscher, die in den vergangenen Kaltzeiten nicht nur die norddeutsche Tiefebene bedeckten und das Land formten, sondern auch für die unterkühlte Mentalität und den flachen Humor der Norddeutschen verantwortlich sind.


Abb.: Das Forschungs- und Erlebniszentrum paläon bei Schöningen ist ein architektonisches Highlight in der Landschaft. Bildquelle: paläon.

Nachdem bereits im März 2017 auf KRAUTJUNKER der Blog-Beitrag Die Speere von Schöningen: Homo erectus und die » deutsche « Vorgeschichte (siehe: https://krautjunker.com/2017/03/19/die-speere-von-schoeningen-homo-erectus-und-die-%E2%80%8Adeutsche%E2%80%8A-vorgeschichte/) erschienen ist, fand ich Mitte Februar 2019 endlich selbst Zeit für einen Museumsbesuch.

Schon vor dem Betreten des Museums wird man durch das Außengelände eingestimmt, auf dem Przewalski-Pferde (Equus ferus) gehalten werden. Größere Wildpferde (Equus Mosbachiensis) gehörten seinerzeit zur bevorzugten Beute der Schöninger Jäger und waren sicher nicht leicht zu erlegen. Wer schon mal neben einem Reitpferd mit 180 cm Schulterhöhe stand und sich überlegt, dass die Homo heidelbergensis nur über eine Körpergröße von 160 bis 170 cm verfügten und Holzspeere besaßen, bekommt ein Gefühl für die waidmännische Herausforderung. Wie archäologische Funde belegen, teilten sie sich ihr Jagdrevier zudem mit Säbelzahnkatzen vom Typ Homotherium latidens.

Da das Museumsrestaurant leider zum Zeitpunkt meines Besuches ohne Betreiber war, konnte man sich im Gegensatz zu den Steinzeitjägern nicht an gegrillten Pferdesteaks stärken (Pardon, kleiner Witz).

Begeistert vom Ausstellungsbesuch musste ich mir dieses Buch besorgen, welches seltsamerweise im Museums-Shop nicht angeboten wurde.

Wo heute riesige Tagebaukrater in der von Ackerbau geprägten Landschaft klaffen, erstreckten sich vor über 300.000 Jahren an lichten Seeufern die Jagdgründe der ersten Menschen Norddeutschlands. Ihre Knochen wurden hier zwar bislang nicht gefunden, aber die Anthropologen vermuten, dass die Jäger dem Typ Homo heidelbergensis angehörten.

Das Abbild dieser Urmenschen wurde von der Pariser Künstlerin Elisabeth Daynes (siehe: http://www.daynes.com/en/hominids-reconstructions.html) nach den Maßen originaler Knochen eines spanischen Exemplars geschaffen. Da die Speere das technische Können und die geistigen Fähigkeiten ihrer Erbauer beweisen, zeigt die Plastik namens Hamlet einen nachdenklichen Jüngling. Da es keine gesicherten Erkenntnisse über die altsteinzeitliche Bekleidung gibt – und vermutlich um die weiblichen Besucherinnen zu erfreuen – ist Hamlet in jeder Hinsicht gut gebaut und nackt.

Abb.: Im Inneren zeigt das paläon eine moderne Ausstellungsarchitektur, hier im Bild die große Halle mit der Rekonstruktion eines Homo heidelbergensis unter der Statue eines Mosbachpferdes von Stephan Hüsch. Bildquelle: Tom Hübner.

Während die Schöninger Jäger vom Typ Homo heidelbergensis vor 300.000 Jahren das heutige Norddeutschland durchstreiften, war ihr Jagdrevier weder ein Paradies noch eine Kältewüste. Seinerzeit endete die letzte Warmzeit und das Klima hatte sich bereits auf zwei Grad unter den heutigen Durchschnitt abgekühlt. Fun-Fact am Rande der Klimadebatte: Hinter den Klimaschwankungen stecken neben Sonnenflecken vor allem Schwankungen in den Parametern der Erdbahn, was ihre Regelmäßigkeit erklärt. Erdgeschichtlich steht uns eine Eiszeit bevor.

Stellte man sich vor nicht wenigen Jahren die Homo heidelbergensis als primitive Figuren vor, die allenfalls Aas sammelten, hat unter anderem der Fund der Speere unser Bild von ihnen stark verändert. Es ist faszinierend, dass es nackten Affen gelang, die über weit weniger Körperkräfte als Löwen, Wildpferden oder gar Elefanten verfügten, sich zur dominierenden Spezies zu entwickeln.

Abb.: Die Speere und zahlreichen Tierknochen erweckten zunächst den Eindruck eines imposanten Jagdgeschehens mit einer Vielzahl an Jägern und Beutetieren. Inzwischen wissen wir, dass dieses Bild nicht stimmt und die Fundsituation das Ergebnis wiederholter Jagdereignisse am Seeufer ist. Abbildung: Toni Ungemach.

In Der Tiger (siehe: https://krautjunker.com/2018/12/11/der-tiger-auf-der-spur-eines-menschenjaegers/) heißt es, »der Grund, warum Wölfe so viel intelligenter als Hirsche wirken, darin liege, dass sie andernfalls verhungern würden. Während die Nahrung der Hirsche unbeweglich und reichlich vorhanden ist, bewegt sich die der Wölfe nicht nur ständig, sondern tut ihr Möglichstes, um nicht gefressen zu werden. Um Erfolg zu haben, müssen Raubtiere aktiv und bewusst sinnvolle Jagdmethoden entwickeln, indem sie sich an zufällige Ereignisse in einer veränderlichen Umgebung anpassen und sie aktiv gestalten. Das ist, wie Jäger und Geschäftsleute wissen, nicht einfach, und die Bedingungen begünstigen fast immer die Beute.«

Detaillierter als es jede Ausstellung mit Führung oder Audio-Guide vermag, stellt das Buch reich illustriert die Welt der ersten europäischen Jäger und Sammler vor.

Die einzelnen Kapitel des Buches stammen von Fachleuten der unterschiedlichsten Fakultäten und stellen die Welt der Speerjäger in allen Facetten vor. Der Bogen spannt sich von Klimaschwankungen und die damit wechselnde Flora und Fauna, über die Werkzeuge und Waffen unserer Vorgänger bis hin zu ihren Jagdmethoden und Überlebensstrategien. Teils sind die Beiträge sehr akademisch, wie die Erklärung wissenschaftlicher Theorien und Nachweise, teils auch praktisch, wie »Speere im Einsatz – Nachbauten der Schöninger Holzwaffen im Experiment«.

Grundsätzlich richtet sich das Buch aus der THEISS EDITION AiD mit seinen vielen Illustrationen und Fotos mehr an interessierte Laien als an Archäologen, die sich auf die Altsteinzeit spezialisiert haben.

300.000 Jahre Spitzentechnik ist eine schöne Ergänzung zu dem paläon, dessen Besuch ich unbedingt empfehle, auch mit Familie. Es gibt im Museum auch eine Abteilung für Kinder, in der sie spielerisch an die Welt der steinzeitlichen Jäger und Sammler herangeführt werden. Und natürlich in den Außenanlagen die Wildpferde, welche wir im Gegensatz zum Homo heidelbergensis von unserer Speisekarte gestrichen haben. Aus Gründen der Fairness müssten wir ansonsten auch wieder Säbelzahnkatzen mit Holzspeeren entgegentreten und dies würde den Besucherstrom deutlich ausdünnen.

Von daher: Respekt vor dem Können und der Härte der ersten Menschen sowie den Idealisten, die sich ihrer Erforschung und Präsentation widmen.

***

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: 300.000 Jahre Spitzentechnik: Der altsteinzeitliche Fundplatz Schöningen und die frühesten Speere der Menschheit

Verlag: wbg Theiss

Verlagslink: https://www.wbg-wissenverbindet.de/11754/300.000-jahre-spitzentechnik

ISBN: 978-3-8062-3697-2

*

Das paläon:https://www.palaeon.de/

3 Kommentare Gib deinen ab

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s