von Werner Berens
Wenn eisige Winde die blattlosen Zweige der Büsche am Ufer unserer Seen kämmen, aber das am Morgen dampfende Wasser noch offen liegt, wenn der Frühnebel über dem Flussbett steht, ist die Zeit zum Winterfischen gekommen. Der stürmische Herbst liegt hinter uns und die vom Frühherbst bis jetzt verstrichene Zeit nur gelegentlicher Fischerei ist zu lang geworden. Auf den Frühling will ich nicht warten und die Erinnerungen an den Sommer verblassen allmählich. Draußen in der einsamen, grauen Kälte warten unter den Ufern und am Seegrund die Hechte. Hechtzeit ist jetzt. Es war an der Zeit, gemeinsam eines der bekannten Hechtreviere aufzusuchen, wo auf endlosen Kanälen und weiten Seen sich die Kähne der Fischer verloren, wo man sich am Abend erst wieder traf, um auf dem Bootssteg die Strecke zu legen.

In der Nähe Amsterdams war ein solcher ehemaliger Torfstich, der uns jetzt unwiderstehlich anzog. Am Ende einer Stichstraße lag eine verräucherte Kneipe, in der wir die Tageserlaubnis und die Schlüssel für die Vorhängeschlösser bekamen, mit denen die schweren Holzkähne mittels einer Kette an einem Ring des Bootsstegs befestigt waren. Am Steg waren etwa zwanzig Kähne vertäut, von denen an diesem Morgen schon vier mit ihren Fischern im Irrgarten der Kanäle verschwunden waren. Zu zweit besetzten wir jeweils einen Kahn und machten die Hechtruten zurecht. Ein toter Köderfisch auf einen Drilling aufgezogen kam an das Stahlvorfach. Eine schwere Pose wurde so ausgebleit, dass sie weit genug und auch aus größerer Entfernung sichtbar über das spiegelglatte Wasser ragte. Dann wurden beide Ruten hinten links und rechts über den Bootsrand gelegt und mit dem Handteil im Bodenrost des Kahnes befestigt. Jetzt erst ruderten wir vom Bootssteg weg in die Kanäle hinein, denn Hechte konnten hier überall stehen und manch guter Fang war schon bei der Ausfahrt oder der Heimkehr in unmittelbarer Nähe des Stegs gelungen. Mit gemächlichem Ruderschlag, die Köder im Schlepp, ging es in die unübersichtliche Wasserwelt hinaus. Zahlreiche fünf bis zehn Meter breite und zwei bis drei Meter tiefe Gräben, angefüllt mit dunkelgrünbraunem Wasser hatten die früheren Torfabgrabungen hier zurückgelassen. Zwischen Ihnen lag jeweils ein zwei Meter breiter Streifen sumpfigen Landes, auf dem jetzt im Winter dünnes Erlen- und Weidengesträuch kahl und wie verloren herumstand. Rechts und links konnte man durch das dunkelgraubraune Geäst der in den Dunst ragenden Sträucher bis zu zwei Nachbarkanäle sehen. Aber um hineinzukommen musste man oft mehrere Hundert Meter rudern bis zu einem Stichkanal, der zum nächsten Kanal verband. Das Gebiet war riesig, und wer sich in seinem Innern befand, rechts und links die gleich aussehenden Nachbargräben durch das Gesträuch beobachtete, den konnte Unsicherheit überfallen, ob er aus dieser gleichförmigen, kalten, toten Wildnis je wieder in die Wärme der Kneipe am Anfang des Irrgartens zurückfinde. Man wähnte sich manches Mal in völliger Einsamkeit, denn nur der Zufall brachte Begegnungen mit anderen Booten zuwege. So ruderten wir abwechselnd durch in der Frühe dampfendes Wasser durch gleichförmige Kanäle. Die anfängliche Spannung flaute allmählich ab, wenn nach einer Stunde immer noch kein Hecht eine der Posen zum Abtauchen gebracht hatte. Kälte kroch durch den Parka und in die Füße, die trotz wärmender Stiefelsocken in den Gummistiefeln klamm wurden. Bewegen konnte man sich auf dem Boot nicht viel und nur an wenigen Stellen war der Grund auf den Landstreifen fest genug, dass man eine Pause machen und sich die Füße vertreten konnte. Die Thermoskanne mit heißer Brühe war oft für etliche Stunden das einzig Wärmende. Aber trotzdem würde niemand vor dem Einbruch der Dunkelheit aufgeben wollen. Zu riesig war das Gebiet und zu zahlreich waren die Möglichkeiten, doch noch einen oder mehrere gute Hechte zu fangen.

Die Zeit stand in dieser grauen, kalten Wasserwildnis und mit der Eintönigkeit der gemächlichen Ruderschläge trieb der Kahn mit uns immer weiter weg von den Alltagsgeschäften und den Gedanken daran. In der Ferne der Erinnerung verschwanden die durchfischten Sommertage und die Gespräche verstummten. Von Zeit zu Zeit wurde- mit den Gedanken weit weg- mehr oder weniger mechanisch der Köder kontrolliert. Und dann kam unvorhersehbar plötzlich eine untergehende Pose in die Langsamkeit, zwang zu einem überhasteten Aufwachen und zu einer Rückkehr in die wirkliche Welt. Ein Hecht hatte den Köder genommen, und wenn wir Glück hatten, war der Fisch weit genug in seinem Maul und der Haken saß beim Anhieb. Unterstände, in die er hätte flüchten können, gab es in den schnurgeraden Kanälen nur wenige. Und nach einem kurzen Drill, wenn die Leine stark genug war, konnte er über den Kescher geführt werden. Wenn er dann abgeschlagen im Boot lag, waren wir wieder in der Welt des Fischefangens angekommen, die Aufmerksamkeit stieg und die Bewegungen wurden schneller, denn jetzt konnte es Schlag auf Schlag gehen, weil oft mehrere Hechte in einem begrenzten Gebiet zusammen standen. Wenn das in diesem Bereich der einzige Fang blieb, kehrte irgendwann wieder der alte Rhythmus zurück und gegen Mittag trafen wir uns dann auf einer festen Insel mit den Insassen des anderen Bootes und man begutachtete den Fang der jeweils anderen. Manchmal kam es auch vor, dass niemand gefangen hatte und wir verabredeten uns, zum großen See zu rudern. In diesen mündete ein Kopfkanal, der quer zu den anderen verlaufend alle Kanäle an ihrem Ende miteinander verband. Aber während auf den Kanälen das Wasser still war, wurde die Oberfläche des Sees oft von den Westwinden am Nachmittag zu Wellen von ungemütlicher Höhe aufgetürmt. Und wenn das Abfischen des Ufers eine Stunde lang erfolglos blieb, kehrten wir meistens wieder in die Kanäle zurück. Die frühe Dunkelheit zwang uns, den am anderen Ende der Kanäle liegenden Bootsverleih anzusteuern. Auf dem langen Weg dorthin konnte noch mancher Hecht beißen und einmal fing ein Angelkamerad einen Burschen von einmeterzwanzig, als er schon aus dem Boot auf den Steg kletterte. Seine Angel lag noch auf dem Rand des Bootes und sein Mitfahrer sollte sie ihm zum Entfernen des Köderfisches und zum Zusammenschieben herausreichen. Da biss der Hecht und vom Bootssteg aus schloss sich ein aufregender Drill an, der mit der mehr als glücklichen Landung des Hechtes endete, denn dieser hatte sich zuletzt unter dem Steg festgesetzt, wo er wohl mit der Leine um einen der Stützpfähle geschwommen war, Aber schließlich folgte er doch dem beständigen Zug der Leine wohl vor allem deshalb, weil er nicht weit genug den Pfahl umrundet hatte und sich so der Zug der starken Schnur immer noch auf ihn übertrug. Dieses Ereignis hatte damals genügend Zuschauer gefunden, denn bei Anbruch der Dunkelheit kehrten die in der Wasserwildnis weit verstreuten mit jeweils zwei Fischern besetzten Kähne alle zurück zum Steg. Diese mussten nun mit dem Vertäuen der Boote warten, biss der Drill so oder so beendet war. Die Kähne dümpelten 50 Meter vor dem Steg und die Fischer beobachteten und kommentierten ein Geschehen, an dem sie als der glückliche Fänger gern beteiligt gewesen wären. Und als der Hecht erschöpft mit dem riesigen Kescher von den Angelkameraden aus dem Wasser gewuchtet wurde, brandete Beifall auf und der Fänger konnte Glückwünsche in niederländischer, deutscher und englischer Sprache entgegennehmen, denn hier war man nicht Angehöriger einer Nationalität, sondern Fischer. Der Bootssteg wurde von der Straßenlaterne unmittelbar davor beleuchtet und die Tür der Kneipe nebenan öffnete sich. Heraus kamen die schon vorher eingetroffenen Fischer und dann wurde der Hecht gebührend bewundert und mit ihm an der Spitze der Reihe die Strecke gelegt, denn auch die anderen Boote bargen durchaus gute Fänge. Nachdem eine Zigarettenlänge lang Gemurmel und leises Gelächter der herumstehenden Fischer das Winterangeln für diesen Tag beendet hatten, wurden Ausrüstung und Fische verstaut und alle brachten die Kälte des Tages und seine Geschichten in die verräucherte Landkneipe, wo sie sich in Wärme auflösten und mit einigen Genevern zum Abschluss des Angeltages der Erinnerung übergeben wurden.

Die Heimfahrt war meistens still. Der lange, kalte Tag in der Einsamkeit der Kanäle, in der Langsamkeit und der Gleichförmigkeit der Bewegungen, der Fang des einen oder anderen Hechtes hatte Spuren hinterlassen und man fand nur allmählich in den gewohnten Rhythmus zurück. Und am Ende der Nachdenklichkeit und zurück im Gewohnten war man sich sicher, dass man Winterangeln an diesem Ort oder einem ähnlichen wiederholen würde, um in der wintereinsamen Kälte, die das Leben langsamer macht und die zu intensiver Wahrnehmung zwingt, dem Wesen des Fischens und sich selber näher zu kommen.
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KRAUTJUNKER-Autor Werner Berens

Werner Berens ist Fliegenfischer, Jäger, Autor und Genussmensch, der den erwähnten Tätigkeiten soweit als möglich die lustvollen Momente abzugewinnen versucht, ohne aufgrund kulinarisch attraktiver Beute übermäßig in die falsche Richtung zu wachsen. Als Leser und Schreiber ist er ein Freund fein ziselierter Wortarbeit mit Identifikationssmöglichkeit und Feind von Ingenieurstexten, die sich lesen wie Beipackzettel für Kopfschmerztabletten. Altermäßig reitet er dem Sonnenuntergang am Horizont entgegen und schreibt nur noch gelegentlich Beiträge für das Magazin FliegenFischen. Hier findet Ihr Werner Berens‘ Bücher auf Amazon!
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Anmerkungen

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Titel: Von Fischern und Fischen – Geschichten vom Abenteuer Angeln
Autor: Werner Berens
Verlag: Franckh Kosmos Verlag
ISBN: 978-3440098578
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Mehr aus dem Buch: https://krautjunker.com/2020/08/16/zanderblau/