von Severin Corti
Schnepfe und erst recht die etwas größere Waldschnepfe sind aus unseren Speisekarten so gut wie verschwunden. Der von Kennern geradezu mythisch verehrte Bratvogel bleibt deshalb fast ausschließlich Jägern vorbehalten – wenn sie richtig gute Schützen sind. Schnepfen haben nämlich eine extrem erratische Flugbahn. Ein paar Zitate aus der Gastronomiegeschichte sollen die außerordentliche Stellung dieses Vogels bei den großen Feinschmeckern darstellen, bevor es ans Essen geht.
Grimod de la Reynière noch vor Brillat-Savarin der erste literarische Gastronom, wertet die Schnepfe ebenso schlicht wie schockierend als „das Nonplusultra aller irdischen Freuden“. Alexandre Dumas der Mantel-und-Degen-Romancier und noch bessere Koch, warnt davor, Schnepfen anders als mit Messer und Gabel zu verspeisen: Würde die Hand vom göttlichen Saft des Vogels benetzt so Dumas, „müsste man fürchten, sich im Rausche des Genusses sämtliche Finger abzubeißen“.
Das ist, natürlich, bloß ironisch gemeint: Einer gebratenen Schnepfe kann man einzig durch restloses Abnagen und animalisches Aussaugen aller Säfte Gerechtigkeit widerfahren lassen – und das geht halt nur mit handfestem Einsatz. Denn die Waldschnepfe (französisch Bécasse, englisch , italienisch Beccaccia – in diesen Sprachen wird man sie am ehesten auf einer Speisekarte finden) ist ein kleiner Vogel, der, gerupft und im Ganzen kurz gebraten, gerade mal 300 Gramm auf den Teller bringt.

So aber stellt er, wie der britische Koch und Architekt Fergus Henderson anmerkt, eines der größten essbaren Erlebnisse überhaupt dar. Wobei das mit dem „ganzen Vogel“ durchaus wörtlich zu nehmen ist: Weil Schnepfen sich erleichtern, bevor sie losfliegen, werden sie nach klassischer, puristischer Manier – und nur die erscheint zulässig – tatsächlich mit Butz und Stängel gebraten, also ohne vorher ausgenommen worden zu sein.
Nach wenigen Minuten heftiger Ofenhitze, während deren die Brust die meiste Zeit von ungeräucherten Speck geschützt ist, wird der Vogel warm gestellt, man holt die blutigen Innereien aus der Bauchhöhle, brät sie kurz in Butter, löscht mit ein, zwei Teelöffeln Armagnac oder Portwein und einigen, wenigen Tropfen Zitronensaft ab, salzt und pfeffert verhalten und häuft den so vollendeten Schnepfendreck auf die „Rôties“, in Butter geröstete Baguette-Scheiben. Der knappe Bratensaft wird mit einem Hauch Armagnac flambiert, fertig. Ja nicht zu viel von irgendwas, das würde den Eigengeschmack nur gefährden. Waldschnepfe sollte nach Fearnley-Whittingstall mit „dem besten Bordeaux, den die Börse zulässt“, gefeiert werden.
So haben wir es auch gemacht, als wir unlängst Tisch und vier Vögel im Londoner Restaurant Wiltons ergattern konnten, einem der wenigen Plätze, wo Schnepfen zur Jagdsaison (bis Ende Dezember) angeboten wird. Wiltons existiert seit 1742, ist für Wildgeflügel und Krustentiere berühmt sowie dafür, dass sich die Gäste in der Mehrzahl aus dem Adel und den oberen Rängen der Tory-Partei rekrutieren, weshalb man das Etablissement bis heute ausschließlich im Anzug betreten darf.

Die Krawattenpflicht hingegen wurde unlängst gelockert, es geht halt alles den Bach hinunter. Ein stabiler Besenstiel im Hintern ist hier dennoch angezeigt, zumindest der darf unverändert als Erkennungszeichen unter seinesgleichen gelten.
Also ein passender Ort, um die erste Waldschnepfe zu verinnerlichen. Sie kam, wie sie kommen sollte: kompromisslos blutig gebraten, der Kopf mit dem langen, geraden Schnabel der Länge nach gespalten, damit man das kaum nussgroße Hirn mittels Kaffeelöffels ausschabe, der Dreck recht stark gewürzt und gar fein faschiert, aber von berückender Kraft. Das Fleisch bar jeden Fetts, von dichter, fester Konsistenz, von betörend mineralischem Geschmack, unheimlich tiefem und lang anhaltendem Aroma, leicht tannenwipfelharzig, nach Heide und Moos duftend: ganz und gar einzigartig und von euphorisierender Wildheit.
Minutiös wurde jedes noch so winzige Knöchelchen abgenagt, bis plötzlich ein feines, rubinrotes Rinnsal, ganz langsam meine linke Hand hinunterrann und irgendwann in der Manschette versickerte. Der Mann am Nebentisch, ein Herr in fortgeschrittenem Alter mit beachtlichen Tränensäcken, sah ihm regungslos beim Rinnen und Verschwinden zu. erst als die Hemdkante ein dunkles Rot angenommen hatte, widmete er sich wieder seinen Tischgenossen.

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Severin Corti
Severin Corti ist der Sohn von Cecily und Axel Corti. Er war Koch und schreibt seit 2005 in der Tageszeitung Der Standard die Restaurantkritik. Corti studierte Philosophie und Ethnologie an der Universität Wien (ohne Abschluss) und arbeitete als Werbetexter, bevor er Journalist wurde. Nach jeweils einem Jahr bei der Kronen Zeitung und der Zeitschrift News wurde er Redakteur beim Kurier und in der Folge dessen langjähriger London-Korrespondent. Beim Standard war er bis 2015 angestellt, schrieb über sechs Jahre das montägliche Einser-Kastl auf der Titelseite. Heute ist Corti selbstständig. Neben dem Journalismus erarbeitet er Konzepte für die österreichische und internationale Hotellerie und Gastronomie.
Quelle: Wikipedia
https://www.falstaff.de/a/severin-corti/
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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe sowie Becher aus Porzellan und Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Häuptling Eigener Herd, Heft Nr. 36
Autor: Severin Corti
Herausgeber: Wiglaf Droste und Vincent Klink
Verlag: © 2008 Edition Vincent Klink
Website: https://vincent-klink.de/
ISBN: 978-3-927350-34-2
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Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Vincent Klink, Küchengott im Restaurant Wielandshöhe in Stuttgart. Ich empfehle den Besuch seines Gourmet-Tempels.
