von Christoph Schwennicke
Manchmal fragt man sich: Muss das sein? Es ist halb fünf morgens, der Wecker piept hässlich digital vor sich hin, der Magen rebelliert gegen diese frühe Störung, Sodbrennen, Müdigkeit, Benommenheit und Verwirrung: Wie, was, wieso? Ach so, ja, Scheuring, Dänemark, die Meerforellen.
Beim schwarzen Kaffee frage ich mich ernsthaft, was das soll. 470 Autobahnkilometer, einfach, drei Umleitungen und Christoph Scheuring warten auf mich. Letzterer kurz hinter Flensburg an der dänischen Grenze. Dann vier bis fünf Stunden in der drei Grad kalten Ostsee stehen, etwa 260-mal mit aller Kraft den Blinker in die See schleudern, um am Ende mit einiger Sicherheit keinen einzigen Fisch gefangen zu haben und die 470 Kilometer von Sonderburg wieder nach Berlin zurückzufahren.
Es ist ein Dienstag Mitte Februar, die Amseln flöten, als ich das Haus verlasse. Die frische Luft tut gut. Das ist schon wieder so ein Moment, für den sich das ganze Unterfangen rentiert. Die kühle Morgenluft, die Amseln, die Aussicht auf den Tag.
Im Grunde hatte dieser Tagesausflug nach Dänemark schon vor mehr als elf Jahren begonnen. Damals war mir eine Geschichte im ZEITmagazin untergekommen, die mich nie mehr losgelassen hat. Sie handelt von einem Angelausflug nach Irland, die ein sehr verehrungswürdiger Kollege geschrieben hatte, und zwar mit einem bis dahin ungelesenen Gespür für das Thema, den Ton, die Sache. Christoph Scheuring eben. Die Geschichte erzählt davon, praktisch vorsätzlich keinen Lachs zu fangen, dafür ein Schweinegeld auszugeben und dabei glücklich zu sein. Keine Lachse fangen in Irland, diese Geschichte von Scheuring war für mich über all die Jahre das Maß der Dinge geblieben.
Ich hatte Scheuring, den ich gar nicht kannte, in der darauffolgenden Zeit publizistisch aus den Augen verloren, nachdem er nach Stationen bei Stern und Spiegel für einige Zeit als besonderer Reporter bei der Bild-Zeitung gearbeitet hatte. Ich kannte ihn wie gesagt nicht, aber als zweifacher Kisch-Preisträger für die Bild zu arbeiten, dazu gehört schon was, das imponierte mir, weil es so unkonventionell war.
Ich wusste also, dieser Mann musste etwas Besonderes sein. Er konnte schreiben, und er konnte angeln. Er war mein Vorbild, ohne dass er das wissen konnte. In den folgenden jahren fiel mir einmal eine Kolumne im Blinker über altes Angelgerät auf, Kleinode, Liebhaberstücke, die ein Autor namens Christoph Scheuring so empfindsam beschrieb, dass ich mir einigermaßen sicher war, dass es sich um den Scheuring handeln musste. Später bereitete ich mich auf einen Urlaub in Slowenien vor und kaufte dazu ein Merian-Heft, in dem ein gewisser Christoph Scheuring über die Marmorata, einen anbetungswürdigen endemischen Salmoniden der Soca schrieb.
Ich dachte mir: Der Scheuring, der hat’s geschafft, der schreibt nur noch über Sachen, die ihn wirklich interessieren, die ihm wirklich was bedeuten. Die Marmorata, eine alte DAM-Rolle, den Lachs. Ich aber schrieb weiter über Rudolf Scharping, Guido Westerwelle und Renate Künast.
Ich hatte irgendetwas falsch gemacht und Christoph Scheurung alles richtig.
Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und rief ihn an. Ob er sich einen gemeinsamen Angelausflug vorstellen könne. Er wähle den Zielfisch und den Ort. Scheuring war aufgeschlossen, schlug ein gemeinsames Meerforellenfischen in Dänemark vor.
Das fand ich eine sehr gute Idee, denn die Meerforelle ist die kleine Schwester des Lachses und ähnlich aussichtslos zu beangeln. Man sagt, auf 1500 Würfe kommt eine Meerforelle.
Prächtig. Keine Meerforellen fangen, dafür an einem Tag fast tausend Kilometer Auto fahren und dazwischen in eiskaltem Ostseewasser stehen. Der Vorschlag gefiel mir sehr. Und doch verging noch einige Zeit bis zu diesem Dienstag Mitte Februar. Mal konnte er nicht, mal konnte ich nicht.
Schließlich aber rolle ich an diesem Dienstag, Mitte Februar, langsam auf den Parkplatz nach der Grenze. Das Erste, was man von Dänemark sieht, sind zwei Sexshops, einer auf der rechten, einer auf der linken Straßenseite, der Däne lebt immer noch vom Ruf der Skandinavier aus den Siebzigern. Dann mache ich den besagten dunkelroten 124er Mercedes von Scheuring aus und am Eingang der Touristeninformation einen Mann am Handy, der mit einer Hand winkt.
Wir stellen uns vor, holen die Angelkarten und laden die Sachen in seinen Diesel. Ein paar peinliche Momente habe ich zu überstehen. „Da nimmst du mal besser die“, sagt er nach einem Blick auf meine Rute, die den stolzen Namen Bullfighter trägt, und die mir als geeignete Meerforellenrute verkauft worden war. Er drückt mir eine Rute von sich in die Hand, die fast nichts wiegt, geschmeidig im Spitzenteil ist, einen kräftigen Rücken hat und doch nicht zu hart ist. Meine Rolle immerhin hat vor dem kritischen Auge von Zeugwart Scheuring Bestand. Etwas kleinlaut muss ich einräumen, dass ich ein Messer vergessen, nichts zu essen besorgt habe und keine Ersatzwirbel in meiner kleinen grünen Utensilienkiste mehr zu finden sind.
Scheuring ist milde, und wir fahren los. Unterwegs lerne ich viel über die Meerforelle, wann sie wo und wie und warum am besten beißt, warum das etwas mit dem abschmelzenden Eis im Norden der Ostsee zu tun hat, mit dem Salzgehalt und der Dichte des Wassers und mit den Futterfischen.
Scheuring weiß sehr viel, und ich komme mir wieder vor wie der, der sein Messer vergessen hat und seine Brotzeit.
„Im Grunde“, sagt Scheuring, „wissen wir gar nichts.“ Das hört sich fast philosophisch an. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und ich bin wieder etwas beruhigter.
Der ehrwürdige, greise Benz holpert die letzten Meter über einen Feldweg und bleibt auf einer kleinen Lichtung stehen.
Wir sind da, sagt Scheuring. Beide ziehen wir uns nach dem Zwiebelprinzip an und stülpen darüber die Wathose aus Neopren, in der jeder noch so wohlgewachsene Mann aussieht wie ein Michelin-Männchen, und ganz so wohlgewachsen sind wir beide nicht mehr, mit den entsprechenden Folgen.
Mein Guide gibt mir aus seiner Sammlung ein paar Blinker, nachdem er meine fachmännisch zu chinesischer Billigware erklärt hat. Ich befestige meine Rolle an Scheurings feiner Rute und bereite die Montage vor. Ich habe eine feine gelbe, geflochtene Schnur auf der Rolle. Bei einer geflochtenen Schnur, die sich überhaupt nicht dehnt, knüpfen Könner immer noch zwei Meter monofile, dehnbare Schnur zwischen Hauptschnur und Blinker, also auch Scheuring, die sehe man nicht so wie die gelbe, geflochtene, sagt Scheuring, außerdem dehne sie sich und pariere so auch Fluchten.
Wir gehen gemeinsam an der Kante einer Kuhwiese entlang, ganz Dänemark besteht vor allem aus Kuhwiesen. Zu unserer Rechten das Meer und eine Hecke aus blätterlosen Hagebutten und Sanddorn, die der Westwind streng nach rechts gekämmt hat. Heute allerdings ist es beinahe windstill, das Meer liegt fast ölig da. Kein gutes Zeichen, wie Scheuring sagt, bei solchem Wetter müssen auch die Räuber befürchten, bei einer Attacke auf einen Futterfisch an der Oberfläche Opfer einer starken Möwe zu werden.
Mir stößt das Bulettenbrötchen auf, das ich an einer Autobahnraststätte zu einem Kaffee heruntergeschlungen hatte. Ich wollte mich nicht verspäten. Der Preis für die Pünktlichkeit ist ein anhaltendes Sodbrennen, das erst gegen Nachmittag nachlassen wird.
Wir erreichen das Ende der Landzunge und waten mit unseren Gummihosen ins Wasser, bis es uns bis zur Hüfte steht. Nach höchstens zehn Minuten nestelt Scheuring das erste Mal an seinem Köder herum und tauscht den Blinker aus. Ich glaube fest an meinen Hansen Flash, 20 Gramm schwer, rot-schwarz gestreift, ein Klassiker, wie ich mir habe sagen lassen.
Eine halbe Stunde vergeht. Die Sache läuft ganz nach Plan. Es passiert nichts.
„Was willst’n schreiben in die’m Buch?“, fragt Scheuring.
Ich erkläre meine Angeltheorie, rede vom Verlust im Drill, von der Verbindung zum Fisch, von der Verlustangst als solcher.
Scheuring hört sich das an und denkt nach. Dann sagt er: „Nein. Das glaube ich nicht.“
Na toll, denke ich.
Es habe damit zu tun, sagt er und deutet auf die dunkle Wasseroberfläche, dass wir nicht wissen, was sich da unten abspielt. Wir bildeten es uns zwar ein, aber in Wahrheit wüssten wir nichts, gar nichts.
Angeln, sagt Scheuring, „ist eine Gleichung mit 30 Unbekannten“. Und nur wenn man alle Unbekannten durch Zufall richtig treffe, fange man einen Fisch. Es reichen keine 27 und keine 29. Alle 30 müssen stimmen.
Heute scheinen wir an die 30 bei weitem nicht ranzureichen. Weiter tut sich nichts. Manchmal bleibt man mit dem Blinker im Kraut hängen, dann gibt der Widerstand kurz die schöne Illusion eines Fisches, mehrmals kurbeln wir danach auch schwerer, weil sich ein Stein an einer langen Krautfahne am Haken verfangen hat.
Wir haben uns allmählich bis an die nächste Spitze vorangearbeitet und eine Ecke erreicht, an der ein Meeresarm ins Festland hineinreicht. Ich frage Scheuring, ob er eigentlich auch gerne hochseeangeln geht, also mit dem Boot raus aufs offene Meer.
„Ja“, sagt er, „manchmal finde ich es ja auch ganz schön, beim Angeln Fische zu fangen.“ Der Mann gefällt mir immer besser.
Inzwischen ist Scheuring sein eigener Herr, unterhält mit einem Fotografen zusammen eine Agentur und arbeitet zum Beispiel für den Edel-Uhren-Hersteller Lange. Ein Jahrbuch im Jahr, auf feinstem Papier, in feinstem Druck, mit feinsten Texten – Hochglanzjournalismus im Dienste eines der vornehmsten Uhrenhersteller in Deutschland, wenn nicht der Welt.
Scheuring lebt unaufwendig und nimmt sich im Übrigen viel zeit, zum Fischen zu gehen, zu Hause auf Zander oder in Dänemark auf Meerforellen. Der Mann setzt seine Prioritäten völlig richtig, denke ich, während ich mechanisch das eine ums andere Mal auswerfe.
Das sei von den Bedingungen her eine ideale Stelle, sagt Scheuring. Es geht eine starke Strömung, was die Fische eigentlich lieben. Aber er sagt auch: „Hier habe ich noch nie einen Fisch gefangen, keine Meerforelle und auch keinen Dorsch, nichts.“
Das hört sich gut an. Das Wasser fällt ungleich steiler ab hier. Man kann nur ein paar Meter hineinlaufen, dann ist Schluss, sonst läuft die Hose voll. Ich schleudere den Hansen Flash so weit ich kann und hole wieder ein, einmal, zweimal, dreimal, viermal, da plötzlich wenige Meter vor meinen Füßen: Widerstand, lebendiger, zappelnder Widerstand. Ein Fisch. Es ist ein Fisch.
Jetzt ist das gefragt, was sich in der Politik Erwartungsmanagement nennt. Nein, das kann keine Meerforelle sein, ein Dorsch, sagt Scheuring, der sich mit dem Kescher bereitmacht für die Landung. Ein Dorsch wäre nicht so toll wie eine Meerforelle, also jedenfalls nicht beim Meerforellenangeln.
Ein grünlicher Fischkörper taucht auf, und ich glaube wirklich an einen Dorsch. Einige Sekunden später schlägt eine Meerforelle im Kescher mit ihrem Schwanz ins Leere.
Nicht zu fassen. Ich habe eine Meerforelle gefangen. Als Anfänger. An einer Stelle, an der man gar keine Meerforelle fangen konnte. Bis eben ich kam.
Es ist schön zu sehen, wie auch Scheuring, der Erfahrene, in Wallung gerät, und alles wegen eines Fisches, der gerade mal das Schonmaß hat.
Die Meerforelle ist ziemlich mager und hat einige Narben am Rücken und an der Seite. Sie könnten von einem Netz stammen, in das sie früher einmal geraten ist. Für mich aber ist sie die schönste Meerforelle der Welt. Rank und schlank, und genau so, wie ich mir eine Meerforelle gewünscht habe, aber nie zu träumen gewagt hätte, dass ich sie fange.
Auf dem Rückweg halten wir an einer fiesen Frittenbude. Scheuring lädt mich auf eine Runde Pölser ein. Es ist die ekligste Wurst, die ich in meinem Leben je gegessen habe. Sie schmeckt wunderbar. Auch noch, als sie mir nach fünfeinhalb Stunden Autofahrt zu Hause in Berlin immer noch aufstößt.
Als ich zu Hause in Berlin ankomme, ist es kurz vor Mitternacht. Ulrike findet die Meerforelle ganz schön klein, jedenfalls wenn man bedenke, dass es sich um eine Art Lachs handle.
Gelernt hat sie also schon was.
Anmerkungen
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Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch Das Glück am Haken: Der ewige Traum vom dicken Fisch des Autors und Journalisten Christoph Schwennicke. Ich danke der Verlagsgruppe Droemer Knaur für die Erteilung der Veröffentlichungsrechte.
Bei der Veröffentlichung des Buches 2010 haben sich die Feuilletons und Kultursendungen, von der ZDF-Sendung Die Vorleser, über das Handelsblatt bis hin zu der ZEIT förmlich vor Begeisterung überschlagen. Für ein Angelbuch schon sehr ungewöhnlich, sofern es nicht von Ernest Hemingway geschrieben wurde. Der Vergleich hinkt, ich weiß, Hemingway nahm sich viel ernster, weswegen es auch böse mit ihm endete.
Christoph Schwennicke ist seit 2012 Chefredakteur des politischen Magazins Cicero und häufiger Teilnehmer der sonntäglichen Radio- und Fernsehdebatte Presseclub.
Die Fotos zeigen nicht Christoph Schwennicke, sondern Marco Strobel beim Brandungsangeln einer Meerforelle. Die Bilder wurden zuerst auf der Facebook-Seite HD-Fishing veröffentlicht. Ich danke Marco Strobel und HD-Fishing für die freundliche Unterstützung.
Titel: Das Glück am Haken: Der ewige Traum vom dicken Fisch
Autor: Christoph Schwennicke
Verlag: Verlagsgruppe Droemer Knaur
ISBN: 978-3-426-27518-4
Verlagslink: http://www.droemer-knaur.de/buch/2435552/das-glueck-am-haken
Eine weitere Leseprobe aus diesem Buch: https://krautjunker.com/2016/10/11/mit-den-fischen-ist-es-wie-mit-den-pilzen/
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Last but not least: Meine Art-Direktorin, die Herrin von Slot Halemejse, wurde ganz sentimental, als ich mir ihr diesen Beitrag besprach. Angelausflüge in Dänemark, die von brombeerfarbenen Pölser-Würsten gekrönt wurden, gehören zu ihren besten Kindheitserinnerungen.
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