Götterdämmerung

Helmut H. Schulz ist 1931 in Berlin geboren und ist hier auch aufgewachsen. Seit 1974 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Erzählungen wurden seinerzeit in der DDR viel gelesen, der Familienroman „Dame in Weiß“ war so etwas wie ein Beststeller. Schulz kennt und liebt die märkischen und mecklenburgischen Seenlandschaften seit seiner Kinderzeit und hat schon früh seine Leidenschaft fürs Angeln entdeckt, das auch in seiner Literatur den entsprechenden Niederschlag gefunden hat, zum Beispiel in der Erzählung „Götterdämmerung“ (1990), der die folgende Hecht-Geschichte entnommen ist.

 

von Helmut H. Schulz

Ja, dem Wasser galt seine besondere Neigung. Im Frühjahr, wenn der Hecht im flachen Wasser steht, wenn alles Getier aufbricht, brachen auch wir auf mit Netz, Rute und Haken für den Fisch und Essen für uns. Mein Großvater schob seinen Kahn ins Wasser; er ruderte, während ich steuerte. Die Sonne stand gerade eine Handbreit über dem Horizont, von ihren Wolkenpferden umgeben, gestützt auf blasse Dunstbänke; eine lange graue Wand zog vom Westen herauf.

Mein Großvater legte übrigens wie Heraklit allen Dingen die Größe zu, die sie zu haben scheinen. Daher sprach er von einer kleinen Sonne oder von einem großen Stern. Irgendwann zog er die Riemen ein und machte das Boot an den Steckstangen fest. Stunde um Stunde konnte er sitzen und dem Schwimmer zusehen, nicht nur seinem, sondern auch meinem; er wußte gut Bescheid mit Plötzen, Blei und Zander, mit Rotfeder, Hecht und Wels. Mich ließ er Barsche fangen, soviel ich wollte. Er selbst fertigte kunstvolle Anstecker für das Raubzeug, kleine Fische  mit mehreren versteckten haken, ein trügerischer Bissen und ein tückisches Fanggerät, der Köder mußte noch leben. War die Prozedur auch grausam, so war sie doch wirkungsvoll.

Und es kam wahrhaftig der Tag, wo ich selbst seine Angel halten durfte, und es geschah das Wunder: Ein großer Fisch biß an! Ich fühlte sein Gewicht und gab Rolle auf Deibel komm raus, wie ich es bei ihm gesehen hatte. Ich dachte, wann ist die Sehne zu Ende und was wird, wenn sie zu Ende ist? Dann nimmt er mir die Rute und den Fisch weg. Ich wußte, daß die Rute nicht so leicht brach. Sie war aus feinem Rohr, das feinste, das es damals gab, und die Rolle kam aus dem fernen Kanada. Viel Geld gab mein Großvater Asa-Thor Stadelhoff für sein Angelzeug aus.

Für meine Großmutter war die Angelei der Anlaß, einmal folgende Geschichte zu erzählen:
Thor kam zu einem Riesen, der Hymir hieß. Sie beschlossen, auf Fischfang zu gehen. Der Riese meinte, er werde an Großvater Asa-Thor keinen Helfer haben. Großvater aber besorgte sich Köder. Er holte sich das Haupt des Stieres Himinbrjot, das ist der Himmelsbrecher, nämlich die Spitze eines Eisberges. Asa-Thor, dein Großvater, ruderte das Schiff immer weiter aufs Meer hinaus. (Ich war schon einige Male so weit hinausgekommen, daß ich mich im Kreise drehen konnte und stets nur den Himmel über mir sah. Es war ein großes Gefühl. Die See war ruhig, und das Meer war gut, anders als der Wind, auf den wenig Verlaß ist.) Weit also war mein Großvater Asa-Thor Stadelhoff mit dem Riesen gekommen, sehr weit, und Hymir wollte anhalten, weil es gefährlich werde, noch weiter hinauszufahren. Asa-Thor machte noch ein paar Schläge und warf die Angel aus, an die er zuvor den Stierkopf gesteckt hatte. (Welch ein Einfall, mit einem Stierkopf zu angeln, und was konnte er wohl damit fangen?)

Nun schnappte die Midgard-Schlange nach dem Köder, sagte meine Großmutter; vielleicht war dein Großvater überhaupt nur ausgezogen, um das alte böse Übel, die Schlange, die den ganzen Erdkreis umspannt, zu fangen und zu töten. Na gewiß, sagte meine Großmutter, es war ein hartes Stück Arbeit für deinen Großvater. Er stemmte sich mit dem einen Fuß auf das Dollbord, und mit dem anderen trat er den Boden durch, so daß er auf dem Meeresgrund zu stehen kam. Es gelang ihm, das ungeheuer bis an das Schiff zu holen; der hat das Furchtbarste noch nicht geschaut, der es nicht gesehen; heißt es im Lied. Die Schlange spie Gift, und Asa-Thor tastete nach dem Hammer, um ihr den Kopf zu zerschlagen. Vielleicht hätte die Welt einen anderen Lauf genommen, wäre es ihm gelungen, aber der Riese Hymir schnitt mit dem Ködermesser die Angel entzwei, daß die Schlange zurücksank ins Meer.

Ja, es hätte ihm gelingen sollen, das Böse auszurotten, ein für allemal, aber es ging nicht, weil immer was dazwischenstand, und meine Großmutter kniff die hellen Augen zusammen und strich über mein Haar, das aussah wie reifer Weizen, so blieb es, wie es heute ist.

Unterdessen summte die dünne harte Sehne herunter, rasselte die Rolle, und mein Fisch zog immer weiter aus der Bucht heraus. Zorn auf den Fisch kam über mich, weil er mir wiederstand wie die Midgard-Schlange, das Urböse. Vollgestopft mit den alten Geschichten meiner Großmutter, wußte ich nicht mehr, wer ich war, der entsetzte Riese oder der fischende, ringende Thor.

Aber mein Großvater sah ruhig zu, er griff nicht ein, und das bedeutete, er schenkte mir sein volles Vertrauen. Er sah, was ich auch sah, daß die Sehne abschwirrte und zuletzt die Spitze herunterbog. Dann war plötzlich kein Gewicht mehr da. Nun hätte er sagen müssen: Fang man an, hol ihn dir! Aber er sagte immer noch nichts, er tat, als ob ihn das alles nichts anginge: Er besaß Gefühl für den Stolz eines anderen, und ihm gehörte der Fisch nach altem Brauch auch nicht. Ich hatte ihn gefangen oder fast gefangen; mir gehörte er. So schwieg mein Großvater also und sah gleichmütig zur Seite ins Wasser. Strich um Strich holte ich Sehne ein. Mein Großvater half mir auch nicht, als der Fisch aus dem Wasser kam, gierig, mit bösen gelben Katzenaugen, das Krokodilmaul weit aufgerissen, er wußte, es ging um sein Leben. Mir fiel das Bild von Asa-Thor wieder ein, wie er damals die Schlange geholt, ich aber brauchte nur das Netz zu nehmen. Ich wollte meinen Fisch allein holen, und ich holte ihn allein. Allerdings war er höchstens sechzig Zentimeter lang, mehr Maul als Fisch. Die Kiefer halboffen, die Augen noch lebendig, so starb er, ohne daß ich ihm dabei half. Ich genoß seinen Tod und respektierte seinen Kampf. Allerdings war ich enttäuscht über seine Größe und warf einen vorsichtigen Blick auf meinen Großvater. In meiner Einbildung hatte es sich um einen mächtigen Fisch gehandelt. Mein Großvater lachte und bemerkte nur trocken, daß man es nicht glauben sollte, was ein kleiner Hecht aufführen könne. Er gab mir viel Selbstvertrauen. Ich war in einer Hinsicht ein Mann geworden, ein Mann zu werden galt viel damals.

 

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.

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Dieser Text ist ein Kapitel des 1997 erschienen Buches „Die Welt im Trüben – Vom Fischen und Dichten“. Es ist jetzt fast 20 Jahre her, seitdem ich es zum ersten Mal gelesen habe. Vor allem die zauberhafte Einleitung Manfred Mixners (siehe unten) vergaß ich nie, so sehr berührten mich diese Zeilen. Viele weitere Geschichten von Autoren wie Hermann Hesse, Ernest Hemingway, Herman Melville, Anton Tschechow, Jack London, Siegrid Lenz oder Tania Blixen ziehen mich immer wieder in ihren Bann.

Die Welt im Trüben

Ich bedanke mich bei Mathias Gatza für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Seinerzeit war er Autor und Verleger anspruchsvoller Gegenwartsliteratur. In seinem 2008 erschienen Debüt-Roman Der Schatten der Tiere verarbeitete er seinen Bruch im Berufsleben, als er vom Verleger zum Autor wurde. Der Roman wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und 2009 mit dem  Förderpreis des Literaturpreises der Stadt Bremen ausgezeichnet. 2012 erschien sein Künstlerroman Der Augentäuscher. Laut dem Feuilleton der FAZ „Briefroman, Thriller und Wissenschaftsfarce. Und ein großer Spaß.“ Ende 2013 gehörte er zu den Gründern des internationalen Literatur-Projektes Fiktion.

Da es keine Word-Datei des Textes mehr gab, mussten die Buchseiten von mir abgetippt werden. Alle Fehler gehen auf meine Kappe.

Das lesenswerte Vorwort: https://krautjunker.com/2016/07/29/ueber-das-fischen-und-das-dichten/

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Foto: © Fabian Grimm aus Tüngeda (klingt nach Finnland, ist aber in Thüringen). Der Grafiker und Fotograf ist in seiner Freizeit Jäger und Angler. Er betreibt den wirklich beachtenswerten Weblog haut goût. Im aktuellen Beitrag zeigt er, wie man ein Reh nach indonesischer Art zubereiten kann. Das Rezept trägt den wunderbaren Titel Bambi Goreng. Hut ab, Fabian!

http://www.haut-gout.de/wordpress/

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Das Buch Götterdämmerung, laut Berliner Zeitung „Reizvolle biografische Erzählstücke“, gibt es für schmales Geld als E-Book oder antiquarisch. Die beste Suchmaschine für gebrauchte Bücher ist meines Wissens Buchhai. http://www.buchhai.de/

5 Kommentare Gib deinen ab

  1. oliverwelschar sagt:

    Mo

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  2. krautjunker sagt:

    Wenn jemand am Samstagabend um elf Uhr „Mo“ schreibt, denkt man sich beim Lesen seinen Teil…

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