Dies ist die erste Hälfte von Kapitel 10 „Freunde zum Essen“ des Buches Rufe der Wildnis: Wie ich zur Jägerin wurde. Eine Rezension ist bereits auf KRAUTJUNKER erschienen. Der Link hierzu befindet sich unter der Leseprobe in den Anmerkungen. Lily Raff McCalou ist keine typische Jägerin und das Buch kein typisches Jagdbuch. Ein interessanter Text ist es allemal, da für sie nichts selbstverständlich ist und sie alles bei der Jagd hinterfragt. Die us-amerikanische Ausgabe heißt somit auch
Call of the Mild: Learning to Hunt My Own Dinner.
von Lily Raff McCalou
Im Juli 2008, nach wochenlanger genauer Planung, machen Scott und ich mit vier Freunden Angelurlaub in der Wildnis Alaskas. Am 4. Juli landen wir gegen Mitternacht in Anchorage. Am Himmel leuchtet ein Feuerwerk um die Stadt herum, obwohl es seine Wirkung gar nicht ganz entfalten kann, weil der Himmel in Alaska nachts nie richtig dunkel wird.
Am nächsten Morgen ziehen wir mit einer Einkaufsliste los, um Lebensmittel für die nächsten acht Tage zu besorgen. Mit dem Taxi fahren wir anschließend zur Anlegestelle eines kleinen Wasserflugzeug-Taxiunternehmens. Dort treffen wir unsere Freunde: Andy und Jessie aus Missoula, Dan Ryan aus Bend, der oft mit uns zum Fliegenfischen geht, und Evan, einen Freund von Andy aus Minnesota, den wir jetzt erst kennenlernen.
Andy arbeitete während seiner Studienzeit in dieser Gegend als Angelführer. Er kennt den Fluss bestens und hat die Flugzeugtaxis und die kleinen, unverzichtbaren Boote im Voraus bestellt. Wir laden unsere Ausrüstung – Kleidung, Angelzeug, zwei weiße Kühlboxen, zwei Schlauchboote – in zwei kleine Flugzeuge ein. Der Flug zum Ziel, einem kleinen See, dauert eine Stunde. Nach der Landung waten wir die kurze Strecke zum Ufer, packen die Boote aus und verstauen unsere Klamotten und die Angelausrüstung in wasserfesten Trockensäcken.
Ich habe ein etwas mulmiges Gefühl, als uns die Piloten zuwinken, ihre Maschinen auf dem Wasser starten und nach Anchorage zurückliegen. Sie hinterlassen nur kleine Schaumkronen auf dem See, und auch die vergehen schnell. Wir sind allein. Hier in der tiefsten Wildnis sind wir nun völlig auf uns selbst angewiesen. Sollte etwas schiefgehen, gibt es keine rasche Hilfe. Mir wird klar, dass ich zum ersten Mal einem gewissen Risiko ausgesetzt bin, einem Raubtier zum Opfer zu fallen. Grizzlys sind in dieser Gegend reichlich vorhanden. Sie fangen ihre Chinooks, zu Deutsch Königslachse, an demselben Fluss, wie wir es tun werden. Andy erklärt, dass Grizzlybären Menschen zumeist aus dem Weg gehen. Dennoch kann jeder Bär auch einmal aggressiv werden, besondere eine Bärin mit Jungen, denen man zu nahe kommt.
Vor dem Abflug aus Anchorage haben Scott und ich Pfefferspray gekaut, das eine Bärin vorübergehend abschrecken kann, wenn es gelingt, ihr den Wirkstoff direkt ins Gesicht zu sprühen. Außerdem hat Andy eine 12er-Flinte mitgebracht. Ich bin also zum ersten Mal aus Gründen der Selbstverteidigung bewaffnet, oder zumindest die Gruppe ist es.
Andy mahnt eindringlich, das Pfefferspray oder die Flinte mitzunehmen, wenn einer von uns allein in den Wald geht – sei es auch nur, um die Notdurft zu verrichten. Als ich das höre, schlägt mein Puls schneller. Ich bin unsicher, was mir mehr Angst macht: der Gedanke an die Bären oder die Tatsache, ein Gewehr zur Selbstverteidigung mitgenommen zu haben. Vor allem habe ich Angst vor der potenziellen Langeweile. Die nächsten acht Tage verbringen wir nur mit Fliegenfischen ohne irgendwelche Ablenkungsmöglichkeiten!
Immerhin scheint die Sonne warm, als wir vom Ufer lospaddeln, und die Stimmung ist ausgelassen. Lachend und jauchzend rudern wir über den See, dann in einen Bach hinauf, den Talachulitna Creek. Am zweiten Tag schlägt das Wetter allerdings um. Kalter Dauerregen stellt sich ein und begleitet uns für den Rest des Aufenthaltes. Und die Mücken! Andy gesteht, noch nirgendwo so viele Mücken erlebt zu haben. Tag für Tag müssen wir von morgens bis in die Nacht hinein Moskitonetze über den Köpfen und Gesichtern tragen. Hier ohne solch ein Netz zu sein, wäre schrecklich. Ständig summende Insekten in den Ohren, in der Nase, in den Augen. Durch den vielen Regen ist die Strömung außerdem so stark, dass die Angelei nur mühsam vorangeht.
Trotzdem bietet jeder Tag ein kleines Abenteuer. Jede Kurve im Flusslauf bietet eine neue landschaftliche Perspektive und im Wasser zahlreiche potenzielle Fischstandorte, die getestet werden wollen. Wo machen wir Mittagspause und nehmen unseren Imbiss? Werden wir genug Trockenholz für ein Feuer finden? Mit Jessie verstehe ich mich gut, sodass manchmal nur ein Wort genügt, uns in Lachen ausbrechen zu lassen. Meine Würfe mit der Fliegenrute werden immer professioneller, gelingen immer weiter und mit schwereren Fliegen als jemals zuvor. Wir fangen Regenbogenforellen, Äschen und gelegentlich auch einen massiven Chinook. Fast jeden Abend essen wir frischen Königslachs und bereiten sogar Äschen-Sushi zu. (Warum haben wir eigentlich so viele Lebensmittel in den Kühlboxen mitgebracht?!) Die größte Überraschung dieser Reise ist für mich meine eigene Reaktion darauf: Sie macht mir wirklich Spaß!
Und noch etwas ist überraschend: Wir sind nicht allein hier draußen in der Wildnis. Einige Male am Tag fliegen Flugzeuge über uns hinweg. Und eine ganze Reihe von Anglern hält sich in der Nähe der aussichtsreichsten Gewässerabschnitte auf. Täglich werden sogar einige mit einem Hubschrauber von einer nahe gelegenen Fischerhütte eingeflogen.
Diese Angler erzählen uns von einem Ehepaar aus New York, das uns etwa zwei Tage mit dem Boot voraus ist. Ihre Reise mutierte zu einem Horrortrip. Sie erlebten Begegnungen mit Grizzlys, ihr Boot kenterte in einer Stromschnelle, und die Nahrungsmittel gingen ihnen aus. Die Frau scheint mir wie meine Doppelgängerin aus früherer Zeit. Nun paddelt sie unbeholfen vor mir her. Sie ist eine Ausgabe meiner selbst, wäre ich damals nicht nach Bend gezogen und hätte ich Scott nicht kennengelernt. Der Pilot, der uns wieder aus der Wildnis hinausfliegen wird, berichtet später, dass er das New Yorker Ehepaar an einem Treffpunkt traf, als er verabredungsgemäß eine andere Gruppe abholte. Die Ostküstler waren einige Tage vor der vereinbarten Zeit zum Treffpunkt zurückgekehrt. Und sie waren vollkommen durchnässt, kalt, hungrig, eingeschüchtert – überreif für die Heimkehr.
Das New Yorker Paar tut mir leid, und ich verstehe, warum sie ihre Fähigkeiten überschätzten. Auch ich habe heute so viel mehr Respekt vor den Gewalten der Natur als vor vier Jahren. Jährlich ertrinkt jemand im Deschutes River, normalerweise treibt das Opfer in Badezeug in der Flussströmung. Bis Scott mich ein paarmal im Boot mitnahm, ahnte ich nicht, wie gewaltig, ja gefährlich reißendes Wasser sein kann. Praktisch jedes Jahr verliert zum Beispiel auch eine Familie den geliebten Hund, weil sie so unvorsichtig ist, ihn einem Hirsch nachjagen zu lassen. Irgendwann dreht sich der Hirsch um und forkelt den Hund tödlich, spießt ihn einfach auf. Oder ein hungriger Luchs wandert in ein Siedlungsgebiet ein und frisst sich an Katzen und kleinen Hunden satt. Als ich früher mein Wissen über Natur und Wildnis nur aus dem Fernsehen bezog, wurde mir die Realität solch instinktgesteuerten Wildtierverhaltens auch nicht bewusst. In Alaska scheint die Sonne im Sommerhalbjahr 24 Stunden täglich, sodass die ganze Naturlandschaft vor Leben summt und wimmelt, als ob jedes Lebewesen vom kleinsten Moskito bis zum größten Grizzly es eilig hätte, die versäumte Zeit der langen Winterpause nachzuholen. Chinooks schwimmen stromaufwärts an uns vorbei, Hunderte von Meilen vom Ozean entfernt, und steuern mit sicherem Instinkt den Laichplatz an, an dem sie selbst dem rosafarbenen Rogen der Mutter entschlüpften. Sobald die mächtigen Fische den Ozean verlassen und in die Flüsse hochsteigen, stellen sie die Nahrungsaufnahme ein. Fortpflanzung ist jetzt ihr einziges Ziel. Während ihrer Wanderung die Flüsse und Ströme hinauf wird ihre silberne Haut immer rötlicher, rot wie das Laub des Ahornbaums im herbstlichen Vermont. Das tiefste Rot erreicht die Färbung der Haut im Moment des Laichens.
Lachse gelten als die Lebensadern der Flüsse: Zahllose andere Wildarten hängen von ihrer Wanderung im Frühjahr ab. Gierig wie hungrige Schulkinder, denen die Mutter ihr Lieblingsessen serviert, warten Regenbogenforellen auf die Lachsschwärme, die den Strom hinaufschwimmen und ablaichen. Einige Forellen folgenden dickbäuchigen weiblichen Königslachsen in wenigen Zentimetern Abstand, stoßen gar gelegentlich heftig gegen deren geschwollenen Leiber, um ein paar leckere Lachseier zu ergattern.
Nachdem das Weibchen, der sogenannte Rogner, die Eier in eine selbst ausgeformte, sandige oder kiesige Laichgrube gelegt und das Männchen, der „Milchner“, sie befruchtet hat, sterben die Lachse in einem längeren regelrechten Verfallsprozess, der das genaue Gegenteil des raschen Todes durch den Schlag eines Anglers auf den Kopf oder dem Aufschlitzen durch Bärentatzen ist. Der Lachs durchlebt eine Veränderung: Sein tiefrotes Fleisch verblasst und wird glasig. Obwohl Teile seines Körpers regelrecht abfaulen und von der Strömung davongetragen werden, verharrt der Lachs bei der Laichgrube, um die Brut zu bewachen und, falls nötig, kompromisslos zu verteidigen. Halbtot schwebt er über seiner Laichgrube, jederzeit bereit, den Nachwuchs mit letzter Kraft und kräftigen Bissen vor gefräßigen Forellen und anderen Räubern zu schützen.
Schon seit einigen Monaten sprechen Scott und ich über unseren eigenen Nachwuchs. Die Zielstrebigkeit der Rogner und Milchner hinsichtlich Fortpflanzung finde ich beeindruckend. In meinen Augen macht diese Strebsamkeit sonst ganz normale Fische zu fast etwas Übernatürlichem. Ich kann nicht umhin zu denken: Wie würde es mich verändern, Kinder zu bekommen? Würde sich meine jetzige Friedfertigkeit in einen für mich bislang untypischen Charakterzug ändern? Würde ich vielleicht zu einer zähnefletschenden Furie, die jederzeit angreifen könnte? Würde ich zu einer gespenstischen Version meines ehemaligen Selbst werden?
Einige meiner Bekannten haben Kinder. Aber sie gehören nicht zu meinen engeren Freundinnen. Es gibt niemanden, mit dem ich über meine Ängste offen und vertraulich reden könnte. Als Vertrauter wäre mein Bruder Nathan wohl naheliegend. Aber er wohnt so weit weg … und wir telefonieren so selten miteinander. Außerdem habe ich weder seine Tochter bisher gesehen noch ihn in seiner Vaterrolle erlebt. Wie hilfreich könnte er sein?
Wenn ich an eine Familiengründung denke, drehen sich alle meine Ängste um mich. Wie würde mich die Schwangerschaft verändern? Was würde aus meiner Ehe, meinem Beruf, meinem Alltagsleben? Diese Sorgen unterstreichen, was ich für ein Paradox des Mutterseins halte. Ein Kind zu gebären, ist einerseits ein selbstsüchtiger Akt. Andererseits verlangt die Kindererziehung eine endlose Reihe an selbstlosen Akten.
Unentwegt spreche ich mit Scott über dieses Dilemma und komme zu keiner befriedigenden Lösung. Schließlich gestehe ich: Ich bin noch nicht bereit, Mutter zu werden. Scott reagiert gottlob mit verständnisvoller Geduld. Doch nach unserem Gespräch werde ich einen Gedanken nicht los; dass Scott zu höflich ist, um zu fragen: Worauf wartest du denn? Ich habe keine Antwort darauf, auch wenn ich nach etwas forsche, das mich zu diesem entscheidenden Schritt veranlassen könnte.
Einen Monat nach unserer Rückkehr nach Hause wählte der republikanische Kandidat John McCain die Gouverneurin von Alaska, Sarah Palin, zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin. Palin versteht es, möglichst viele Kontroversen in kürzester Zeit zu entzünden, darunter einige zur Tradition der Familienjagd. Während einige Kritiker ihre Fähigkeit bewundern, einen Hirsch nach traditioneller Art aus der Decke zu schlagen und zu zerwirken, wird sie von anderen kritisiert für ihre Einstellung zur Großwildjagd. Die Jagd ist wieder zum Brennpunkt der Diskussion geworden.
Vor meinem Umzug nach Oregon habe ich das Thema Jagd immer nur im Zusammenhang mit Wahlkampagnen zur Präsidentschaftswahl gehört. Alle vier Jahre, so scheint es, ziehen sich Kandidaten eine funkelnagelneue Jagdweste an, besuchen einen Schießübungsplatz und verneigen sich demütig vor der allgewaltigen NRA, um ihren Respekt vor deren Interpretation des Zweiten Zusatzartikels der Grundverfassung zu zollen. Kein Wort aber hört man über das Thema Wildtiermanagement. Vergeblich wartet man auf Aussagen über den Erhalt von Lebensräumen. Meine Stimme bekommt Sarah Palin nicht, obwohl sie Jägerin ist. Ich vermisse bei ihr Zivilcourage und echte Inhalte in unserem nationalen Diskurs über die Jagd. Anscheinend gelingt es uns Amerikanern bei zwei polarisierenden politischen Themen – Waffen und Tiere töten – nicht, weiterzukommen, ernsthaft und sachlich Argumente auszutauschen und die gegensätzlichen Aussichten zu erörtern. Das persönliche Motiv, der Jagd nachzugehen, verrät viel über den echten Charakter einer Person. An welchen ethischen Werten orientiert er/sie sich bei der Jagd? Welche Argumente werden für oder gegen den Einzug neuer Technologien wie halbautomatischer Gewehre, Nachtzieloptik oder für den Einsatz von Fallen angeführt? In der Regel reduzieren die Medien wichtige Jagdthemen grob vereinfachend zu einer schlicht binären Ja-oder-Nein-Frage. Geht die Kandidatin auf die Jagd? Ja oder nein? Nächste Frage. Bla bla bla … Wir haben im Wahlkampf eine äußerst günstige Gelegenheit verpasst, mehr über den eigentlichen Charakter der politischen Kandidaten und Kandidatinnen zu erfahren, ihr Denken zu verstehen und die Vereinbarkeit ihres eigenen Verhaltens mit bestimmten Positionen und Standpunkten zu hinterfragen.
Im Herbst des Jahres überrascht mich einmal mehr die Großzügigkeit anderer Jäger und Jägerinnen. Andy und Jessie laden mich ein, mit zur Federwildjagd zu gehen. Andy und sein Vater Hank erteilen bereitwillig Ratschläge. Gary Lewis, der an der Bend Bulletin für Jagd und Fischerei zuständige Reporter, leiht mir Fachbücher aus. Andere bieten mir ihre Flinten und sonstige Ausrüstung an.
Der Psychologe und Philosoph Erich Fromm vertritt die Meinung, dass die enge Verbindung zwischen der Jagd und der sozialen Erfahrung guter Zusammenarbeit sowie der Neigung, die Früchte (und nicht nur das Zubehör) dieser Zusammenarbeit untereinander zu teilen, eine lange Vorgeschichte hat: „Der glückliche Ausgang des Jagdausflugs verteilte sich nicht gleichmäßig auf alle Jäger in der Partie, was eine praktische Folge hatte. Diejenigen, die heute Erfolg hatten, teilten ihre Beute mit denjenigen, die vielleicht tags drauf das Glück auf ihrer Seite haben würden“, schreibt er. „Wenn wir annehmen, die Jagderfahrung führe zur Genveränderung, könnten wir logischerweise schlussfolgern, dass die Menschen heute eine inzwischen natürlich gewordene Neigung zur Zusammenarbeit im Gegensatz zur Todeslust und Grausamkeit entwickelt haben.“ Gruppen wie „Sportsmen Against Hunger“ (Jäger gegen den Hunger), eine nationale Tafelorganisation, belegen diese Theorie, indem sie Wildbretspenden annehmen und an Hilfsbedürftige verteilen.
Ich möchte all den Leuten, die mich so oft unter die Fittiche nehmen, keinesfalls lästig werden. Es ist endlich an der Zeit, mein Jagdkönnen auch einmal allein unter Beweis zu stellen. Deshalb planen Scott und ich einen wochenlangen Ausflug für Oktober, eine Kombination aus Zelten und Federwildjagd. Na, ja, ich jage. Scott entscheidet sich für waffenfreie Waldspaziergänge. Während der vergangenen zwei Jahre ist sein Interesse an meinen Jagdabenteuern gestiegen, aber er will immer noch nichts mit Waffen zu tun haben.
Wir bauen unser Lager auf und erkundschaften dann das Revier. Auf der Landkarte entdecke ich drei kleine Seen und fahre in der Hoffnung auf Enten hin. Überwiegend werden Enten mit zwei Methoden bejagt.
Bei der Lockjagd setzt man Lockvögel im Gewässer aus, versteckt sich in der Nähe und setzt gelegentlich einen Entenlocker ein, um Entenrufe nachzuahmen und so vorüberstreichende Enten zur Landung auf dem Wasser zu bringen. Die zweite Methode ist das langsame Heranpirschen in guter Deckung an Enten, die bereits auf einem Gewässer liegen. Ich entscheide mich für diese zweite Methode.
Ich verlasse das Auto und gehe auf den ersten Weiher zu. Wegen der blendenden Sonnenstrahlen sehe ich nicht deutlich, ob Enten auf der Wasseroberfläche schwimmen. Dennoch schleiche ich hoffnungsvoll weiter, langsam jeden Fuß von der Ferse zur Spitze abrollend. Deckung gibt mir eine Reihe von Nadelbäumen, die einen Sichtschutz zum Wasser hin bilden. Als ich den letzten Baum in der Reihe erreiche, sind es noch zehn Meter bis zum See. Tarnkleidung besitze ich nicht, aber vorsichtshalber habe ich mich in neutralen Farben –beige und grün – angezogen, um mich der Umgebung anzupassen, denn das Sehvermögen von Vögeln ist extrem gut. Insbesondere wilde Vögel reagieren misstrauisch auf große einheitliche Farbflächen, denn die sind in freier Wildbahn unnatürlich!
Geduckt mache ich einen letzten, langen Schritt hinter dem Baum hervor, dann bleibe ich bewegungslos stehen und suche die Wasserfläche mit den Augen ab. Keine Bewegung am Wasser bis auf vom Wind verursachte Rippen auf der Wasseroberfläche. Noch einen Schritt vorwärts. Wieder stillstehen. Noch einen Schritt. So schleiche ich weiter, bis ich ganz nahe am Ufer stehe, wo ich links von mir kleine Wellen im Wasser wahrnehme. Irgendetwas platscht und lässt das hohe Grass am Ufer wackeln. Plötzlich liegt eine Ente auf. Jawohl! Ich richte mich auf, lege die Flinte an, entsichere sie, schwinge vor die Ente und drücke ab. Peng!
Der Breitschnabel fliegt unbekümmert weiter. Ich repetiere die nächste Schrotpatrone in den Lauf und nehme die Ente erneut aufs Korn. Jetzt ist sie weiter weg. Peng!
Nichts. Der Vogel liegt einfach weiter. Ich suche in der Tasche nach einer weiteren Patrone, finde aber keine. Den Rest meiner Munition habe ich im Auto liegen lassen. Während ich die Flinte sinken lasse, wendet die Ente im Kreis und streicht direkt über mich hinweg, steigt dann weiter hoch und verschwindet.
Enttäuscht kehre ich zum Auto zurück, um meine Taschen mit neuen Patronen vollzustopfen. Dann gehe ich von der Straße aus zum zweiten Teich, sehe aber kein Wild. Unter einer großen Weide nehme ich Deckung, sodass ich aus der Luft nicht zu sehen bin. Ich mache mich bereit. Ich warte. Und warte. Dann warte ich noch eine Weile. Ich tagträume ein wenig, grübele aber vor allem darüber nach, was ich tun werde, wenn eine Ente heranstreicht, das Wasser sieht und sich zur Landung entscheidet.
Wenn ich voll im Jagdfieber bin, fehlt die Zeit zum Nachdenken über so etwas. Ich konzentriere mich dann ganz auf das Jagen und, ja, maße mir das Recht an, einem Tier das Leben zu nehmen. Die Beute ist die Hauptsache, keine Zeit für Zweifel. Wenn ich wie jetzt aber ohne Wild in Sicht einfach warte, kommen mir immer wieder einmal ethische Bedenken.
Die häufigste Frage, die Jäger sich und einander stellen, ist folgende: Ist der geplante Schuss waidgerecht? Damit meinen sie einen Schuss, der der Beute eine echte Chance lässt, heil zu entkommen. Zwar gibt es keine allumfassende Definition dessen, was als fair gilt –jeder Jäger und jede Jägerin muss die Vertretbarkeit eines jeden Schusses ad hoc für sich beurteilen. Dennoch existieren einige festen Regeln. Zum Beispiel ist es erlaubt, ohne Bedenken auf eine vorüberstreichende Ente zu schießen, aber nicht auf eine im Wasser sitzende. Viele Jäger lehnen auch die Lockjagd ab, wenngleich es in den meisten Bundesstaaten gesetzlich erlaubt ist, etwas Äsung oder Salzlecksteine auszulegen, um Wild anzulocken. Das kommt diesen Jägern unfair vor, denn das Tier werde getäuscht. Manche Jäger haben auch ihren ganz persönlichen Ethikkodex und sagen zum Beispiel: „Einen Hirsch erlege ich gern, aber kein weibliches Stück.“ Hinter dieser Einstellung verbirgt sich bei einigen der Wunsch, die Wildpopulation auf möglichst hohem Niveau zu halten. Vielleicht ist sie bei manchen auch Ausdruck eines gewissen Machismus. Jungen lernen ja schon früh, wie „unmännlich“ es ist, ein Mädchen zu schlagen.
Viele Jagdorganisationen haben eigene Leitlinien für waidgerechtes Jagen aufgestellt. Die Formulierung des „Boone und Crockett Clubs“ gilt allgemein als nationale Norm für die Großwildjagd: „Die ethisch faire und legale Bejagung und Tötung des einheimischen nordamerikanischen, in freier Wildbahn lebenden Großwildes die Jagdmethode den Jagenden keinen unlauteren Vorteil gegenüber den gejagten Tieren sichert.“ Im Jahr 2005 hat die Organisation gegen „canned hunts“ (Gatterjagd) Stellung bezogen. Diese Art der Jagd bedeutet, dass Wildtiere in Gefangenschaft geboren und gezüchtet und dann in einem Gehege ausgesetzt werden, wo betuchte Jagdtouristen gegen Zahlung eines hohen Entgelts auf sie warten. Ein anderes Beispiel: Eine stark beworbene, allerdings kurzlebige Ranch bot Kunden versuchsweise die Möglichkeit, am Computer mit einem Mausklick ein Gewehr zu betätigen und damit ein eingegattertes Schwein abzuknallen. Kein geschmackloser Scherz, sondern wirklich wahr!
Für mich liegt die Freude der Jagd im Recherchieren und Sammeln des notwendigen Wissens über eine jagdbare Wildart und deren Lebensraum, um sie besser aufspüren zu können. Sowohl Lock- als vor auch Gatterjagd sind meines Erachtens ethisch problematisch. Im Grunde genommen stehen sie in eklatantem Widerspruch zum eigentlichen Sinn der Jagd, wie ich ihn verstehe.
Meine eigene Definition von der gerechten Jagd ist einfach: In meiner Rolle als „Prädatorin“ so wenig wie nur möglich in das Ökosystem einzugreifen. Allerdings bin ich nicht sofort auf diese recht einfache Verhaltensmaxime gekommen. Sie ist eher das Ergebnis monatelanger Recherchen und Überlegungen. Mit anderen Jägern und Jägerinnen – selbstverständlich auch mit Scott – habe ich lange Gespräche über das Thema geführt. Bücher über Jagdethik habe ich gelesen, ebenso Kurzgeschichten und Essays über das Waidwerk. Wie so viele andere Aspekte der Jagd werden auch ethische Leitlinien auf Grund aktueller Erkenntnisse und besonderer Umstände ständig verändert. Es ist und bleibt einfach unglaublich und irgendwie auch frustrierend schwierig, die Frage jagdethischen Verhaltens nicht allgemeinverbindlich beantworten zu können.
Wie erwähnt, war ich von den Bogenjägern, die ich in den ersten Monaten nach meiner Ankunft in Oregon kennengelernt hatte, sehr beeindruckt. Mir schien die Fähigkeit, bis auf 30 Meter – die tödliche Reichweite der meisten Bögen – an das Wild heranzupirschen und es dann mit einem wohlgezielten Pfeil sofort zu erlegen, ein wahrer Höhepunkt aus Fairness und Sportgeist zu sein. Aber je länger ich mit Bogenjägern sprach, desto mehr Geschichten mit unbefriedigendem Ausgang kamen mir zu Ohren: Das Wild wurde getroffen, aber nicht getötet, und entkam schwer verletzt. Sicher tötet ein sauberer Schuss mit Pfeil und Bogen sofort. Ich kenne ja Leute, denen das immer wieder gelingt. Andere jedoch mussten der Beute zwölf Stunden lang hinterherlaufen und zwei weitere Pfeile verschießen, bis das Tier endlich erlöst war.
Meine eigene Zeitung veröffentlichte Fotos, auf denen Hirsche in Hinterhöfen und Parks mit Pfeilen im Hals herumstanden. Mit Büchse oder Flinte richtig und gut umzugehen, erfordert viel Übung. Noch mehr Training und Erfahrung sind jedoch erforderlich, mit Pfeil und Bogen einen tödlichen Schuss abzugeben.
Heute, als ich unter einer Weide hocke und über das Ethische der Jagd nachdenke, beschäftigt mich eine einzige Kernfrage, wenngleich das sehr unwahrscheinlich klingt angesichts der Tatsache, dass ich nun seit zwei Jahren auf die Jagd gehe. Sie ist außerdem die bei weitem schwerwiegendste Frage und stellt alle anderen in den Schatten: Ist das Töten von Tieren grundsätzlich falsch? Ist es überhaupt je zu rechtfertigen?
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Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Titel: Rufe der Wildnis: Warum ich zur Jägerin wurde
Autorin: Lily Raff McCalou
Übersetzer: Prof. John A. McCarthy, Vanderbilt University
Verlag: Franckh Kosmos Verlag
Verlagslink:https://www.kosmos.de/buecher/ratgeber/jagd/jagdpraxis-hege/9774/rufe-der-wildnis
ISBN-13: 978-3440163030
Buchvorstellung: https://krautjunker.com/2019/04/04/rufe-der-wildnis-warum-ich-zur-jagerin-wurde/
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Website der Autorin: http://www.lilyrm.com/
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Titelbild Blogbeitrag: Photo by Steve Halama on Unsplash
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