Rufe der Wildnis: Freunde zum Essen (Teil 2/2)

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Diese Leseprobe ist die zweite Hälfte von Kapitel 10 „Freunde zum Essen“ des Buches Rufe der Wildnis: Wie ich zur Jägerin wurde. Die erste Hälfte sowie eine Buch-Rezension sind bereits auf KRAUTJUNKER erschienen. Die beiden Weblinks befinden sich in den Anmerkungen unter der Leseprobe. Lily Raff McCalou ist keine typische Jägerin und das Buch kein typisches Jagdbuch. Ein interessanter Text ist es allemal, da für sie nichts selbstverständlich ist und sie alles bei der Jagd hinterfragt. Die us-amerikanische Ausgabe heißt somit auch 
Call of the Mild: Learning to Hunt My Own Dinner.

Abb.: Photo by mohammed OUZZAOUI on Unsplash

von Lily Raff McCalou

So merkwürdig sich dies anhört, muss die Jagd nicht zum Tod eines Tieres führen. Es gibt, wie ich feststelle, einige nicht letale Formen der Jagd. Im Frühherbst habe ich einen Catch-and-Release-(Fangen-und-Freilassen-) Jäger kennengelernt – eigentlich eine Jägerin. Der Präsidentschaftswahlkampf war in vollem Gange und für einen Zeitungsartikel über das politische Klima in einem ländlichen Wahlbezirk bin ich von Tür zur Tür gegangen, um Informationen einzuholen. Diese Art von Berichterstattung gefällt mir gut, weil ich dann eine Ausrede habe, an irgendwelche Türen zu klopfen, sodass ich meistens eingeladen werde, auf einen Moment hineinzukommen. Keine Tätigkeit bietet die Gelegenheit, so oft in das Wohnzimmer fremder Menschen eingeladen zu werden, wie der Journalistenberuf. Wenn man so neugierig ist wie ich, ist allein das schon Grund genug, diesen Beruf zu ergreifen. Man sieht zum Beispiel, wie leger sich die Menschen zu Hause am Feierabend anziehen. Man hat die Gelegenheit, ihre Kinder und Haustiere kennenzulernen. Man sieht ihre Tapeten. Man riecht, was es zum Abendessen geben wird.
Die fragliche Frau steht leider draußen, als ich mit dem Auto vorfahre, sodass wir das Interview in ihrem Vorderhof abhalten, während die Abendsonne hinter den Bergen westlich des Bauernhofs versinkt. Sie ist eine Brünette Anfang 50 mit kurzen Haaren und athletischem Körperbau. Sie erklärt sich als überzeugte Republikanerin, die befürchtet, Barack Obama werde ihr nach einem Wahlsieg die Waffen wegnehmen. Also alles klar. Dann frage ich, ob sie jagt.
„Ja, schon“, sagt sie lächelnd. „Ich jage Federwild, aber hauptsächlich stellen und gleich wieder freilassen.“
„Wie bitte?!“
Sie lacht wieder. „Diese Reaktion liebe ich. So reagieren fast alle.“
Dann erklärt sie, dass sie Vorstehhunde abrichtet. Wenn sie mit den Hunden ins Feld zieht, will sie nicht anderes als den Hunden beibringen, Wild zu suchen und an den Fleck zu binden. Sie gibt das Kommando, den Vogel auszulassen, und belohnt die Hunde, sobald das Wild fortgelogen ist.
Es stellt sich heraus, dass sie nicht die einzige Person ist, die alle Aspekte der Jagd bis auf das Erlegen des Wilds genießt. Im Jahr 2010 rief die Whitetail-Pro Fernsehserie5 einen Hirschjagdwettbewerb ins Leben. Die Wettkämpfer pirschen an die Hirsche heran, zielen auf sie mit einem digitalen Zielfernrohr, das mit einer SD-Karte ausgestattet ist, und schießen Platzpatronen ab.6 Je nach der Größe und Anzahl der „erlegten“ Hirsche und der Genauigkeit des Schusses erhalten die Wettbewerber Punkte.
Seitdem im Jahr 2004 in England die Fuchsjagd mit Hunden verboten wurde, haben passionierte Jäger zu Pferde den Fuchs total aus dem Geschehen genommen. An dessen Stelle verfolgen die Hunde nun einen speziell gewählten und entsprechend geschulten Menschen. Haben die Hunde die Person gestellt, tun sie ihr nichts an, sondern lassen es gut sein. Die Verfolgung ist zur Hauptsache geworden, nicht mehr das Erbeuten eines Tieres am Ende der Hetze. Diese neuen, sogenannten humanen Jagdmethoden bieten neues Potenzial für das Hobby, weil alle umstrittenen Aspekte hinfällig sind: Gefährdung von Menschen, negative Beeinflussung der Wildpopulationen und selbstverständlich auch die erschreckende Realität des Tötens. Die nicht-letale Jagd spielt freilich nur eine absolut untergeordnete Rolle unter den Gesamtjagdmethoden. Und ich frage mich, ob sie das Wesen der Jagd nicht verkennt. Warum? Weil die tötungsfreie Jagd alle schwerwiegenden ethischen Fragen einfach ausklammert, mit denen sich „tötende“ Jäger, zu denen auch ich gehöre, abplagen. Der berühmte spanische Schriftsteller und Philosoph José Ortega y Gasset (siehe: https://krautjunker.com/2016/06/14/meditationen-ueber-die-jagd/) kritisierte eine britische Version der nicht-letalen Jagd mit einer Kamera im frühen 20. Jahrhundert, die sogenannte Fotojagd. Sie besteht darin, dass die Jagd, ähnlich dem von Catch-and-Release-Anglern praktizierten Vorgehen, mit einem Foto der Beute endet. Das Wild wird anschließend unbeschadet wieder freigelassen. „Man kann die Jagd ablehnen“, meint Ortega, „aber wenn man sich zur Bejagung eines Tieres entschließt, muss man bestimmte Konsequenzen in Kauf nehmen … Ohne diese Elemente der realen Selbstverantwortung ist die Jagd unsinnig. Das Verhalten der gejagten Beute lässt deutlich erkennen, dass es ihr ernsthaft um Leben und Tod geht. Wenn das Tier begreift, dass es nur um eine Scheinjagd geht, nur um einen Schnappschuss, wird es mit der Zeit sein instinktmäßiges Verhalten verändern. Die Jagd würde in eine Farce ausarten, und sie würde ihre eigenartige Spannung verlieren.“
Mein Unbehagen über Catch and Release beim Jagen beeinflusst mit der Zeit auch meine Einstellung zu dieser Methode beim Fliegenfischen, obgleich es sich meines Erachtens mit der Angelei etwas komplizierter verhält. Im Gegensatz zu den Jägern können sich Angler selten einen bestimmten Fisch als Ziel auserwählen. Meist muss man den Fisch erst fangen, um seine Art identifizieren, ihn vermessen und dann entscheiden zu können, ob er außerhalb des Schonmaßbereiches liegt und getötet werden darf. Mit anderen Worten muss der Sportangler die Methode „Fangen und wieder aussetzen“ gelegentlich praktizieren. Scott macht mich auf einen weiteren wichtigen Punkt aufmerksam. Catch and Release führt dazu, dass infolge des Wiederaussetzens der Fische mehr Angler das Hobby ausüben können. Diese Erklärung löscht jedoch nicht mein Unbehagen über den der Methode innewohnenden Betrug des Fisches aus. Wenn ich einen Fisch mit meiner Fliege zum Beißen verlocke, weil ich weiß, dass ich ihn wieder aussetzen will, während der Fisch vollkommen ahnungslos ist, kommt mir das wie Schikane und eine Degradierung des Tiers zu einem Spielzeug vor. Den Fisch als etwas zu betrachten, das ich liebevoll zubereiten und essen will, ist ehrlicher – meines Erachtens auch würdiger dem Fisch gegenüber. Ortega y Gassets Meinung teile ich also: Der Kampf um Leben und Tod ohne den eigentlichen Tod ist am Ende unsinnig.
Aber dann ist es auch wieder egal, ob wir jagen, denn auch ohne Jagd bringen wir alle immer wieder Tiere ums Leben. Und zwar regelmäßig. Unsere moderne Gesellschaften basieren auf einem Grundprinzip: Menschliches Leben rangiert über dem Leben von Tieren. Gänse werden getötet, um Kollisionen mit Flugzeugen zu verhindern, denn die brauchen wir für den Transport von Menschen und ihren Waren. Um Medikamente für die Gesundheit des Menschen und zur weitest möglichen Verlängerung seines Lebens zu entwickeln, müssen Tiere als Versuchskaninchen herhalten. Jeden Tag gehen in den Vereinigten Staaten fast 2.430 Hektar Wildtierlebensraum verloren durch die Bebauung von Naturlandschaften, Offenland und Waldflächen. Einstige Urwaldgebiete mit ihrer immensen Artenvielfalt werden zu lebensfeindlichen Zuckerrohrfeldern verunstaltet, um unsere Vorliebe für Süßes zu befriedigen. Die geteerten Straßen, auf denen wir gerne fahren, die gepflegten Grasflächen im geliebten Vordergarten, auf denen wir spielen, die Einkaufsläden, in denen wir einkaufen gehen – alles war früher Lebensraum von wild lebenden Tieren. Kraftwerke, Öl- und Gasbohrungen und auch Windkraftanlagen Schaden den Wildtieren in hohem Maße.
In Bend beschließt die Stadtparkbehörde, 109 Gänse zu töten. Diese Gänse ziehen nicht mehr zwischen ihren Brutgebieten und ihren Winterquartieren, sondern haben es sich in Bend bequem gemacht, das ganze Jahr hindurch. Und sie haben sich vermehrt. Trotz jahrelanger wiederholter Versuche seitens der Behörden, die Population in Grenzen zu halten; trotz Störungen durch Hunde, trotz ihrer zwischenzeitlichen Verfrachtung in ein Flugwildschutzgebiet 100 Meilen entfernt, verharren sie in Bend. Ihre Kotsansammlungen sind unangenehm und stellen sogar eine Gesundheitsgefahr dar. Überdies sind die Gänse aggressiv: Sie vertreiben andere Vogelarten. Also ist die Entscheidung der Behörde, sie zu töten, richtig, und das Fleisch wird städtischen Nahrungsmittelhilfeorganisationen gestiftet, denen es sowieso schwerfällt, Hilfsbedürftige während der langen, tiefen Wirtschaftsrezession zu unterstützen.
Dessen ungeachtet führt die Entscheidung zu rabiaten Protestaktionen. Menschen veranstalten eine ernst gemeinte Trauerfeier in einem der kotübersäten, von den Gänsen bevorzugten Parks. Erboste Demonstranten besuchen die städtische Suppenküche, nachdem die Gänse dort serviert wurden, und bedrohen den Manager. Diese heftigen Reaktionen erstaunen mich. Öffentliche Proteste finden in Bend so gut wie nie statt. Was glauben die Demonstranten wohl, frage ich mich, woher Fleisch überhaupt stammt?
Leider hinterfragen wir selten das Schlachten von Nutztieren, aber wir sind gerne bereit, über das Töten von Tieren zu anderen Zwecken, das übrigens weit seltener vorkommt, zu schimpfen. Laut dem Anthrozoologen Hal Herzog töten Amerikaner „200 Nutztiere, bezogen auf jedes Tier, das für ein Forschungsexperiment genutzt wird, 2 000 auf jeden unerwünschten Hund, der im Tierheim verendet, und 40 000 auf jedes Sattelrobbenbaby, das auf einer kanadischen Eisscholle erschlagen wird.“
Tierschützer empören sich über Pelzmode, ignorieren jedoch die Tausende von Lebensmittelgeschäften, die lebende Hummer in miserablen, von Algen überwucherten Wassertanks aufstapeln. In den Vereinigten Staaten ist der Vegetarismus, nach allem, was man hört, nie so populär gewesen. Vegetarische Ernährung bleibt jedoch eine Seltenheit. Ganz genau weiß man es nicht, aber die Zahl der Vegetarier liegt laut den meisten Umfragen und Untersuchungen schätzungsweise zwischen sieben und elf Millionen Menschen. Das entspricht etwa der Bevölkerung von North Carolina. Vegetarier sind eine winzige Minorität, kaum zu sehen auf einer demografischen Tortengrafik. Um auch die beiden Gruppen zu vergleichen: In den USA gibt es etwa zwei Millionen mehr Jäger und Jägerinnen als Vegetarier und Vegetarierinnen. Ganz abgesehen davon, dass 60 Prozent der selbstdeklarierten Pflanzenesser einer Umfrage nach zugegeben, in den vergangenen 24 Stunden Fleisch gegessen zu haben …
Selbstverständlich töten auch Tiere andere Tiere. Das stört uns wenig. Sie sind halt Fleischfresser. Die meisten Vegetarierinnen in meinem Bekanntenkreis füttern ihren Haustieren Fleisch. Einige Wildtiere töten ohne die Absicht, die Opfer zu fressen. Von Wölfen und Wapitis ist zum Beispiel bekannt, dass sie Mitglieder der eigenen Tierart während der Brunft- beziehungsweise Paarungszeit gelegentlich umbringen, um den eigenen Status zu erhöhen.
Einige Tierschützer sind der Meinung, wir sollten alle vegetarisch essen, denn die Menschengattung sei nicht mehr auf Fleisch als Nahrungsmittel angewiesen. Selbstverständlich ist es lobenswert, sogar edel, Tieren unnötiges Leiden und Sterben ersparen zu wollen. Dennoch ist zu bedenken, dass sogar vegane Ernährung zur Tötung von Tieren führt. „Das Getreide in einer veganen Mahlzeit“, schreibt Michael Pollan, „wird mit einem Mähdrescher geerntet, der bei der Mahd zig Feldmäuse zerschreddert, während die ziehenden Traktoren mit ihren Riesenrädern Waldmurmeltiere in ihren Erdhöhlen zerquetschen. Die in der Landwirtschaft eingesetzten Chemikalien vergiften Singvögel und lassen sie tot vom Himmel fallen. Nach der Erntezeit eliminieren wir zudem lästige Tiere, ‚lästig‘, weil sie unsere Nutzpflanzen fressen … Selbst wenn alle Amerikanerinnen und Amerikaner auf einmal vegetarisch äßen, würde das vielleicht nicht einmal sicher dazu führen, dass die Gesamtzahl jährlich getöteter Tiere wirklich zurückginge, denn eine strikt vegetarische Lebensweise aller würde zu einer noch deutlich intensiveren Nutzung von Acker- und Weideland und zu neuen Kulturlandschaften mit all den negativen Begleiterscheinungen für zahllose Tierarten führen. Die großflächige und lebensfeindliche Monokulturlandwirtschaft müsste noch weiter intensiviert werden.“
Rinder, Hirsche, Schafe und Gabelböcke brauchen dagegen nur Gras und verwandeln es direkt in Proteine. Bergige und steinige Gegenden sind besser für weidende Wiederkäuer geeignet als für den Landbau, somit effizienter für die Nahrungserzeugung. Mit anderen Worten, wenn unser Ziel darin besteht, wie Pinchot es formuliert, den höchsten Gewinn für die größte Zahl Menschen über die längste Zeit zu erzielen, dann mag der Fleischkonsum doch die beste Lösung sein. Und auch die ethisch naheliegende.
Alle Argumente für und wider den Fleischkonsum drehen sich fast immer um Abgrenzung, beschwören die trennende Linie zwischen „denen“ und „uns“. Der exakte Verlauf dieser Trennlinie hängt von der Perspektive des Einzelnen ab. Für einige Fischesser sind beispielsweise Kühe und Schweine zu intelligent, zu haarig oder dem Menschen zu ähnlich, um sie zu essen. Fische zu futtern, ist dagegen okay.
Romanschreiber Jonathan Safran Foer zieht einen Vergleich zwischen den Argumenten gegen den Fleischkonsum und gegen Abtreibung.
„In beiden Fällen“, bemerkt er, „ist es unmöglich, einige ausschlaggebende Details mit Gewissheit zu kennen: Wann ist ein Fötus ein Mensch, wann nur ein potenzieller Mensch? Was empfindet ein Tier eigentlich? Dieses Nicht-genau-Wissen sorgt für ein tiefes Unbehagen, das oft eine totale Abwehrhaltung oder gar Aggression hervorruft. Das Thema ist schwer zu fassen, frustrierend, und es wird laut debattiert. Eine Frage führt zur nächsten, und bald verteidigt man einen Standpunkt, der weit extremer als derjenige ist, den man zum Leitprinzip des eigenen Lebens wählen würde. Oder schlimmer noch, man findet gar keinen Standpunkt, der sich mit gutem Gewissen verteidigen oder als Richtschnur heranziehen lässt.“
Wie ein Mensch persönlich Tierhaltung und Schlachtung beziehungsweise Jagd und Wildbretbeschaffung für die eigene Ernährung als ethisch gerechtfertigt definiert, kann sich im Laufe seines Lebens durchaus ändern. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass in den Vereinigten Staaten die Zahl der Ex-Vegetarier dreimal so hoch ist wie die der aktuell praktizierenden.
Um uns die ethischen Leitlinien hinsichtlich der eigenen Essgewohnheiten ziehen zu helfen, formulieren Philosophen radikale hypothetische Fragen. An dem einen Ende des Spektrums stehen Peter Singer und Tom Regan mit ihrer These des „Speziesismus“. Damit meinen sie die Ausbeutung und Unterdrückung nicht menschlicher Tierarten, quasi ein Pendant zu Sexismus, Rassismus und der Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen.Wenn wir die Behandlung von Tieren als „nützliche Dinge“ für unsere Ernährung rechtfertigen mit deren Unfähigkeit, wie Homo sapiens zu sprechen und zu denken, was hielte uns dann eigentlich noch davon ab, so wollen Singer und Regen wissen, geistig gehandicapte Menschen als Nahrung zu verwenden, da auch sie nicht wie Menschen sprechen oder rational denken können?
Diesem radikalen Argument stellt die Philosophin Cora Diamond ein anderes Argument entgegen, nämlich dass es gar nicht um eine Frage nach den Rechten von Mensch oder Tier geht. Ihrer Meinung nach ist das Problem der Singer-Regan-Position gegen das Fleischessen deren logische Inkonsequenz. Singer/Regan lassen offen, ob ein Vegetarier ohne Bedenken eine Kuh essen darf, die durch einen Blitzschlag getötet wurde. Es gibt kein grundsätzliches Argument gegen die Nutzung dieser toten Kuh.
Diamond konstatiert: „In ihrer [Singers und Regans] Diskussion findet man nichts, das suggeriert, eine Kuh sei kein Nahrungsmittel; es geht nur darum, dass man den Prozess (eine lebende Kuh in Nahrung zu verwandeln) nicht fördern soll.“ Damit, so schlussfolgert Diamond, übersähen Singer und Regan einen kritischen Unterschied zwischen Menschen und anderen Tierarten.
Etwas anderes als die reine Nahrungsfrage ist entscheidend dafür, dass wir zwar bereitwillig Rindfleisch essen, niemals aber Menschenfleisch – auch nicht das von Verkehrsopfern – verzehren. Dieses zusätzliche Etwas geht über die einfache Frage von Ernährung hinaus. Wenn zum Beispiel ein Menschenbaby mit zwei Wochen stirbt, sind eine Todesanzeige und eine formelle Begräbnisfeier durchaus angemessen. Das aber gilt nicht im Falle eines gestorbenen Hundes, nicht einmal eines geliebten langjährigen Familienhundes.
Mit Blick auf ein leidendes Tier stellt sich zum Beispiel auch die Frage, ob wir (moralisch) verpflichtet sind, jene Schmerzen möglichst zu verhindern oder wenigstens zu mindern. „Dass dieses Tier ein Wesen ist, dem ich kein Leiden zufügen oder dessen Leiden ich verhindern helfen sollte“, schreibt Diamond, „bezeichnet ein besonderes Verhältnis zu diesem Tier.“
Als Zeitungsfrau ist mir durchaus bewusst, dass sich unser Empfinden von Tragödien nach deren Nähe zu uns selbst einstufen. Als ich damals im Sommer als Praktikantin bei der Hartford Courant arbeitete, verfasste ich einen Artikel über einen Einsatz der örtlichen Feuerwehr in Connecticut in Oregon; einige Feuerwehrleute flogen dorthin, um beim Kampf gegen einen verheerenden Waldbrand zu helfen. Das Großfeuer zerstörte über 4.000 Quadratkilometer, was ich doch etwas schade fand. Erst nachdem ich nach Oregon – also in die Nähe des damaligen Einsatzes gezogen war, war ich in der Lage, die wahren Konsequenzen eines solchen Großbrandes zu verstehen. Ein unkontrollierbarer Flächenbrand ist mehr als nur „schade“; er ist ein furchterregendes Desaster. Als ich zum ersten Mal eine Familie interviewte, die wegen eines Waldbrandes ihr Einfamilienhaus hatte verlassen müssen, und der jungen Mutter Tränen in die Augen stiegen, begriff ich die wahre Tragweite des Naturereignisses: Für die betroffenen Menschen war es tragisch. Die Nähe zum Geschehen verwandelte „schade“ in „tragisch“, begründete ein besonderes Verhältnis zu dem Ereignis.
Die gleiche Logik erklärt, warum ich zwar unbekümmert ein Steak verzehren kann, aber emotional aufgewühlt bin, wenn ich meinen geliebten Hund von seinen Qualen erlösen muss. Das Rind habe ich nicht persönlich gekannt. Der Hund aber war wie ein Familienmitglied.
Die gleiche Logik bezüglich der Nähe zum Geschehen macht den Ärger der Bewohner von Bend über das Töten der 109 Gänse verständlich. Sie fühlten sich den Tieren zu nahe, um sie als potenzielles Lebensmittel zu betrachten. Was sollen wir dann von der eigenen Einstellung halten, die uns erlaubt, unbekümmert Fleisch zu essen, das außerhalb unserer Sichtweite gemästet wird? Aus den Augen, aus dem Sinn? Genau genommen ist dies reine Heuchelei.
„Kein anderes Volk in der Geschichte der Menschheit“, schreibt Pollan, „hat je so distanziert zu den Tieren gelebt, die es aß.“
In diesem Licht betrachtet, erscheint die Jagd als ein besonders differenziertes Unterfangen: Die Verfolgung des Wildes fördert ein direktes Sonderverhältnis zwischen Jäger und Beute. Diese nahe Verbindung ändert jedoch nichts an der Bereitschaft des Jägers, das Wild zur Strecke zu bringen und dessen Wildbret zu genießen. Im Gegenteil sind Bejagung und Zubereitung der Jagdbeute Ausdruck dieses zustande gekommenen Sonderverhältnisses.

Abb.: klimkin auf Pixabay 


Die Jagd erinnert mich wiederholt an einen bedeutenden Aspekt der Mensch-Tier-Beziehung, der mir keineswegs immer bewusst ist. Meine Beziehungen zu Tieren fallen in zwei grobe Kategorien: „Freunde“ (zum Beispiel meine Haushunde) und „Feinde“ („Schädlinge“ wie Mäuse).
Zwischen diesen beiden Kategorien besteht eine ungeheure Distanz. Der Schwarzbär, der wenige Stunden vor mir Schwarzbeeren vom gleichen Busch pflückte. Die Henne, die meine Frühstückseier gelegt hat. Das Eichhörnchen im Baum in meinem Hinterhof. Die Kuh, ohne deren Milch es keinen Cheddarkäse auf meinem Tisch gäbe. Das neue Kaninchengehege in meiner Nähe, verdrängt durch den Bau eines neuen Einfamilienhauses in meiner Straße. Die Krabben, die in mein Netz gegangen und dann in meiner Stir-fry-Pfanne gelandet sind. Der Fisch, der sich im gleichen Netz gefangen hat, den ich aber tot wieder ins Wasser geworfen habe. Das Leben all dieser Tiere ist mit meinem verstrickt, ob ich diese Vernetzung nun bewusst anerkenne oder nicht.

Abb.: Photo by Myles Tan on Unsplash

Die meisten Tierarten auf Erden fallen irgendwo in die Mitte zwischen den beiden Extremen „Freund“ und „Feind“. Ich kann nicht mit Worten beschreiben, was ich für sie empfinde, wie ich sie behandle, welche Rolle sie in meinem Leben spielen. Ich kann sie in keine Kategorie einordnen und damit fassbarer machen. Dann und wann wird ein hübscher Kolibri, der sich an meinem Futterspender gütlich tut, zum „Freund“. Das Eichhörnchen, das den Futterspender zerstört, wechselt vielleicht vom „Freund“ zum „Feind“. Von solchen Ausnahmen abgesehen, nehme ich die Tiere an sich nicht wahr.
Das Problematische an diesem binären System liegt in seiner betrügerischen Einfachheit. Seit mehr als 20 Jahren hat die Neigung zum Binären mein Denken in die Irre geführt, zu Schwarz-Weiß- Entscheidungen bezüglich meiner Behandlung von Tieren. Als Fleischesser stehe ich vor einer klaren Wahl:

1. Entweder genieße ich einen Freund zum Abendessen oder
2. ich verzehre einen Feind zum Abendessen, der den Tod „verdient“ hätte.

Welche vernünftige Person würde die erste Option wählen? Und wer findet die zweite Wahl glaubwürdig, nachdem man ein Tier – ja, fast jedes Tier – näher gekannt, ihm in die Augen – den sprichwörtlichen Spiegel der Seele – geschaut hat? Bisher vor kurzem entschied ich mich für folgende Lösung: Das Fleisch auf dem Teller betrachtete ich einfach nicht als Tier. Durch die Jagd ist jedoch die Wahrheit nun voll in mein Bewusstsein gedrungen. Erst dieses Handwerk ließ mich die bis dahin übersehene Tierkategorie zwischen „Freund“ und „Feind“ entdecken. Nun gebe ich offen zu: Die Welt funktioniert nicht nach meinem Schwarz-Weiß-Prinzip. Sie funktioniert ganz anders.
In einer Szene seines Buches ist Foer Zeuge einer Schweineschlachtung. Das Schwein schaut Foer im letzten Augenblick seines Lebens an, und die brechenden Augen sind zutiefst bewegend.
„Dieses Schwein wurde nicht zum Gegenstand des Vergessens“, notiert er. „Dieses Tier wurde zum Gegenstand meines Mitleids. Ich empfand – und ich empfinde heute immer noch – Erleichterung bei dieser Erkenntnis. Mein Gefühl der Erleichterung hilft dem Schwein zwar herzlich wenig, aber das Gefühl ist mir wichtig.“
Der Respekt, den wir Tieren zollen, ist in mancher Hinsicht tatsächlich alles, was wir ihnen bieten können. Tiere sterben mit oder ohne unsere Anerkennung, ob wir uns von ihnen ernähren oder nicht, ob wir an ihrem Tod willig und direkt beteiligt sind oder indirekt und unbewusst.
Und wie stehe ich nun dazu? Wie steht es mit mir? Die Jagdbeute am Esstisch ist mir zu etwas Besonderem geworden. Ich empfinde vor der Mahlzeit ein Gefühl der Dankbarkeit. Zum ersten Mal ist dieses Gefühl authentisch. Ich bin aufgewachsen in einer Familie, für die ein Tischgebet zum Ritual gehörte: „God is great, God is good. And we thank him for our food.“ („Gott ist erhaben, Gott ist gut. Wir danken ihm für dieses Gut.“) Als Kind fand ich den Spruch fast lächerlich. In unserem Haushalt wurde Gott nur in diesem Tischgebet erwähnt. Auch der ungehobelte Reim störte mich. Erst seitdem ich mir mein Essen selber erjage – und zuschaue, wie die Beute im Nu von einem vitalen Lebewesen zu einer Tierleiche wird – bin ich für das Fleisch auf dem Teller echt dankbar. Auch das ist ein besonderes Verhältnis.

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Verlagsvorstellung des Buches:

Unzufrieden mit ihrer Arbeit in der Filmbranche und ihrem Leben in New York, zieht die junge Lily Raff McCaulou nach Bend im ländlich geprägten Oregon, um Journalistin zu werden. Hier lernt die erklärte Waffengegnerin und Tierliebhaberin Jäger und die uralte Tradition der Jagd kennen. Die bewusste Auseinandersetzung mit dem unreflektierten Fleischkonsum der US-amerikanischen Gesellschaft und deren widersprüchlichem Verhältnis zu Tieren lässt sie zur Jägerin aus Überzeugung werden. Ihre Lebenseinstellung verändert sich dadurch grundlegend.

Erzählerisch gekonnt lässt Lily Raff McCaulou Leserinnen und Leser das Weidwerk miterleben, ihre Beweggründe für ein Ja zur Jagd nachempfinden und verstehen, wie sie lernt und warum sie es vorzieht, „ihr Essen selbst zu jagen“.

Abb.: Lily Raff McCalou; Fotografin: Marisa Chappell

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Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Titel: Rufe der Wildnis: Warum ich zur Jägerin wurde

Autorin: Lily Raff McCalou

Übersetzer: Prof. John A. McCarthy, Vanderbilt University

Verlag: Franckh Kosmos Verlag

Verlagslink:https://www.kosmos.de/buecher/ratgeber/jagd/jagdpraxis-hege/9774/rufe-der-wildnis

ISBN-13: 978-3440163030

Buchvorstellung: https://krautjunker.com/2019/04/04/rufe-der-wildnis-warum-ich-zur-jagerin-wurde/

Erste Hälfte dieser Leseprobe: https://krautjunker.com/2019/05/17/rufe-der-wildnis-freunde-zum-essen-teil-1-2/

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Website der Autorin: http://www.lilyrm.com/

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