Buchvorstellung von Thomas Thelen
Der KRAUTJUNKER hat mich gebeten, das Buch Der Schneeleopard von Sylvain Tesson zu rezensieren, parallel zu seiner eigenen Buchbesprechung. Zum Zeitpunkt der Niederschrift meiner Anmerkungen kannte ich seinen Text noch nicht. Soweit meine Vorbemerkung.
Das in Deutschland bei Rowohlt erschienene Bändchen Der Schneeleopard ist ein literarischer Reisebericht über eine Expedition des bedeutenden Natur- und Tierfotografen Vincent Munier ins tibetanische Hochland, um Fotos des als (fast) ausgestorben geltenden Schneeleoparden zu machen. Es wurde im Jahr 2019 zum erfolgreichsten Buch in Frankreich, dem Heimatland der beiden Gefährten.

Der Autor des Berichtes, Sylvian Tesson, ist ein Extremreisender, der mit dem Fahrrad oder zu Fuß die Welt erkundet, den Himalaya, der von Sibirien nach Indien wandert und immer wieder auch Zentralasien durchquert hat.
Doch hier liegt aus meiner Sicht auch ein Knackpunkt des Textes begründet: Der Autor weiß nicht so recht mit seiner für ihn ungewohnten Rolle im kleinen Expeditionsteam (insgesamt vier Personen) umzugehen. Während seine bisherigen Touren (und Bücher) durch die Natur vor allem aus sich selber heraus besonders waren – ganz im Sinne von „der Weg ist das Ziel“ – gibt es bei der Schneeleopardenjagd ein klares Ziel: Zumindest ein Tier zu finden in der kargen Landschaft und herausragende Fotodokumente zu schaffen. Munier, der Leiter der Expedition, ordnet diesem Ziel alles unter, sein ganzes Leben ist bestimmt von der erfolgreichen Fotojagd.
Diese Zielorientierung bleibt Tesson fremd; eigenartig, aber symptomatisch seine Weigerung, bei den Exkursionen des Teams mehr zu tragen als seine persönliche Ausrüstung. Später erst, im dritten Teil des Buches, verweist er auf eine unfallbedingte Rückenverletzung, kokettiert aber immer wieder mit seiner Sonderrolle im Team.
Zu dieser Egozentrik des Autors gibt es eine Parallele bei einem anderen Expeditionsteam, das in den 70ern des vergangenen Jahrhunderts die Region erkundet und den Sehnsuchtsleoparden im Schnee gesucht hat – George B. Schaller und Peter Matthiesen, zwei Amerikaner. Auch diese beiden verfassten Bücher über ihre Reise – Schaller den wohl bedeutenden Titel Wildlife of the Tibetan Steppe, der auch zur Vorbereitung der aktuellen Mission diente, und Matthiesen den Band Auf der Spur des Schneeleoparden, zu dem Tesson kritisch-süffisant bemerkt: »Matthiesen war im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt geblieben.« Empfehle in dem Kontext die Bergpredigt, die Sache mit dem Auge, dem Splitter und dem Balken…
Tesson ist zumeist seiner egozentrischen Perspektive verhaftet, sein Reisebericht ist bis auf wenige Stellen ein Bericht über Tesson im Schlepptau der Expedition, während ich als Leser doch so gern mehr über Munier, diesen ungewöhnlichen Weltklassefotografen erfahren hätte.
Auf einer anderen, höheren Ebene setzt sich Tessons Egozentrik fort, denn sein Werk bleibt auch in der Frage, wie er den Menschen im Verhältnis zur Natur, in der Natur verortet, ungenau und wechselt die Perspektive, ohne diese Wechsel explizit zu machen oder gar zu hinterfragen. Er mag sich nicht so recht entscheiden zwischen »der Mensch als Krone der Schöpfung«, der »Mensch als Mittelpunkt« oder der »Mensch als Störfaktor«. Seine Tendenz ist zwar in weiten Strecken des Buches klar – Störfaktor. Doch diese Perspektive räumt er mit einem Satz wieder ab, ein Satz, der wie mit der Abrissbirne all die mystischen Naturerfahrungen und -beschreibungen des Büchleins zertrümmert und ad absurdum führt:
»Ein barbarisches Fest«
So beschreibt, bewertet er die erfolgreiche abendliche Jagd einiger Raubtiere in der eiskalten Kargheit der tibetanischen Hochebene. Der Fleischfresser muss nehmen, was er erlegen oder finden kann, der Pflanzenfresser, die potentielle Beute des Fleischfressers, ebenso. Tesson beschreibt all das sehr treffend, stellt fest, dass in dieser unwirtlichen Umgebung Überleben alles ist, Überfluss sei definitiv unbekannt. Und dann so ein Satz, so eine Aussage – »ein barbarisches Fest“. Später spricht er in Bezug auf die Natur vom »Morden auf sämtlichen Stufen des Lebens“, von »Krieg«, »Blutrausch« und »Massaker«, der Leopard als »Massenvernichtungswaffe«! Mehr Anthropozentrik geht kaum…
Dabei beschreibt er immerhin und fast im gleichen Atemzug, dass die Raubtiere – konkret: der beobachtete Schneeleopard – nach einer ausführlichen Mahlzeit gerne bis zu einer Woche oder länger ruhe. »Der Leopard wechselte zwischen fleischgierigen Raubzügen und wohligen Nickerchen«. Nichts deutet auf Jagd aus bloßer Lust am Töten hin!
Auch wenn im dritten Teil des Bändchens ab und an Aspekte der Einsicht aufblitzen, so bleibt der Autor doch seiner egozentrisch-anthropozentrischen Sicht treu: »Doch diese geröteten Hälse, diese gefiederten Furien nahmen mir alle Lust, meinen Körper eines Tages den Geiern zum Fraß vorgeworfen zu wissen. Hat man diese Vögel in ihrem Blutrausch erlebt, findet man den Gedanken an ein kleines letztes Chrysanthemenbeet im Pariser Umland auf einmal sehr reizvoll«.

Weitere, vielleicht der sauerstoffarmen Luft auf über 5.000 Meter Höhe geschuldete Überlegungen schwadronieren um den Determinismus, das Festgelegtsein des jeweiligen Tieres, der jeweiligen Pflanze auf ihr Sein in ihrer Umgebung, ihrer Umwelt als die wesentliche und beständige Erfolgsstrategie der Natur: »Sie blieben rein, weil beständig.« Steile These! Dabei bedarf es nur einer kleinen mentalen Anstrengung, um zu erkennen, dass nicht nur die perfekte und auf die Rahmenbedingungen der Hochebene hin optimierte Jagdmaschine Schneeleopard das Ergebnis eines ständigen Anpassungsprozesses ist, sondern jedes Tier, jede Pflanze, jeder Pilz – spätestens seit Charles Darwin uns das Überleben als kontinuierliche Anpassung (Survival of the fittest) erklärt hat: Evolution, nicht Determinismus ist der Erfolgsgarant allen Seins auf der Welt.
Doch für Tesson war die Welt, die Natur nur zum Zeitpunkt vor dem Urknall so richtig in Ordnung…
Dazu passen dann weitergehende Gedankenspiele, die aus der Determiniertheit der Natur eine gewisse Reinheit als bestimmende, als „richtige“ Zielvorstellung ableiten, eine vorbildliche Separierung der einzelnen Arten skizzieren – von hier aus sind es nur kleine Schritte hin zu den Grundlagen der politischen Thesen der Identitären Bewegung. Aber ich möchte das nicht überinterpretieren, vielmehr stört mich bei einem so bedeutenden Autor des modernen nature writing der Verzicht auf die Darstellung der Komplexität der Natur, das ebenso faszinierende wie fragile Ineinandergreifen der unterschiedlichen Akteure in einem Ökosystem. Ja, in diesem wundervollen Räderwerk hat Jedes seinen Platz, aber dieser Platz ist nicht diskret, sondern vernetzt zu betrachten und nur so zu verstehen.
Viele literarische Zitate und philosophischen Einsprengsel des Textes von Tesson entstammen einem typisch französischen, klassischen wie aktuellen Literaturkanon, der mir allerdings leider fremd ist. Auch daran mag meine unzulängliche Einordnung mancher Passagen des Buches begründet liegen…
Versöhnend mit dem Autor bleibt die Tatsache, dass sich beide Protagonisten der Expedition in der Unwirtlichkeit der tibetanischen Hochlandsümpfe ab und an eine Hoyo de Monterrey Epicure No. 2 anstecken – eine der verlässlichsten Havannas, auch und gerade am Ende der Welt!
Insgesamt bleibt meine Einschätzung des Buches ambivalent, gerne hätte ich mehr über den Fotografen gelesen und eher eine Reportage erwartet. Daher hab ich über die Seitenränder hinaus geguckt und ein bisschen mehr zu Vincent Munier gefunden…
Verlassen wir also die Einlassungen des Autors und schauen nochmals kurz auf den Grund der Reise. Wo sind wir überhaupt und warum?
Eine tibetanische Hochebene, ein karger, kalter, windiger Sumpf in +/- 5000 Meter über Null. Temperaturen oft weit unter Null, minus 30 Grad sind keine Seltenheit während der Expedition. Selbst Google Maps zeigt die Region – deutlich größer als Frankreich – als de facto weißen Fleck an, umringt von aus zentraleuropäischer Sicht exotischen asiatischen Staaten: Im Süden liegen von Ost nach West aufgereiht wie an einem Collier China, Bhutan, Nepal, Indien, Pakistan, Afghanistan. Im Nordwesten dann folgen Tadschikistan und Kirgisistan; weit im Nordosten die Mongolei.

Hier fühlt sich Vincent Munier wohl. Nein, das vielleicht nicht. Aber er ordnet sein gesamtes Leben, sein Sein der Schaffung von einzigartigen Bilddokumenten von Tieren und Landschaften unter. Wie ein Jäger, ein Raubtier liegt er oft tagelang auf der Lauer, trägt Tarnkleidung, verschmilzt mit der Umgebung, riskiert Erfrierungen und bleibt dabei ein neugieriger Wahnsinniger mit dem Blick für den rechten Augenblick.
In einem kurzen Absatz portraitiert Tesson Munier so: »Obwohl ausgesprochen mildtätig, sah Munier sich nicht als Humanisten. Das Tier in der Okularmuschel war ihm lieber als der Mann im Spiegel, für ihn bildete der Mensch nicht die Spitze der Lebenspyramide. Er wusste, dass unsere, erst seit kurzem im irdischen Haus lebende Spezies sich als Herrscherin aufspielte und den eigenen Ruhm mit der kompletten Auslöschung alles Andersartigen festigte«.
Munier stammt aus den Vogesen, der frugalen Ecke: Als 12-jähriger macht er seine ersten Naturfotos in der rauen Urwaldlandschaft, ist tagelang draußen, strauchelt in Schule und Ausbildung, weiß aber stets, was er will. Zum Glück unterstützt sein Vater ihn auf seinem Weg. Heute ist er ein weltweit anerkannter Fotograf. Seine ikonographischen Bilddokumente sind oft monochrom, er liebt die langen Brennweiten, die das Tier aus der Umgebung herauslösen – Portraitkunst am Ende der Welt.
Doch selbst er muss sich Vorwürfen stellen, erfahren wir im Buch Der Schneeleopard, zumindest dem der Ästhetisierung. „Schöne“ Naturfotografie ohne Verweis auf die Umweltsünden sei ästhetisierend und daher Abbild einer fehlleitenden Realität. Vergleichbare Vorwürfe gibt es seit dem Siegeszug der Kriegs- und Krisenbildberichterstattung, also „seit Vietnam“, auch gegenüber den ikonografischen Fotodokumenten herausragender Fotoreporter, die die Abgründe menschlichen Leids und infernalischer Gewalt für die Titelseiten und die Wohnzimmer festhalten.
Aber die Rückzugsreviere bedrohter Arten liegen eben auch deshalb in völlig unzugänglicher und daher eher unberührter Natur, weil die Natur weiträumig unter Druck steht. Munier selbst bezieht Stellung und verteidigt seine Bildsprache mit dem Argument, dass es bereits ausreichend viele und erschütternd gute kritische Bilder gebe, er sehe seine Passion, seine Aufgabe in der Dokumentation der Schönheit bedrohter Paradiese.
*
Thomas Thelen

Thomas Thelen ist Deutsch-Drahthaar-Bändiger, Leihhund-Bespaßer, Fliegenfischer, Holzwerker und Genießer – und eher nebenher Unternehmensberater und Autor.
Zuhause in den südbadischen Weinbergen, hält er nicht nur nach Schwarz- und Rehwild Ausschau, sondern auch nach empfehlenswerter Lektüre und leckeren Rezepten. Wenn sie seinen Geschmackstest bestehen, werden sie hier umgehend weiterempfohlen – oder kritisch betrachtet.
*

Auf der Nikon Ambassador Website erfährt man mehr über den elsässischen Meisterfotografen, der unter wahrhaft widrigsten Witterungsbedingungen und bei schwachem Licht fotografische Meisterwerke mit der langen Brennweite erschafft. In pointilistischer Tradition entstehen einfühlsame Tierportraits und komplexe Darstellungen wie das monochrome, weiß-in weiße Bild einer Eisbärin mit ihrem Jungtier beim Aufstieg in der Eiswand.

https://www.nikon.de/de_DE/learn_explore/ambassadors/europe_ambassadors/vincent_munier/bio.page
F: WARUM HABEN SIE TIBET FÜR IHR SPEZIALPROJEKT AUSGESUCHT?
Tibet ist Heimat einiger der wildesten Tiere, und nur sehr wenige Menschen leben dort. Ich habe viele Bücher über Tibet und seine Tierwelt gelesen, insbesondere die des amerikanischen Biologen George Schaller, der in den 1970er und 80er Jahren auf dem tibetischen Plateau gearbeitet hat. Trotz Schallers Arbeit ist Tibet relativ unbekannt und seine Tierwelt ist daher weitgehend undokumentiert. Sie finden Tiere, die es nur in dieser Region und nirgendwo anders auf der Welt gibt.
Ich wollte insbesondere Aufnahmen des gefährdeten Schneeleoparden und unbekannter Tiere wie dem Manul machen.
F: WAS WAREN DIE GRÖSSTEN HERAUSFORDERUNGEN BEI DER ARBEIT IN TIBET
Tibet ist unglaublich schwer zugänglich – sowohl aus geopolitischer Sicht als auch in praktischer Hinsicht, aufgrund seiner Höhenlage. Wenn Sie über einen Trip in ein Land wie Tibet nachdenken, lassen Sie sich unbedingt von Forschern beim Planen der Route helfen. Es war unmöglich, eine zuverlässige Karte in Tibet zu finden, sodass ich mit Google Earth meinen Stand- und Zielort verfolgen musste.
Es ist denke ich auch wichtig, zu versuchen, mit jemandem zusammen zu reisen. Ich bin einmal mit jemandem gereist, den ich da draußen getroffen habe und der mir auf alle möglichen Arten geholfen hat – vom Bekommen eines Telefonsignals bis hin zum Errichten eines Basislagers. Ich bin vor Kurzem mit einem Assistenten und einem weiteren Freund nach Tibet zurückgekehrt. Dieses zusätzliche Augenpaar war unbezahlbar bei der Suche nach dem Schneeleoparden, der unglaublich gut getarnt und schwer zu erkennen ist, wenn man ihn in den Bergen sucht.
F: WAS HABEN SIE BEI IHREM TIBETBESUCH GELERNT?
Ich habe viel über mich selbst gelernt. Der Mensch hat eine sehr seltsame Beziehung zur Natur – es liegt eine Kluft zwischen uns. Wenn ich an Projekten arbeite, gehe ich gerne an die Grenzen und versuche, diese Lücke zu schließen. Das ist nicht einfach, und oft habe ich Angst vor dem Gelände, dem Klima und sogar den Tieren. Aber es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, dass sie nicht die Herren der Welt sind.
Ich schätze es, regelmäßig zurück in die Natur gehen zu können und ohne meinen Wohnkomfort zu leben, unter denselben Bedingungen wie diese Tiere. Am Ende des Tages sind wir alle Tiere.
F: WAS WAR DER DENKWÜRDIGSTE MOMENT DER REISE?
Ich hatte ein unglaublich nahes Zusammentreffen mit einem wunderschönen Schneeleoparden. Ich habe eine Mutter mit ihrem Jungtier aufgespürt und bin zwei Tage lang bei ihnen geblieben und habe sie hinter einem Felsen beobachtet. Zuerst hat sie versucht, Blauschafe, das Hauptbeutetier des Schneeleoparden, zu jagen. Als das nicht geklappt hat, ist sie zu einer Schlucht weitergezogen, und ich konnte ihr dorthin folgen.
Ich war etwa 100 Meter von ihr entfernt, was gleichzeitig unglaublich und unheimlich war. Dann habe ich gemerkt, wie sie meinen Schatten bemerkte. Ich habe mich sofort auf den Boden fallen lassen, sie kam immer näher, und mir ist klar geworden, dass sie mich jeden Moment angreifen könnte. Nach kurzer Zeit bin ich aufgestanden, um ihr zu zeigen, dass ich ein Mensch und kein wildes Yak oder potenzielles Beutetier war. Sie ist weggelaufen, doch ihr kurz gegenüberzustehen, war ein wundervoller Moment. Ich habe viel über Schneeleoparden gelesen, aber von niemandem eine solche Geschichte gehört. Sie wissen alles über ihre Berge – meistens sehen sie dich, du sie aber nicht. Diesmal haben wir einander gesehen.
F: WAS FASZINIERT SIE AN SCHNEELEOPARDEN?
Ich liebe es, großen Raubtieren wie Bären und Wölfen gegenüberzustehen – große, wunderschöne Tiere vor dir zu sehen, hat einen gewissen Nervenkitzel. Noch aufregender wird es, wenn es eine Herausforderung ist. Ich war drei Mal in Tibet, bevor ich den Schneeleoparden zum ersten Mal gesehen habe. Ich hoffe, eines Tages den sibirischen Tiger zu sehen – bei diesem Job weiß man nie, wem oder was man sich gegenübersehen wird.
F: WELCHE ANDEREN TIERE WÜRDEN SIE GERNE EINMAL FOTOGRAFIEREN?
Mich fasziniert der Manul, so etwas wie eine Kreuzung zwischen Schneeleopard und Wildkatze, da er ein so unbekanntes Tier ist. Es gibt aber viele einzigartige Tiere in Tibet, etwa Antilope, Wildesel und wildes Yak. Es gibt nur 15.000 wilde Yaks in Tibet. Sie gehören zu den gefährdeten Tierarten.
F: WIE PLANEN SIE SOLCHE PROJEKTE?
Man muss unbedingt Nachforschungen anstellen, bevor man auf einen Trip dieser Art geht. Ich lese so viele Bücher wie möglich, wobei nicht viel über das Gebiet und seine Tierwelt veröffentlicht wurde. Das hat zwar seinen Reiz, bedeutet aber auch, dass mein Wissen einige Lücken hatte, mit denen ich klar kommen musste. Insbesondere der Manul ist eine Spezies, über die die Welt nur sehr wenig weiß.
*
KRAUTJUNKER-Buchvorstellung:
Das Dach der Welt, wie das im Himalaya gelegene Tibet aufgrund seiner Höhe von rund 4.500 Metern bezeichnet wird, ist eine der abgeschiedendsten und unwirtlichsten Regionen der Welt. In den auf 6.000 Höhenmetern gelegenen wüstenhaften Hochebenen können die Temperaturen auf klirrende minus 40 Grad Celsius fallen. Auch im 21. Jahrhundert ist es schwer, die von gewaltigen Gebirgsmassiven umgebene Landschaft zu erreichen und noch schwerer, dort zu überleben. Gleichzeitig verzaubert uns die majestätische Hochgebirgswildnis mit ihrer dramatischen Topographie. Schrecken und Schönheit sind hier eins.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Schneeleoparden, einer der seltensten und schönsten Großkatzen. »Leopard, ein Name klingend wie Geschmeide.« Mit seinem besonders dichten Fell und breiten Schneeschuhpranken ist der agile und sehr effektive Jäger perfekt an sein unwirtliches Habitat zwischen Fels und Eis angepasst. Verfügen Menschen pro Quadratzentimeter Kopfhaut über 180 bis 300 Haare, besitzt der König des Berges 4000. Sein wunderschöne Pelz lässt ihn optisch mit seiner Heimat aus Fels und Stein verschmelzen. Sechzehn Meter weit kann das Raubtier springen. Nicht umsonst wird er als Geist oder Phantom der Berge bezeichnet.

»Er lag im Gestrüpp verborgen, vor einem schon dunklen Felsvorsprung. Hundert Meter weiter unterhalb schlängelte sich der Bach durch die Schlucht. Man hätte einen Steinwurf entfernt vorbeigehen können, ohne ihn zu sehen. Es war eine religiöse Erscheinung. Noch heute umgibt die Erinnerung an diesen Anblick etwas Heiliges.
Er hob witternd den Kopf. Er trug das Wappen der tibetischen Landschaft. Sein Fell, Intarsien aus Gold und Bronze, gehörte dem Tag, der Nacht, dem Himmel und der Erde. In ihm spiegelten sich die Kämme, der Firnschnee, die Schatten der Schlucht und das Kristall des Himmels, der Herbst der Berghänge und die Artemisia-Sträucher, das Geheimnis der Gewitter und silbernen Wolken, das Gold der Steppen und das Leichentuch des Eises, der Todesdampf der Mufflons und das Blut der Gemsen. Er trug das Fell der Welt. War in Rollenvorstellungen gehüllt. Der Leopard, Genius der Schneelandschaft, hatte sich in die Erde gewandet.
Ich glaubte ihn in der Landschaft getarnt, doch es war die Landschaft, die bei seinem Erscheinen erlosch. Sobald mein Blick auf ihn fiel, wich in einer optischen Wirkung wie bei einem Ransprung im Film die Kulisse zurück und ging schließlich ganz in seinen Gesichtszügen auf. Aus diesem Gestein geboren, war er selbst zum Berg geworden, er drang aus ihm hervor. Er war da, und die Welt erlosch. Der Leopard verkörperte die griechische Physis, die lateinische Natura, der Heidegger eine eine religiöse Definition gegeben hatte, „als dasjenige, was von ihm selbst her aufgeht und so erscheint.“
Kurzum: Eine große, gesprenkelte Katze kam plötzlich aus dem Nichts und nahm ihre Landschaft in Beschlag.«
Der Schneeleopard ist der poetische Reisebericht des Journalisten und Geographen Sylvain Tesson mit dem Fotografen Vincent Munier. Mit dabei Muniers Verlobte, die Tierfilmerin Marie, eine »menschlichen Wölfin mit Lapislazuli-Augen« sowie Muniers Adjudanten, dem Philosophen Leo. Aus Muniers Fotos und Tessons Gedichten entstand parallel der Bildband Zwischen Fels und Eis, dem dieser Blogbeitrag die grandiosen Fotos verdankt.

»Munier und Marie liebten einander. Still, ohne leidenschaftliche Ausbrüche. Er, groß und athletisch, verstand es, die Welt zu lesen und respektierte das Rätselhafte an dieser biegsamen Frau, die nichts von sich preisgab. Sie, überaus schweigsam, bewunderte den Mann, der um Geheimnisse wusste, aber die ihren unangetastet ließ. Zwei junge griechische Götter in der Gestalt prächtiger, überlegener Tiere. Ich freute mich, sie zusammen zu erleben, selbst bei -20 °C.«
Das erfolgreichste französischsprachige Buch 2019 wurde Der Schneeleopard aufgrund seiner außergewöhnlich schönen, geradezu hypnotischen Sprache und der Wiederspiegelung unseres Zeitgeistes. Humor hat der Mann, der auf seinen Presefotos mit zerknautschtem Gesicht wie ein Forschungsreisender aus einem Tim-und-Struppy-Comic posiert, ebenfalls: »Wie bei Tiroler Skilehrern findet das Liebesleben des Schneeleoparden in weißer Landschaft statt.«
Die Ausformulierung unseres Zeitgeistes ist bei der Verteidigung seines Fotografen-Freundes schön zu erkennen:
»Die Wissenschaftler behandelten ihn von oben herab. Munier nahm die Natur als Künstler wahr. Bei den Rechenfanatikern und Untertanen im „Reich der Quantität“ zählte er nichts Ich hatte ein paar dieser Berechnungskünstler kennengelernt. Sie beringten Kolibris und schlitzten Silbermöwen auf, um Gallenproben zu entnehmen. Sie gossen die Wirklichkeit in mathematische Gleichungen. Die Zahlen summierten sich. Poesie? Fehlanzeige. Ein Zugewinn an Erkenntnis? Nicht unbedingt. Die Wissenschaft kaschierte ihre Grenzen hinter der Anhäufung numerischer Daten. Die Verzifferung der Welt sollte das Wissen befördern. Reine Überheblichkeit.
Munier wiederum erwies allein der Pracht seine Ehre. Er huldigte der Anmut des Wolfes, der Eleganz des Kranichs, der Vollkommenheit des Bären. Seine Fotografieren gehörten zur Kunst, nicht zur Mathematik.«
Wer fühlt sich da nicht an die deutsche Romantik erinnert mit ihrer irrationalen Vorliebe für das Extreme, Impulsive und träumerische Idealisieren? Sowohl innerhalb als auch außerhalb des Buches bedankt sich Tesson bei den deutschen Dichtern der Romantik, für seinen literarischen Zugang zur Natur. Es gibt Passagen in dem Buch, die für das dramatische Deklamieren verfasst wurden: »Die Abhänge geriefelt von schwarzen Maserungen, Rinnsale aus dem Tintenfass Gottes, der nach der Niederschrift der Welt seine Feder ablegt.«
Seine nihilistische Haltung zu Technik und Wirtschaftsleben der Moderne ist der Rückzug in die Wildnis und die poetische Literatur. Nichts Stoffliches möchte er hinterlassen. Noch nicht einmal Kinder.
Ganz passend dazu verurteilt der Autor Jäger als Mörder und gibt ihnen die Schuld an der niedrigen Schneeleoparden-Population. Wissenschaftlich widerlegt, irrationaler Mumpitz. Zum einen ist Mord die Tötung eines Menschen aus niedrigen Motiven. Wäre das Töten von Tieren so lustvoll, würden sich Jäger darum drängeln ohne Entgelt in Schlachthäusern zu töten. Wo es Wildtiermanagement und kontrollierte Jagd gibt, ist der Erhalt von Wildnis und Wildtieren sichergestellt. Menschen, die am Existenzminium in der Wildnis leben, betrachten aus ihrer Perspektive Wildtiere zurecht als Störenfriede. Große Pflanzenfresser zerstören ihre Ernte und große Raubtiere sind eine Bedrohung für Vieh und Menschen. Eine Haltung, die auch in Europa vorherrschte, bevor durch Liberalisierung und Industrialisierung ein bisher ungeahnter Wohlstand erreicht wurde. Gelingt es jedoch, Jäger in die Wildnisgebiete zu locken, welche hohe Prämien für ihre Abenteuer zahlen, bedeutet Wildnis Wohlstand. Arme Hirten verdienen als Jagdführer oder Wildhüter Geld und es wird für sie unsinnig Wildtiere zu wildern (siehe: https://www.spektrum.de/news/schiessen-um-zu-schuetzen/1502991 & https://tribune.com.pk/story/2289143/how-trophy-hunting-saved-the-markhor).
Sylvain Tesson erwähnt Peter Matthiessens literarisches Meisterwerk Auf der Spur des Schneeleoparden (siehe: https://krautjunker.com/2019/12/04/auf-der-spur-des-schneeleoparden-expedition-in-ein-vergessenes-land-eine-reise-in-grenzbereiche-der-erfahrung/) wobei er dem Autor vorwirft, mehr über sich als über das Raubtier zu schreiben, tut es ihm jedoch gleich. Tessons Buch ist eine moralisierende Auseinandersetzung mit seinem Gedankenkarussell. So habe ich in dem ganzen Buch kaum etwas Neues über Tibet oder Schneeleoparden erfahren. Fakten sind für Romantiker einfach nicht so relevant wie Moral und Gefühle. Dafür bin ich jetzt über die schroffe Seelenlandschaft sowie das gescheiterte Liebesleben des Autors im Bilde.
Der Schneeleopard ist ein ganz besonders gefühlvolles und poetisches Buch, welches Lesern mit Sprachgefühl großen Genuss bereitet. Eine berauschende und schwermütige Wortmusik, deren Inhalt vernachlässigt werden kann. Mir hat Der Schneeleopard gefallen. Man hört ja auch nicht Wagner, um Fakten über die Spätantike zu erfahren, sondern aus reinem Kunstgenuss und kunstvoll geschrieben ist das Buch.

*
Rowohlt-Verlagsvorstellung von Sylvain Tesson

Sylvain Tesson, geboren 1972 in Paris, ist Schriftsteller, Geograph und ein leidenschaftlicher Reisender. An eine erste Expedition nach Island schlossen sich weitere an: mit dem Fahrrad um die Welt, zu Fuß durch den Himalaya und zu Pferd durch die Steppe Zentralasiens. Für seine Reisebeschreibungen und Essays wurde Sylvain Tesson mit dem Prix Goncourt de la nouvelle und zuletzt mit dem Prix Renaudot für «Der Schneeleopard» ausgezeichnet.
*
Knesebeck-Verlagsvorstellung von Vincent Munier

Der in den Vogesen aufgewachsene Naturfotograf Vincent Munier widmete sein Berufsleben schon früh der Naturfotografie. Er wurde mehrfach mit dem Wildlife Photographer of the Year Award ausgezeichnet. Seine Bilder werden auf der ganzen Welt ausgestellt und erschienen u. a. in National Geographic, GEO oder dem BBC Wildlife Magazine. Munier setzt sich stark für den Naturschutz ein.
Weitere Informationen:
www.vincentmunier.com
***

Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER gibt es eine Facebook-Gruppe und Outdoor-Becher aus Emaille. Kontaktmail für Anfragen siehe Impressum.

Titel: Der Schneeleopard
Autor: Sylvain Tesson
Übersetzung: Nicola Denis
Verlag: Rowohlt Buchverlag
Verlagslink: https://www.rowohlt.de/buch/sylvain-tesson-der-schneeleopard-9783498002169
ISBN: 978-3498002169
*

Titel: Zwischen Fels und Eis – Auf den Spuren der letzten Schneeleoparden in Tibet
Fotograf: Vincent Munier
Autor: Sylvain Tesson
Verlag: Knesebeck Verlag
Verlagslink: https://www.knesebeck-verlag.de/zwischen_fels_und_eis/t-1/821
ISBN: 978-3-95728-319-1
Ein Kommentar Gib deinen ab