von Michael Rudolf
Der Perlpilz ist ein Grenzgänger, einer, der in den Grauzonen der Genießbarkeit wildert. Technisch ausgedrückt: Er ist bedingt eßbar.
Außerdem gehört er einer Pilzfamilie an, die sich Amanita – Wulstlinge – nennt. Das ist kein in Vergessenheit geratener Mädchenname, sondern die Klassifizierung einer äußerst zwiespältigen Gruppe. Die prominentesten Würdenträger dieser Wulstlinge sind der Fliegenpilz (Amanita muscaria), der Grüne Knollenblätterpilz (Amanita phalloides), der Pantherpilz (Amanita pantherina) und der Kaiserling (Amanita caesarea).
Zwiespältig heißt hier ganz konkret, daß die einzelnen Vertreter sich der höchsten Verwechslungsrate im Pilzreich erfreuen. Es ist in unseren zunehmend oberflächlichen Zeiten weltweiter Globalisierung keine Kunst mehr, vor allem junge Vertreter dieser Familie in einen Topf zu hauen. Junge Perlpilze ähneln jungen Fliegenpilzen, Pantherpilzen, Knollenblätterpilzen und Kaiserlingen wie ein Ei dem anderen. Woher das kommt? Weil sie wie aus einem Ei schlüpfen. Beim Grünen Knollenblätterpilz und beim Kaiserling bleiben die Eierschalen als Volva erhalten, ein Beweisstück, das die knollige (wulstige) Stielbasis wie ein Kugellager umschließt. Bei den anderen überdauern die Schalenreste als hagelzuckergroße Warzen auf dem Hut. Ein weiteres Kennzeichen ist der Ring (Manschette), der am Stiel zurückbleibt, wenn der Hut seinen Schirm aufspannt. Es ist durchaus nicht verfehlt, von einer dedizierten Spektabilität dieser Familie zu sprechen.
Abb.: Fliegenpilz (Amanita muscaria), Bildquelle: Wikipedia
Doch täuscht der äußere Eindruck immens. Während der Fliegenpilz die eindeutigen Signale seiner Gefährlichkeit mit sich herumträgt (feuerwehrroter Hut) und demzufolge schon in Märchen- und Schulbüchern kinderleicht als Prototyp des Giftpilzes stigmatisiert wird, steht seine Giftigkeit in keinem Verhältnis zum Grünen Knollenblätterpilz. Der Rote Fliegenpilz dealt von Mal zu Mal mit stark differierenden Muscarindosen, und der frühherbstliche Wald verkommt zum größten legalen Drogenumschlagplatz, weit vor dem Oktoberfest. Heute wird kaum noch jemand von tödlicher Giftigkeit reden wollen, doch die Freunde des Rausches erkaufen ihren Freudentaumel nicht selten teuer. Muscarin befördert Rauschzustände, Halluzinationen und euphorisches Nebenderkappelaufen, die einer subkomatischen Depression Platz machen. Außerdem erfahren Magen und Darm erhebliche Beschwerden, Schweißinflation, Speichel- und Tränenüberproduktion inklusive.
Abb.: Pantherpilz (Amanita pantherina), Bildquelle: Wikipedia
Ähnliche Symptome treten beim Pantherpilz auf. Er trägt einen graubraunen bis geblichen Hut mit dem gleichen Krustenschmutz und Pustelwulst. Lamellen, Stiel und Fleisch sind unveränderlich weiß, und seine Manschette ist nicht gerieft. Dafür ergänzt er die Fliegenpilzpalette um Wutausbrüche, SPD-Wählen und noch extremere Übelkeit. Wen also Dauerkotzen, Schwindelgefühl und die Neue Mitte nicht stören, der mag ruhig zwei Tage in diesem Elend verbringen.
Abb.: Kaiserling (Amanita caesarea), Bildquelle: Wikipedia
Der ebenfalls rotbehütete Kaiserling ist nicht nur eßbar, sondern für viele die Pilzdelikatesse schlechthin. Gerade deswegen rät jeder Sachverständige beim Kaiserling zur Vorsicht und zum Einprägen seienr Gattungsmerkmale im Unterschied zum Roten Fliegenpilz: Stiel, Ring, Lamellen und Fleisch müssen goldgelb sein. Bitte die gratis mitgelieferte (groß und weiß) Scheide beachten.
Merken!
Abb.: Grüner Knollenblätterpilz (Amanita phalloides), Bildquelle: Wikipedia
Ungleich schlimmer und mit unausweichlich letalen Folgen behaftet ist das Elend des Knollenblätterpilzgenusses, des giftigsten und heimtückischsten aller Pilze. Heimtückisch zumal, weil das mild nussige Geschmackspsychogramm des Grünen Knollenblätterpilzes keine toxischen Ahnungen aufkommen läßt. Nach vier Stunden geht es mit intensiven Magen-Darm-Verwerfungen los. Diarrhöe, Erbrechen, all das. Der Tod tritt im günstigen Fall durch Herzstillstand und nach kurzer Zeit (vier Stunden) ein, im ungünstigeren Fall werden Niere und Leber langsam (zwei Tage) atomisiert, und der bis zur Erlösung bei vollem Bewußtsein ausharrende Konsument muß Schreckliches an sich erdulden. Die wichtigsten Trademarks noch einmal zum Mitschreiben: olivgrün bis weißlicher, faserig-filziger Hut, Lamellen weißlich bis gelblich, Ring und Scheide weißgestreift, das Fleisch nach Rosenblüten duftend.
Abb.: Perlpilz (Amanita rubescens), Bildquelle: Wikipedia
Der Perlpilz dagegen hat von jedem etwas und setzt sich ein bräunlich rötendes, leicht perlmütterlich schimmerndes Barett auf, die Lamellen sind immer weiß und etwas rosa befleckt, der Stiel, der geriefte Ring und das feuchtfeste Fleisch zeigen sich immer weiß bis rot. Vor allem die Fraßkanäle der insektoiden Mitessensind immer stark errötet. Und nochmals die Warnung: im Zweifelsfall den Pilz stehenlassen und meinetwegen mit Verachtung strafen. So köstlich ist er auch wieder nicht.
Doch halt!
Wir haben neuerdings mit Dillsauce genügend unkonventionelle Waffen zur Hand, um dem oft geschmähten Perlpilz kulinarische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Zudem ist die Dillsauce an vornehmeren, will heißen milderen, also nussigeren Pilzen pure Verschwendung. Einen XXL-Eßlöffel Butter zerlassen und ihr ordentlich grob gemahlen Pfeffer geben. Das kann ruhig eine längere Zeit brutzeln. Sagen wir: fünf Minuten. Ich bilde mir nämlich ein, daß dadurch die Schärfe des Pfeffers mit Aroma substituiert wird. Eine halbe winzigklein gewürfelte Zwiebel ergänzt den Pfanneninhalt und sorgt für unmißverständliche Duftsignale. Die Zwiebeln dürfen bald leicht erbräunen, dann sind die möglichst vorher an Ort und Fundstelle nach guter Indianerart skalpierten Perlpilzscheibletten dran. Es muß viel gerührt werden. Perlpilze eignen sich leider schlecht zum Braten, müssen aber aufgrund ihres Muscaringehaltes trotzdem eine Mindestzeit von zwanzig Minuten auf der Flamme zubringen (niemals roh verzehren!). Ab jetzt zerfällt die Perlpilzgefolgschaft in zwei unversöhnliche Lager. Die Konservativen nehmen Mehl, die angeblich Progressiven Mascarpone. Solche Bewertungen sind natürlich Quatsch. Für uns genügt: Mit Mehl wird es eine gewöhnliche Mehlschwitze. Einzige Modifikation: Der Saucenfond aus Sahne wird sofort mit der anderen Hälfte der auseinandergewürfelten Zwiebel beglückt. Den passend gezupften Dill erst kurz vorm Servieren zugeben, während die obligatorisch bereitgehaltene Petersilie in hohem Bogen aus dem Fenster fliegt. Die Fraktion um Don Mascarpone gibt statt Mehl die Restzwiebel z den Pilzen, knipst den Herd aus und rührt zwei bis drei happige Löffel des gleichnamigen Frischkäses darunter. Auch hier gilt ehern: Brüsseler Dillspitzen zum Schluß. Beide könnten jetzt noch einen guten Schluck Weißwein vertragen. Wir auch.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
Titel: Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer
Verlag: Reclam Leipzig, 2001
Autor: Michael Rudolf (* 1961; † 2007)
ISBN: 3-379-01736-1
Link zum aktuellen Verlagsprogramm: https://www.reclam.de/programm
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Folgende Beiträge aus dem Buch sind bereits auf KRAUTJUNKER erschienen:
https://krautjunker.com/2017/05/19/saisonstart-am-elfenteich-schuppiger-porling-polyporus-squamosus/
https://krautjunker.com/2016/11/10/schwarze-diamanten-trueffel-tuber/
https://krautjunker.com/2016/09/29/vom-glueck-auf-dem-land-faltentintling-coprinus-atramentarius/
https://krautjunker.com/2016/09/05/unser-allergroesster-hallimasch-armillaria-ostoyae/
https://krautjunker.com/2016/07/10/landtage/
https://krautjunker.com/2016/07/05/der-weg-ist-das-ziel/
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Für die Bereitstellung des wunderschönen Fotos für das Titelbild bedanke ich mich einmal mehr bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher
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