von Michael Rudolf
Wenn der Wald seine Herbstkollektion vorführen möchte, bedient er sich in den meisten alle Fälle seiner Topmodel-Riege aus dem Hause Russula. Die Täublinge. Diese Agentur hat für jeden Geschmack was dabei: blonde, braune, schwarze, rote, grüne, sogar orange, graumelierte und blaue und violette – was das Herz begehrt. Das Farbenspektrum dieser bunten Truppe wird höchstens vom Regenbogen übertroffen. Nach ihrer skulpturalen Grazie sollten ursprünglich alle anderen Pilze geformt werden – mehr oder weniger gelungen, wie wir wissen. Ihre makellosen Hüte und verführerisch schlanken Beine mit den raffiniert platzierten Scheinheitsflecken sind ein Sinnbild für sündiges Ebenmaß, ihre Lamellen das ewig unerreichte Vorbild für Sahne- und Cremefarbe. Schnickschnack wie die Plagiatoren haben sie kaum nötig: Velumkapuzen, Flocken oder Schuppen? Fehlanzeige. Milch? Wozu? Netzstrapse, Ringe oder Knollen am Stiel? Pah! Vollendung – du hast einen Namen.
Abb.: Frauentäubling; Russula cyanoxantha)
Stimmt, die Namen: Amethysttäubling, Apfeltäubling, Blasser Täubling, Buckeltäubling, Buntstieliger Taubentäubling, Dickblrättriger Schwarztäubling, Dottertäubling, Gelber Täubling, Gemeiner Weißtäubling, Glanztäubling, Goldtäubling, Grasgrüner Täubling, Graustieltäubling, Grüngefederter Täubling, Heringstäubling, Honigtäubling, Jodoformtäubling, Ledertäubling, Mandeltäubling, Milder Kammtäubling, Milder Wachstäubling, Orangetäubling, Papageitäubling, Purpurschwarzer Täubling, Rauchbrauner Täubling, Reiftäubling, Rosatäubling, Scharfblättriger Täubling, Speisetäubling, Violettstieliger Täubling, Wieseltäubling, Ziegelroter Täubling, Zinnobertäubling, Zitronentäubling.
Da können wir nur noch an das Eine denken! Täubchen, ähem, Täublinge sammeln.
Ihre inoffiziellen Herrscherinnen aber sind die Frauentäublinge. Zum einen, weil deren Lamelllen als einzige nicht brüchig und spröde wie bei den Untertanen sind,. Zum anderen, weil sie es mühelos schaffen, alle Farben der Vorgenannten auf sich zu vereinen. Von ihrem nächtlich ausgelassenen Treiben tuscheln die neidischen Pilznachbarn Unerhörtes, und ihr nussig-milder Wohlgeschmack hat dem Grünfgefelderten Täubling längst den Rang abgelaufen. Man muß sie einfach lieben. Schade nur, daß der sonst faire und freundliche Rivale traurig-bitteren Blickes seiner Ausrottung entgegensieht. Ein Schicksal, von dem die Frauentäublinge nichts zu befürchten haben. Niemand weiß die Gründe. Aber es ist gut so.
Abb.: Frauentäubling; Russula cyanoxantha)
Man kann das ab Juni täglich im nächstbesten Laubwald um die Ecke, im mischbewaldeten Hang, in den Buchenhainen, in den Fichten- und Kiefernforsten verifizieren.
Man kann aber auch nach Ungarn fahren und das freundliche Entwicklungsland per Anhalter durchstreifen. Man kann sich von der Sonne rösten lassen, in jedem Dorf ein Duschbad unter den Straßenpumpen nehmen, an der wiederaufgebauten Burg Czesznek vorbeipilgern und einen sonnigen Hang für den Zeltbau abchecken.
Abb.: Burg Czesznek; Bildquelle: Wikipedia
Schon, weil hier ausnahmsweise statt Robinien kleine Fichten aufgeforstet werden. Einige Vogelbeerbäume haben sich in der Schonung verirrt und sind der Bequemlichkeit halber gleich geblieben. Oben, am Kamm des Hügels, halten riesige Buchen auf gemessene Distanz. Man kann sich ihnen furchtlos nähern und für ein paar hundert Schritte in ihrem Schatten Erholung finden, während draußen eine Art Begrüßungsgewitter herniederprasselt. Man kann aber auch die barocke Pracht der aus purer Neugierde angelockten Frauentäublinge bewundern. Sie scheinen einem Pilzlehrbuch (möglichst den Schautafeln aus dem Kronen-Verlag Hamburg) entsprungen zu sein, eine unnachahmliche Einheit von Habitus und Performanz, und am liebsten möchte man sie alle anfassen. Man kann bei den scheinbar Unscheinbaren mit dem fast schmutzig-grünspanigen Überzug wie bei alten Kupferlampen erwägen, ob sich ein kurzes Reiben lohnen würde. Man kann aber auch die Attraktivsten mit der optimalen Körbchengröße auswählen und unter Jubel und Triumphgeschrei in den kleinen Alutopf über der Spiritustablette bröckeln. Die Butter wartet schon ungeduldig. Man kann das ohne Salz und ohne Pfeffer bewerkstelligen und begnügt sich mit feinem Weibrot, einigen Stengeln Bärlauch und klarem Wasser. Darüber vergißt man glatt den opulenten Regenbogen.
Und man kann im Anschluß derart bettschwer in den Schlafsack zum Garsnarbenhorchdienst sinken, daß man sogar den Roten Waldameisen milde vergibt, über deren Schlupfloch man ausgerechnet sein Ohr gebettet hat und die einen auf unabsehbare Zeit um den Schlaf bringen werden.
Abb.: Rote Waldameise (Formica rufa); Bildquelle: Wikipedia
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Im Buch heißt das Kapitel „Herbstkollektion mit optimaler Körbchengröße“. Nicht nur, weil wir Anfang August haben, sondern auch weil die beschriebene Handlung im Juni spielt und der Frauentäubling zwischen Juni und Anfang November Saison haben, entschied ich mich für „Saisonkollektion“.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
Titel: Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer
Verlag: Reclam Leipzig, 2001
Autor: Michael Rudolf (* 1961; † 2007)
ISBN: 3-379-01736-1
Link zum aktuellen Verlagsprogramm: https://www.reclam.de/programm
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Folgende Beiträge aus dem Buch sind bereits auf KRAUTJUNKER erschienen:
https://krautjunker.com/2017/09/27/horn-of-plenty-herbsttrompete-craterellus-cornucopiodes/
https://krautjunker.com/2017/09/03/krustenschmutz-und-pustelwulst-perlpilz-amanita-rubescens/
https://krautjunker.com/2017/05/19/saisonstart-am-elfenteich-schuppiger-porling-polyporus-squamosus/
https://krautjunker.com/2016/11/10/schwarze-diamanten-trueffel-tuber/
https://krautjunker.com/2016/09/29/vom-glueck-auf-dem-land-faltentintling-coprinus-atramentarius/
https://krautjunker.com/2016/09/05/unser-allergroesster-hallimasch-armillaria-ostoyae/
https://krautjunker.com/2016/07/10/landtage/
https://krautjunker.com/2016/07/05/der-weg-ist-das-ziel/
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Für die Bereitstellung des wunderschönen Fotos für das Titelbild bedanke ich mich einmal mehr bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher
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