Ausgetüftelte Büschelästhetik: Austernseitling (Pleurotus ostreatus)

von Michael Rudolf

Entgegen landläufiger Auffassung schmeckt panierter Parasol (Macrolepiota procera) selten gut. Mehr wie alter, muffiger Karpfen. Noch seltener sind panierte Parasolhüte für Vegetarier geeignet. Sosehr an dieser Stelle das Panieren als solches verherrlicht werden muß – es ist eine wenn auch vielfach umstrittene Veredlungsform für Bratgüter mit rabiat abgemindertem Eigengeschmack. Junge, flauschige Parasole gehören nicht zu dieser Kategorie. Merke also: Junge Parasole füllen oder knusprig braten, niemals jedoch panieren; alte Parasole dagegen einfach negieren, aus kulinarischer Sicht auf jeden Fall. Denn allein ihr Anblick ist es, der ihre Würde gebührend unterstreicht.

Und so kommt es unweigerlich, daß ein sogenanntes Wiener Schnitzel die denkbar überzeugendste Zubereitungsmöglichkeit für den im Volksmund auch Kalbsfleischpilz genannten, ansonsten sensorisch maßlos überschätzten Austernseitling darstellt. Da wird sicher eine Menge in seine Sensorik hineininterpretiert. Wer auf die Idee gekommen war, ihn den Speisepilzen zuzurechnen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Aber wir kriegen ihn hin! Keine Angst. – Eßbar kann viel bedeuten. Tatsache ist, daß der panierte Austernseitlling sehr nach Panade schmeckt. Beziehungsweise nur.

Seine Exklusivität bezieht der Pilz gewiß aus der Platzierung seiner Fruktifikationstermine. Die hat er nämlich clever aufs Winterhalbjahr gelegt, und wer das Glück hat, ihn manchmal von abgestorbenen, demnächst ins Sägemehllager überwechselnden Weiden- oder Buchenstämmen zu brechen, der ruft laut und vernehmlich: „Juppiduh! Pilz!“ Auch an Lebendholz, dreivier Meter über der Erdoberfläche postiert, schaut der Austernseitling weit ins Land, daß man mit Zehenspitzen waghalsig auf den Fahrradsattel balancieren und ihn mit dem nächstbesten Ast abschlagen muß. Wenn er nicht aus reinem Übermut gleich ein paar entscheidende Zentimeter höher rückt. Wer weniger sportlich ist, kauft ihn als Zuchtpilz oder züchtet ihn selber – der Unterschied nimmt sich nicht viel. In abgelegeneren Gegenden, heißt es, wüchsen die Austernseitlinge auch an Licht- oder Telefonmasten, und das Servicepersonal wäre überglücklich, wenn es an den gefrorenen Pilzstufen hochkraxeln, eine Lampe problemlos wechseln beziehungsweise die Telefonkabel entknoten oder neu zusammenschnüren könne.

Es ist schon ein fesselnder Anblick. Disziplinierte Lamellen – creme- oder elfenbeingetönt – stützen eine laterale blaugraue bis tiefbraune, am Rand eingerollte Hutmuschel. Sauber abgestimmt erscheint die Anordnung kleinster, mittlerer und größerer Fruchtkörper, mithin eine ausgetüftelte Büschelästhetik. Für wahre Connaisseurs reicht das.

Und wer Wiener Austernschnitzel unbedingt ausprobieren muß, befreie die gummiartigen Fruchtkörper von den seitlich angewachsenen Stielansätzen und kontrolliere sie nach etwaigen Verschmutzungen. Wurmbefall ist kaum zu befürchten. Die Lammellenseite dezent salzen und ordentlich Pfeffer geben, den Pilz in Mehl und in Hühnerei baden. Dann unverzüglich die Semmelbrösel ankleben. Von jeder Seite fünf Minuten in Butter braten. Mehr ist da nicht zu tun.

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Michael Rudolf

Michael Rudolf (* 14. Mai 1961 in Marienberg; † 2. Februar 2007 bei Greiz) war ein deutscher Schriftsteller und Verleger. Der Brauerei-Ingenieur veröffentlichte mehrere Bierführer und galt ob seines Sarkasmus als „Deutschlands gefürchtetster Biertrinker“. Der Schriftsteller Wiglaf Droste (* 27. Juni 1961 in Herford; † 15. Mai 2019 in Pottenstein) schrieb über ihn: „Als größter Pilzdichter dürfte Michael Rudolf gelten, der im Februar 2007 aus dem Leben in die ewigen Pilzjagdgründe gegangene Thüringer Schriftsteller, der alles über Vielfalt und Eigensinn der Pilze wusste. Betrat er die rund um seine Heimatstadt Greiz gelegenen Wälder, eröffneten sich im Bilder wie aus russischen Märchen.“ Michael Rudolf war der einzige Schriftsteller, dessen Texte im westdeutschen TITANIC-Magazin und dem ostdeutschen EULENSPIEGEL erschienen sind. Er schreib ebenfalls für taz, konkret und Junge Welt. Aus seinem Pilzbuch Hexenei und Krötenstuhl finden sich mehrere Texte im KRAUTJUNKER. Am Ende dieses Blogbeitrages habe ich mehrere Weblinks eingefügt.

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Anmerkungen

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hexenei und krötenstuhl

Ich bedanke mich bei dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf meinem Weblog und empfehle einen geneigten Blick in das aktuelle Verlagsprogramm.

Titel: Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer

Verlag: Reclam Leipzig, 2001

Autor: Michael Rudolf

ISBN: 3-379-01736-1

Link zum aktuellen Verlagsprogramm: https://www.reclam.de/programm

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Folgende Beiträge aus dem Buch sind bereits auf KRAUTJUNKER erschienen:

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Für die Bereitstellung des Fotos bedanke ich mich bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher


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