Der russische Pilzjäger über Steinpilze in Fichtenwäldern

von Wladimir Solouchin

Auf Wasneczows Gemälde „Die Zarentochter auf dem grauen Wolf“ ist ein Fichtenwald zu sehen. Ein Maler, der einen Wald besonders finster, undurchdringlich, düster, märchenhaft und verzaubert darstellen mußte, wählte also nicht den heiteren Birkenwald, nicht den geschäftigen Espenwald, nicht den kerzengraden Kiefernwald und auch nicht den Eichenwald, der einem wolkigen Sommerhimmel gleicht (nur daß die Wolken hier grün sind), er wählte den Fichtenwald und er hat recht daran getan.

Gleich neben unserem Dorf gibt es ein freilich nicht sehr großes Waldstück, klassicher Fichtenwald, so daß ich es beim Erzählen immer vor Augen haben werde…
Oben in dieser Pflanzung hatte damals meine Mutter so viele Reizker gesammelt, daß mein Vater das Pferd anspannen, einen großen Birkenrindekorb auf den Wagen stellen und ihr zur Hilfe kommen mußte. In einem der vorangegangenen Kapitel habe ich davon berichtet (siehe: https://krautjunker.com/2017/11/28/erinnerungen-von-pilzjaegern-aus-russland/ ).
Natürlich habe ich diesen Wald nicht mehr als junges dichtes Wäldchen mit spitzen Wipfeln erlebt, wo noch Gras zwischen den Bäumen und vor allem zwischen den Baumreihen wuchs. Allmählich hatten sich die Zweige ausgebreitet, ineinander verflochten, einen dichten Schatten gebildet und den Boden mit ihren Nadeln übersät. Mit zunehmendem Alter hatte sich der Wald gelichtet oder war vielleicht auch mit der Axt gelichtet worden, damit die Bäume genügend Raum hätten. Die Fichten waren immer höher gewachsen, ihre Zweige hatten sich immer weiter ausgebreitet, und so war jener Fichtenwald entstanden, von dem ich jetzt spreche.
In diesem Wald gibt es keinerlei Unterholz, nicht einmal Gras. Die dunkle braune Streu aus Nadeln ist zwar sehr dick, man kann doch ahnen, daß die ganze obere Erdschicht von dicken knotigen Wurzelstöcken durchzogen ist. In diesem Wald ist man von dunklen braunen Stämmen umgeben, die nach allen Seiten auseinanderstreben und sich schließlich in einem aus Braun mit Dunkelgrün gemischten Halbdunkel verlieren. Unten am Boden haben die Stämme samt und sonders keinen einzigen Ast, weiter oben aber beginnt gleich die breite Kröne. Und da die Bäume alle gleich alt sind, haben auch ihre Kronen allesamt die gleiche Höhe. Der Himmel ist in diesem dunklen Wald nicht zu sehen, weil jede Fichte danach trachtet, die Zweige der anderen zu berühren, und so verwehren sie dem Tageslicht den Zugritt.
Kommt man von der sonnenüberfluteten grünen Wiese in diesen Wald, so ist es, als träte man von der Straße in ein halbdunkles Zimmer. Die Augen brauchen eine Weile, bis sie sich daran gewöhnt haben. Erst dann beginnt man, jeden Fichtenzapfen, jeden Pilz auf dem Boden zu unterscheiden. Nur bei Sonnenuntergang, wenn die Sonnenstrahlen über die Erde gleiten, dringen sie, roten Scheinwerfern gleich, tief in den Wald ein. Um diese Zeit sind die Stämme an der einen Seite purpurrot, an der anderen schwarz gefärbt. Jedes Hügelchen, jeder Pilz wirft lange schwarze Schatten. Schaut man aber aus der Tiefe des Waldes in Richtung der untergehenden Sonne, so erblickt man einen von schwarzen Baumstämmen zerfurchten roten Himmelsstreifen. Alles in unserem Fichtenwald ist um diese Stunde irgendwie bizarr, unwirklich und phantastisch. Bei Sonnenaufgang würde der Himmel wahrscheinlich blenden, und jeder Stamm wäre von einer leuchtenden Aureole umgeben, bei Sonnenuntergang jedoch ist alles ruhig, stumm und leblos.
Kaum ist man etwas tiefer in diesen Wald hineingegangen, will es der Zufall, daß augenblicklich ein Vogel mit unheilverkündender Stimme zu schreien beginnt. Sein Schrei läßt einem in der abgeklärten Stille und gespannten Aufmerksamkeit das Blut in den Adern gefrieren. Die letzten Jahre haben diesen Wald in einen Kehrichthaufen verwandelt. Niemand räumt mehr die von den Fichten herabgefallenen abgestorbenen Ästchen fort. Aber ich kann mich noch erinnern, daß es in diesem Wald sauber war, wie in einer ordentlich gefegten Stube, betrachtet man die dicke Streu aus dunklen Fichtennadeln einmal als Fußboden. Diese Streu federt ein wenig beim Gehen, der Fuß gleitet darüber hin, und man sieht darauf selbst den kleinsten Pilz, vom ausgewachsenen Schönsten der Schönen, dem Steinpilz ganz zu schweigen:
Folgende Bemerkungen sind keine Verse, kein Poem, ja nicht einmal eine Erzählung. Hier ist es geboten, von den Pilzen so zu sprechen: „Der Steinpilz ist eine allgemein bekannte Art der wildwachsenden Hutpilze, deren Fruchtkörper ein überaus wertvolles, in vielen Ländern der Welt, besonders in der Sowjetunion, beliebtes Nahrungsmittel darstellen“, wie es auch der Wissenschaftler B. P. Wassilkow in seinem Buch „Der Steinpilz – Versuch einer Monographie der Art“ tut. Oder hier noch kategorischer: „Der Steinpilz ist von allen Speisepilzen der wertvollste.“

Werk 5

In einem anderen Buch lesen wir über den Steinpilz fast dasselbe: „Nach Ansicht eines richtigen Pilzsammlers haben wir uns wie Ignoranten benommen, weil wir ohne Zögern die verschiedenen Täublinge: Die preiselbeerroten, die gelben, die weißen, die bläulichen, die rauchfarbenen, ja selbst die grünen, aber auch die Pfifferlinge, Birkenreizker, Parasolschwämme, Darjaslippen, Milchlinge, ganz zu schweigen von den Stinktäublingen, links liegenließen.
Reizker und Butterpilz (im Grunde genommen mit die besten Pilze) wurden in unserer Unwissenheit von uns aufs gröblichste mißachtet. Auch Birkenpilze und Rotkappen wurden nicht für würdig befunden, in die Schar der Auserwählten eingereiht zu werden.
Wir waren einzig und allein auf Steinpilze erpicht, und selbst von diesen schnitten wir nur die Hüte ab. Am erbärmlichsten war nicht so sehr, daß wir die feste, schwere, wie Schweinespeck gemachte Wurzel wegwarfen, sondern daß wir die Schönheit eines Meisterwerks der Natur zerstört haben.
Es ist hier wie mit allem. Solange wir einen Reizker betrachten, meinen wir, es gäbe keinen schöneren Pilz. Diese Frische, diese dunklen konzentrischen Streifen auf dem feuerroten Untergrund, dise kristallklare Lache in seiner Hutmitte! Doch es braucht nur nur eine junge Rotkappe, die mit ihrem Köpfchen das dichte aschgraue Laub durchstoßen hat, in die Hände zu fallen, und schon sind alle Reizker vergessen. Ein kleiner weißer Stiel, dick und rund wie ein Pausback, und ein rotsamtenes Käppchen.
Man sieht sich alle diese Pilze an und denkt: Warum nur nennt man den Steinpilz ‚König der Pilze‘? Seine Farbe ist schlicht, bescheiden, er sieht nach nichts aus. Allenfalls nennt man ihn so seines Geschmacks, seiner Qualität wegen. Doch erblickt man ihn nur von fern, dann vergißt man alles. Es ist, als ob plötzlich anstelle von Blasinstrumenten oder Harmonikas eine Geige zu spielen begänne. Schlicht und dennoch unvergleichlich! Ja, das ist der König des Waldes, ein kleines Meisterwerk der Natur!“
Es ist ein bißchen peinlich, ein derart langes Zitat aus einem Buch abzuschreiben, das man selbst verfaßt hat. Doch es ist besser, früher Gesagtes ehrlich zu wiederholen, als dasselbe nochmals, nur mit anderen Worten, sagen zu wollen. Mit der Meisterschaft verhält es sich vielleicht ein wenig anders, denn die Natur kennt keine mehr oder minder vollkommenen Schöpfungen. Alles, was die Natur hervorgebracht hat, ist auf seine Weise vollkommen, gleichgültig, ob Elefant oder Ameise. Vom Standpunkt des Imkers aus freilich ist die Ameise unbegabt, was aber die Produktion von Ameisenspiritus angeht, so ist es die Biene. Eine winzige Ameise, sei es auch die schlechteste, würde indes spielend diese Aufgabe bewältigen. Deshalb ist es mir völlig ernst, wenn ich sage, die Natur kennt keine mehr und keine minder vollkommenen Schöpfungen. Eine solche Einteilung ist nur denkbar vom menschlichen Standpunkt aus. In unseren Augen ist die Birke besser als die Espe, die Mohrrübe besser als eine bittere Klette oder Brennnessel, die Rotkappe besser als der Fliegenpilz. Obgleich dieser Gesichtspunkt keiner Kritik standhält.
Gewiß, die Mohrrübe gibt man in die Suppe oder verzehrt sie roh, weil sie viel Vitamin A enthält. Trotzdem wird das so überaus wertvolle Klettenöl aus einer Pflanze gewonnen, die wir bittere Klette nennen. Doch genug davon. Halten wir fest, daß es, von unserer Warte aus gesehen, mehr und weniger gelungene Schöpfungen der Natur gibt. Mag sein, die Mücke ist ein höchst vollkommenes Geschöpf, in meinen Augen wird sie nie wertvoller, edler und talentierter sein als die Biene.
Von unserem menschlichen Standpunkt aus kann man von Talenten und Meisterwerken unter den Pilzen, aber auch von mittelmäßigen, ja unbegabten Pilzen sprechen. Ich sage das alles deshalb, weil jedes Pilztalent, jedes Pilzmeisterwerk Nachahmer, Imitatoren, Anpasser hat, die ebenso heißen, nur dazu „falsch“. Falscher Hallimasch, falscher Pfifferling, falscher Champignon, falscher Stinktäubling. Übrigens besitzt auch der Stinktäubling selbst, obschon er nicht als falscher Steinpilz gilt, die wundersame Fähigkeit, aus der Ferne wie ein vorzüglicher Steinpilz zu wirken. In diesem Zusammenhang auch etwas zu den bemerkenswerten Besonderheiten des edlen „Königs der Pilze“, die ich festgestellt habe.
Wie oft habe ich mich schon seitwärts in die Büsche geschlagen, weil ich den graubraunen Hut eines Steinpilzes erspäht hatte. Noch drei Schritte davor kommen einem mitunter Zweifel: Es kann doch nicht sein, daß ein Stinktäubling dem Steinpilz so zum Verwechseln ähnlich sieht! Und erst, wenn man sich gebückt hat und ihn in der Hand hält, wird einem klar, daß man es mit einer Imitation zu tun hat: Statt des tiefen, geheimnisvollen Funkelns des Brillanten – das billige spiegelblanke Glänzen des Glasstückchens, statt des gleichmäßigen Glühens von Gold – die fatale Entdeckung einer Vergoldung, statt der soliden, verläßlichen Schwere des Silberpokals – die stümperhafte Leichtigkeit des Aluminiums. Vor Ärger und Verdruß schleudert man den abgerissenen Stinktäubling so weit wie möglich von sich und geht weiter, darüber philosophierend, daß auch im Leben, in der Kunst beispielsweise, Talentlosigkeit sehr oft zu Talent verfälscht wird, obendrein so gekonnt, daß man sie für bare Münze nimmt.
Ich habe schon viele Male Stinktäublinge von weitem für Steinpilze
gehalten, doch noch nie einen echten Steinpilz für einen Stinktäubling. Bei Glaskow findet sich ein Vierzeiler über die Nichtumkehrbarkeit eines Vergleiches. Es heißt dort, daß zwar ein auf dem Herd pfeifender Teekessel an eine Sirene erinnere, eine Sirene aber niemanden an einen pfeifenden Teekessel denken lasse. So ist es auch hier.

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Hier geht es weiter: https://krautjunker.com/2018/05/17/der-russische-pilzjaeger-ueber-steinpilze/

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Anmerkungen

Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Die dritte Jagd

Titel: Die dritte Jagd – Betrachtungen eines Pilzjägers

Autor: Wladimir Solouchin

Verlag: Aufbau-Verlag; Auflage: 1. Auflage (1981)

Verlagslink: http://www.aufbau-verlag.de/

ASIN: B002HWJ1DG

Übersetzerin: Barbara Heitkam

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Für die Bereitstellung des wunderschönen Fotos bedanke ich mich einmal mehr bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher

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Leider ist dieses wunderbare Buch seit Jahrzehnten vergriffen. Zum Glück ist es meist für schmales Geld antiquarisch erhältlich. Mein Jagdtipp: http://www.buchhai.de/

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Weitere Leseproben? Einfach in der Suchmaske des Blogs „Wladimir Solouchin“ eingeben. Oder eben auf Google „Krautjunker Wladimir Solouchin“. Für die ungeordneten Weblinks unter diesem Beitrag bitte ich um Pardon. Das neue WordPress Gutenberg macht mich gerade irre.



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