Es ist mir eine Freude, aus dem seit Jahrzehnten vergriffenem Buch Die dritte Jagd – Betrachtungen eines Pilzjägers von Wladimir Solouchin (* 1924 – †1997), die erste von mehreren Leseproben vorzustellen.
Wladimir Solouchin, aus der kyrillischen Schrift auch als Vladimir Soloukhin übersetzt, war ein russischer Literat und Poet, der ab den 1960ern begann, für die volkstümlichen Traditionen des vorrevolutionären Russlands zu schwärmen, teils auch als Monarchist bezeichnet wird. Im Sowjetsozialismus, in dem die totale Verstaatlichung des Lebens unter linker Programmatik anstand, eine lebensgefährliche Haltung. Zum einen muss er unter den Genossen mehr als einen hochgestellten Beschützer gehabt haben, zum anderen zog er sich wie Henry David Thoreau in die freie Wildbahn zurück.
Der Titel Die dritte Jagd bezieht sich auf eine Textstelle des Schriftstellers Sergei Timofejewitsch Aksakow (* 1791 – † 1859). Dessen unvollendetes drittes Werk über die „Jagd“ auf Pilze hätte mit seinen Büchern Aufzeichnungen über das Angeln von Fischen und Aufzeichnungen eines Flintenjägers aus dem Gouvernement Orenburg eine Trilogie gebildet.
Beginn der Leseprobe aus Die dritte Jagd – Betrachtungen eines Pilzjägers:
von Wladimir Solouchin
»Die Kindheit hinterläßt im Leben eines Menschen die nachhaltigsten Eindrücke. Alles was mit der Kindheit verbunden ist, erscheint uns im nachhinein wunderschön. Sein Leben lang steht der Mensch im Banne dieses goldenen, aber leider auf immer entrückten Landes. Ihm bleiben nur die Erinnerungen, die die Seele aufwühlen, süß und unerschöpflich sind. Sogar in der Kindheit erlittene Schicksalsschläge dünken uns später nicht mehr schrecklich, sondern erscheinen in milderem, versöhnlicherem Licht
(Textkürzung)
Doch auch die Menschheit hatte ihre Kindheit. Man konnte nichts im Laden kaufen, es gab keine Cafés, Restaurants und Geschäfte, die Lebensmittel frei Haus lieferten. Alles von der Haselnuß bis zum Mammutfleisch, vom Fisch bis zum Pilz, mußte selbst beschafft werden. In jenen Zeiten war die Jagd, war der Fischfang, war das Sammeln der Gaben des Waldes, die Pilze nicht ausgenommen, kein Vergnügen, keine Leidenschaft, keine Passion einzelner Sonderlinge, sondern Alltag.
(Textkürzung)
Natürlich war die Nahrungsbeschaffung in der Urgesellschaft kein Vergnügen, sondern zwingende Notwendigkeit. Heute aber, da Jahrhunderte vergangen sind und die Nahrungsbeschaffung nicht mehr im Erlegen von Wild besteht, vielmehr darin, an der Werkbank zu stehen oder im Büro zu sitzen, sind die Erinnerungen an die rauhe Morgendämmerung der Menschheit, die in den unerforschten Tiefen des menschlichen Wesens schlummern, für uns in ein rosiges, romantisches Licht getaucht.
Ich glaube, die Passion für die Jagd, für den Fischfang oder für die Pilze ist nichts anderes als die vage Erinnerung an die Kindheit des Menschengeschlechts. Eben deshalb ist diese Passion süß und willkommen. Keineswegs sind dies bloße Erinnerungen. Man kann offenbar zu jenem früheren Zustand zurückkehren, da man allein im Wald oder am Fluß war und es vom eigenen Können, von der eigenen Gewandtheit und vom eigenen Scharfsinn abhing, ob man ein Birkhuhn erlegte, einen Hecht fing, einen Korb voller Reizker oder Steinpilze heimbrachte oder nicht.
Manche mögen es für übertrieben halten, daß ich das Pilzesammeln zur Jagd rechne, als Jagd bezeichne. Ich suche wiederum Unterstützung bei Aksakow.
„Unter den mannigfaltigen Jagdarten, die der Mensch betreibt, hat auch die bescheidene Jagd, das In-die-Pilze-Gehen oder Pilzesammeln, seinen Platz. Wenn sie sich naturgemäß auch nicht mit anderen Jagdarten, die schon deshalb lebhafter sind, weil man es dort mit Tieren zu tun hat, vergleichen läßt, sich auch nicht mit vielen sozusagen zweitrangigen Jagdarten messen kann, die im Übrigen ihren eigenen Reiz haben. Ich gebe sogar den Pilzen den Vorzug, weil man diese suchen muß und eventuell gar nicht findet. Hier braucht es eine gewisse Geschicklichkeit, Wissen um die Fundstätte, Geländekenntnis und Glück. Hier sind Ungewißheit und Zufall im Spiel, Erfolg und Mißerfolg, das zusammengenommen schürt die Jagdlust im Menschen und macht den besonderen Reiz aus.“
In diesem Fall müßte man doch das Sammeln von Beeren – Erdbeeren, Himbeeren, Preiselbeeren, Moosbeeren – oder das Sammeln von Nüssen zu den „Jagdarten“ zählen. Zumal es sich bei ihnen gleichfalls um „Gaben des Waldes“ handelt und sie demzufolge ebenso die Millionen Jahre alten Erinnerungen, von denen kurz zuvor die Rede war, wachrufen müßten.
(Textkürzung)
Da hätten Sie nun also drei weitere Jagdarten, denn es ist nicht einzusehen, warum Erdbeeren und Nüsse, wenn man das Pilzesammeln als Jagd bezeichnet, schlechter dran sein sollten. Doch hier muß mit aller Entschiedenheit auf einen gewaltigen Unterschied hingewiesen werden. Das Beerensammeln kann nie und nimmer den hohen und verpflichtenden Rang der Jagd beanspruchen. Denken wir nur an die Einförmigkeit. Wenn Sie Erdbeeren sammeln, so erwarten Sie nichts anderes. Sie können nicht insgeheim auf eine freudige Überraschung, auf einen besonderen Erfolg, auf eine Rarität, auf eine Entdeckung, auf einen unvermuteten Fund hoffen. Das gilt für die Himbeeren und Nüsse, nicht aber für Pilze. Die Mannigfaltigkeit der Gattung Pilze, ihre unterschiedlichen Eigenschaften, ihr unterschiedlicher Geschmack, ihre so verschiedenartige Schönheit bewirken jenes augenfällige Interesse beim Suchen, das beim Beerensammeln fehlt.
Dort kann die Verschiedenartigkeit nur in dem einen bestehen: mehr oder weniger. Drei Pfund Erdbeeren oder zwei, ein halber Sack Nüsse oder ein ganzer. Kein einziges Mal aber wird unser Herzschlag aussetzen, wie dies zuweilen geschieht, wenn man auf eine Reihe kerniger Reizker oder einen besonders schönen, unter einer Fichte verborgenen Steinpilz stößt.
Folgendes hat sich unlängst zugetragen. Bei Wladimir fanden Pilzsammler in einem Park vor der Stadt, der freilich ein ganz gewöhnlicher Kiefernwald ist, einen Steinpilz. Höhe vierzig, Hutbreite sechzig, Stärke des Stiels sechsundzwanzig Zentimeter. Er wog an die sechs Kilo und wies keinen einzigen Wurmstich auf. Was haben Erdbeeren oder Himbeeren der Begeisterung über einen so seltenen Fund entgegenzusetzen? Nun mag das wirklich eine Rarität gewesen sein. Dennoch sind auch die gewöhnlicheren Pilze außerordentlich mannigfaltig.
Pilze sucht man, Beeren werden lediglich gesammelt.
(Textkürzung)
Wo aber bleibt hier [Anmerkung: bei dem Sammeln von Beeren und Nüssen] das Jagdfieber, die Leidenschaft, außer der recht profanen, möglichst viel zu bekommen?
Man muß also zugeben, von allen Gaben des Waldes, zumindest in unseren Wäldern, können nur die Pilze der hohen Ehre für würdig befunden und als Jagdobjekt bezeichnet werden, das dem Wild und dem Fischen ebenbürtig oder fast ebenbürtig ist.
Ich kann mich nicht zu den Jägern, und sei es auch nur zu den Sonntagsjägern, zählen. Auch hier bin ich nur Dilettant. Trotzdem habe ich so manchen taufrischen Morgen, so manchen Tag bei Nieselregen in den Pilzwäldern verbracht. Ich kenne die Freude über einen seltenen Erfolg, kenne fast jeden Pilz vom Sehen. Zudem verfüge ich über ein gerüttelt Maß Objektivität, das es mir stets verwehrt hat, einen Pilz voreilig mit dem Etikett „Knollenblätterpilz“ zu versehen, nur weil ich den Pilz noch nicht kannte
(Textkürzung)
Im allgemeinen bereitet mir das Auslesen der Pilze kaum weniger Vergnügen als das Sammeln, vorausgesetzt, ich kann den eigenen Korb durchsehen. Vom langen Umherirren im Wald ist man müde, vielleicht auch vom Regen durchnäßt. Dann tut es gut, trockene Sachen anzuziehen, zu frühstücken, Tee zu trinken, bei einem schönen Buch auszuruhen oder sogar, wenn man schon vor Tau und Tag aufgebrochen ist, ein wenig zu schlummern.
Man muß nämlich vor Tagesanbruch aufstehen. Während man sich fertigmacht und ehe man dann im Wald ist, wird es schon hell. Entscheid ist nicht etwa, anderen zuvorzukommen, aber es liegt ein eigener Reiz darin, frühmorgens auf die Pirsch zu gehen, ganz gleich, wonach man jagd. Beim Fischfang versteht sich das von selbst: Fische beißen im Morgengrauen am besten. Auf die Pilze trifft dies zwar nicht zu, und doch macht es einen gewaltigen Unterschied, wann man in einen Pilzwald geht: in der stillen, geheimnisvollen Morgendämmerung, bei lautloser angenehmer Kühle oder am heißen Mittag, wenn weder im Wald noch im Herzen die rechte Pilzstimmung herrscht. In der Mittagsstunde läßt es sich gut Beeren sammeln, Waldhimbeeren, Nüsse, doch Pilze – nein! Auch die Gewißheit, daß dieser Wald noch nicht von flinken Pilzsammlern, Rivalen also, durchkämmt worden ist, hat ihre Bedeutung.
Mag sein, ich spreche nur für mich, mag sein, alle anderen gehen lieber mittags oder gar abends in die Pilze – ich weiß es nicht. Doch heißt bei den Franzosen „frühmorgens“ nicht von ungefähr „bonne heure“, „schöne Stunde“. Ich jedenfalls liebe die „schöne Stunde“. Für mich gibt es nichts Angenehmeres, als im Wald zu sein, wenn es dort noch dämmrig still und unberührt ist, wenn mich schon unter der ersten Fichte ein Pilz erwartet, als wäre er absichtlich möglichst nah an den Waldrand herangegangen, um mir sofort unter die Augen zu kommen und mein Herz zu erfreuen. Und wenn es schon am Waldrand unberührte Pilze gibt, dann bin ich wirklich und wahrhaftig der erste und kann getrost langsam gehen, kann mir Zeit lassen und muß nicht um meine weiter gelegenen Lieblingsplätze bangen. Freilich kann es auch geschehen, daß du plötzlich auf Überreste von Pilzen, Pilzschnitzel, stößt und, indes du dich deinem Lieblingsplatz näherst, gedämpfte Stimmen vernimmst. Pilzsammler vermeiden, ebenso wie Angler, überflüssigen Lärm und lautstarke Unterhaltungen. Was soll’s, man ist dir zuvorgekommen, mach dir nichts draus. Bei jeder Pirsch gibt es Erfolg und Mißererfolg, auch bei der Jagd auf Pilze.«
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Der Titel ist nur noch antiquarisch erhältlich. Von daher ist es besonders dankenswert, dass mir der Aufbau-Verlag trotzdem das Copyright für Leseproben gewährt. Für die vierte Jagd, die gloriose Jagd auf seltene und kapitale Bücher, empfehle ich www.buchhai.de.
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Anmerkungen
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Titel: Die dritte Jagd – Betrachtungen eines Pilzjägers
Autor: Wladimir Solouchin
Verlag: Aufbau-Verlag; Auflage: 1. Auflage (1981)
Verlagslink: http://www.aufbau-verlag.de/
ASIN: B002HWJ1DG
Übersetzerin: Barbara Heitkam
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Weitere Leseproben:
https://krautjunker.com/2017/10/17/der-russische-pilzjaeger-ueber-butterpilze/
https://krautjunker.com/2017/11/28/erinnerungen-von-pilzjaegern-aus-russland/
Das ist ein ganz wunderbares,liebevoll geschriebenes Büch über die Jagd nach Pilzen.Für alle,die das mögen,sich auch richtig imWald verhalten,ist es zu empfhelen.Da ich es selber seit der 1 Auflage bisitze,bessere Pilzerlebnisse gibt es kaum,Hier sieht man die russische Seele,wie sie leibt und lebt.
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Der Titel „Die dritte Jagd“ bezieht sich auf das literarische Werk von Sergei Timofejewitsch Aksakow (* 1791; † 1859). Sein Buch „Über die Jagd“ erscheint zum Jahreswechsel im Eichelmändli Verlag (siehe: https://www.eichelmaendli.ch/b%C3%BCcher/aksakow-%C3%BCber-die-jagd/). Ich freu mich schon, denn die alten russischen Schriftsteller liebe ich ebenfalls.
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