von Wladimir Solouchin
Meine Pilzerinnerungen beginnen mit Erinnerungen an die Butterpilze…
Sicher ist der Butterpilz nicht nur für mich der erste Pilz gewesen. Ich kann mich freilich nicht dafür verbürgen, daß er der am weitesten verbreitete Pilz in unseren mittelrussischen Wäldern ist. Vielleicht gibt es mehr Stinktäublinge oder Pfifferlinge? Jedenfalls bringt er es fertig, einem als erster unter die Augen zu kommen, sicher deshalb, weil er am Waldrand seinen Standort hat.
Bei den Pilzen ist der Butterpilz das gleiche wie der Löwenzahn unter den Blumen. Andere Blumen – Vergißmeinnicht, Hahnenfuß, Klee, Katzenpfötchen – mögen nicht weniger häufig vorkommen, und doch flechten die Dorfmädchen nicht aus Trollblumen, ja nicht einmal aus Kornblumen den ersten Kranz ihres Lebens, sondern aus Löwenzahn.
Ein Waldrand muß es sein, doch beileibe nicht jeder. In Frage kommen nur Kiefernwälder, vor allem junge.
In einem alten Nadelwald dürfte man schwerlich einen Butterpilz finden, bevorzugter Standort der Butterpilze sind vielmehr junge Kiefern, zwischen denen grünes Gras wächst.
Wenn man weiß, daß jeder Pilz mit einem ganz bestimmten Baum zusammen lebt, dann, seien wir gerecht, hat sich der Butterpilz nicht den schlechtesten ausgesucht. Wenn aber umgekehrt der Baum sich die Pilze aussucht (da tappen wir vorläufig noch im dunkeln), beweist auch die Kiefer guten Geschmack: siehe Kiefernreizker und Steinpilz.
Schön ist dieser Baum in jungen Jahren, wenn er noch ein Bäumchen ist, leichtendgrün, duftend und schlank. Es ist eine Freude, ihn anzusehen, wenn er im Frühling seine zarten, fast weißen Kerzen in die Höhe streckt. Zu dieser Zeit hat die kleine Kiefer nur horizontale Zweige, lediglich die Kerzen wachsen senkrecht empor, und so gleicht sie einem riesigen, mit Kerzen bestückten Kronleuchter.
Berührt man eine Kiefer zur Zeit der Blüte, so hüllt sie sich in eine goldfarbene duftige Wolke aus Blütenstaub. Bald darauf bildet die Kiefer leuchtendgrüne Firniszäpfchen aus, die später rissig werden, Samen streuen und zu Boden fallen. Dann kann man sie sammeln und deamit den Samowar heizen.
Wächst eine Kiefer abseits vom Wald, ist sie klein und knotig und streckt nach allen Seiten lange zottige Zweige aus. Der Stamm ist voller Verdickungen und krumm, ein Ast kürzer, der andere länger, der eine flauschiger, der andere trockener. Nicht so im Wald.
Stehen die Kiefern dicht an dicht, bilden sie einen Hain oder Nadelwald. Dann strebt jeder Baum nach oben, hzur Sonne, trachtet jeder danach, seine Nachbarn zu überflügeln, doch auch diese wollen nicht zurückstehen. Die unteren Ästchen solcher Bäume verdorren und fallen zu Boden. Der Baum schießt wie ein Pfeil oder eine Kerze lang und gleichmäßig in die Höhe. Hoch hinauf, und es hat den Anschein, als reichten die dunkelgrünen matten Wölkchen ihrer Kronen bis unter die weißen Wolken. Dann spricht man von Bauholz, in der Zeit ihrer vollen Reife – von Schiffsbauholz.
Um junge Kiefern herum wachsen grünes Gras und Waldblumen, in einem alten Wald weißes Moos, Heidelbeeren und Farnkraut. Unter jungen Kiefern wird man vergeblich nach Steinpilzen Ausschau halten, und in einem Nadelwald, wo es weißes Moos oder Heidelbeeren gibt, wird man schwerlich Butterpilze finden. Alles an seinem Platz!
Selbst die berühmten Kiefernluft ist nicht immer gleich. In jungen Kiefernbeständen duftet es mehr nach den zwarten grünen Nadeln, in alten nach dem reifen, herben Harz des Holzes. Junge Kieferngehölze haben den Beigeschmack von Sonne, ein alter Nadelwald den von Feuchtigkeit und Nässe.
Ich weiß nicht, wo es schöner ist, was man vorziehen sollte. Der Butterpilz jedenfalls hat sich die jungen Kiefern ausgesucht und gedeiht vorwiegend in ihrer Nähe. Sollte man ihn wirklich einmal unter ausgewachsenen Kiefern antreffen, dann in einem stark gelichteten Wald mit spärlichem Baumbestand, den man nicht mehr als Wald bezeichnen würde.
Butterpilze sind ein recht geselliges Völkchen. Wo einer ist, da sind gewiß auch noch fünf andere. Was heißt fünf! Lange Reihen von Butterpilzen verbergen sich im grünen Gras, bald rotbraun, bald rötlich. Während man eine Reihe abschneidet, entdeckt man schon wieder neue, den ganzen Waldrand entlang. Man weiß nicht, wo man zuerst hinschauen soll – die Augen huschen bald hierhin, bald dorthin.
Schön ist es, wenn man rechtzeitig gekommen ist und alle Pilze noch fest und kühl sind. Mitunter aber stößt man auf einen Haufen Butterpilze, die allesamt madig, überständig, zu groß geraten und vertrocknet sind. Man schneidet sie zu Dutzenden ab, einfach so, für alle Fälle, doch nur einer von hundert landet im Korb.
Die Butterpilze gehören zu den ersten Pilzen, die aus dem Boden schießen; man kann sie schon Anfang Juni sammeln. In dieser Zeit wird man sich hauptsächlich an sie halten, weil weder Rotkappen noch Steinpilze, weder Reizker noch Milchlinge schon ausreichend vorhanden sind. Später, wenn es auch andere Pilze in Hülle und Fülle gibt, werden die Butterpilze aus irgendeinem Grund verschmäht, übrigens zu Unrecht.
Gewiß, Steinpilz bleicht Steinpilz, und Milchling bleibt Milchling. Vergleicht man aber die Butterpilze mit den Birkenpilzen oder Rotkappen, so weiß ich wirklich nicht, warum ich letzteren den Vorzug geben sollte. Der Butterpilz ist einer der wohlschmeckendsten und besten Pilze.
Man nehme nur einmal die vier Arten der Zubereitung von Pilzen: Schmoren, Trocknen, Marinieren und Einsalzen. Außer zum Einsalzen kann man Butterpilze zu allem verwenden. Ein geschmorter Butterpilz ist äußerst zart und wohlriechend. Zumal man bei dem Überfluß an Butterpilzen zum Schmoren nur die jüngsten zu nehmen braucht. Da die Butterpilze wirklich mit zu den ersten Pilzen gehören, werden sie auch meist das erste Pilzgericht sein, das nach dem langen Winterfasten auf den Tisch kommt. Dieses hat dann bekanntlich einen besonderen Reiz.
An dieser Stelle sei mir eine kleine Abschweifung über Pilze gestattet, die sich zum Schmoren eignen. Lange Zeit wußte ich nicht, daß man sich für den ganzen Winter mit geschmorten Pilzen versorgen kann. Die erste, die mich darin unterwies war Maria Illarionowna Twardowskaja. Bei einem pompösen Empfang, wo unablässig hochtrabende Reden über den sozialistischen Realismus, den positiven Helden in der sowjetischen Literatur und die Therie der Konfliktlosigkeit gehalten wurden, hatten wir uns etwas von den anderen abgesondert, und nu kam folgende Unterhaltung zustande.
„Wie!“ rief Maria Illarionowna aus. „Das wissen Sie nicht? Und wir essen den ganzen Winter über herrliche geschmorte Pilze!“
„Wir kaufen auch hin und wieder frische Champignons.“
„Wieso Chamgignons? Richtige Waldpilze!“
Das Verfahren erwies sich als verblüffend einfach. Die ohne Zwiebeln und ohne jedes Gewürz kräftig geschmorten Pilze werden, dicht an dicht, in ein Einweckglas gelegt und mit zerlassener Butter übergossen. Die Butter erstarrt, und das ist schon die ganze Konservierung. Natürlich sollte man die Pilze kühl aufbewahren. Dieses offenbar uralte Verfahren stammt von den herrschaftlichen Gütern in der Art des Larinschen Gutes, wo man ausschließlich von eigenen Vorräten lebte. Heute, wo Pasteurisierung gang und gäbe ist, wo man Deckel und Einweckapparate hat, könnte man vermutlich auch ohne zerlassene Butter auskommen und geschmorte Pilze auf die gleiche Weise konservieren wie ein beliebiges Kompott. Aber nicht davon sollte die Rede sein.
Wahrscheinlich ist nicht nur das Verkommen saisonbedingt, sondern auch der Verbrauch. So ist im Frühling und zum Sommeranfang frisches Gemüse nicht mit Geld zu bezahlen, und seien es auch nur Treibhausgurken. Man zerschneidet sie der Länge nach und schnuppert zunächst einmal. Gierig zieht man den frischen, leicht bitteren Duft ein. Im Juli und August verzichtet vermutlich jeder zugunsten eines nach Dill duftenden Salzgürkchens gern auf frische Gurken. Zwar gibt es ein Sprichwort über Erdbeeren im Januar, doch Sie werden mir recht geben, daß wir im Januar nicht an Erdbeeren denken. Anscheinend ziehen wir im Januar einen guten Tee mit Erdbeerkonfitüre frischen Erdbeeren vor.
Nun, wir legten uns, nach dem bewußten Rezept, einen Vorrat an geschmorten Pilzen zu. Und was war? Den ganzen Winter über standen sie bei uns herum. Unter den verschiedensten Vorwänden schoben wir den Verzehr immer wieder auf, und schließlich vergaßen wir sie vollendes. Offenbar gelüstet es niemand im Winter nach frischen Pilzen. Kaum bot sich jedoch die Gelegenheit, da nahm ich den Bastkorb und machte mich auf die Sache nach den ersten, den süßesten Pilzen.
„Wo willst du hin?“ hielt meine Frau mich zurück.
„In die Pilze.“
„Bist wohl nicht gescheit! Wir haben noch zwei Dreilitergläser aus dem Vorjahr. Die müssen wir erst einmal aufessen, dann können wir neue sammeln gehen.“
Nein! Allein um des Tages, um der Stunde willen, wenn in der Pfanne die gerade erst gesammelten Pilze des Jahres brutzeln, lohnt es, wintersüber auf frische Pilze zu verzichten.
Butterpilze werden entweder mariniert oder getrocknet. Das eine wie das andere ist nicht zu verachten. Zum Marinieren wählt man möglichst kleine und feste Pilze. Ich weiß noch, bei uns zu Hause wurden früher, als noch alles nach Hausmannsart und sozusagen mit der Hand gemacht wurde, nur die allerkleinsten Pilze für die Marinade genommen. Kein Pilz, der größer war als ein Dreikopekenstück, gelangte in die Marinade. Noch dazu schrumpft jeder Pilz beim Kochen zusammen und man ist dann baß erstaunt, sieht man die Pilze auf dem Teller, wie hat man die im Wald überhaupt im Gras bemerkt und wie das Häutchen abgezogen? Sie sind ja so winzig – kann man so etwas überhaupt in die Finger nehmen?
Die Hauptmasse der Butterpilze ging stets für das Trocknen drauf. Während der Fastenzeit und an Fastentagen wurden Pilzsuppen gekocht. Eine Suppe aus Butterpilzen ist sehr schmackhaft, dennoch würde ich sie nicht ausdrücklich empfehlen, hat man eigens zur Suppe bestimmte Pilze zur Verfügung. Gemischt mit getrockneten Rotkappen, Birkenpilzen und Hallimarsch, sollte man Butterpilze lieber zu Pilzkaviar verarbeiten.
Der Butterpilz ist also einer der wohlschmeckendsten und gesündesten Pilze in unseren Breiten. Nimmt man ihn dennoch auf dem Höhepunkt der Pilzsaison nicht so gern, dann weiß ich dafür nur zwei Gründe: Erstens gibt es Butterpilze in Hülle und Fülle, sie springen einem nur so in die Augen, kaum daß man den Wald betritt. Und dann ist der Butterpilz auch der einzige Pilz, den man putzen, dem man das Häutchen abziehen muß. Obschon es sich sehr leicht abziehen läßt, ist das Putzen von Butterpilzen, zumal wenn diese zahlreich und auch noch sehr klein und glitschig sind, doch eine sehr zeitraubende und lästige Arbeit. Die Hände werden dabei schwarz, und es dauert lange, bis sie wieder ganz sauber sind. Sie geben mir sicher recht, daß es einfacher ist, Pilze zu sammeln, von denen man nur den Waldschmutz abzuschütteln braucht und sie dann in Pfanne oder Kochtopf werfen kann.
Um den Exkurs über die Butterpilze abzuschließen, möchte ich eine kleine Geschichte zum besten geben, die mit diesen Pilzen in Verbindung steht und der man den Titel geben könnte „Wie ich mich heute erinnere“.
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KRAUTJUNKER-Kommentar: Die Geschichte „Wie ich mich heute erinnere“ folgt in den nächsten Tagen.
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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Gruppe bei Facebook.
Titel: Die dritte Jagd – Betrachtungen eines Pilzjägers
Autor: Wladimir Solouchin
Verlag: Aufbau-Verlag; Auflage: 1. Auflage (1981)
Verlagslink: http://www.aufbau-verlag.de/
ASIN: B002HWJ1DG
Übersetzerin: Barbara Heitkam
Holzschnitte: Ellen Willnow
Hinweis: Der Titel ist leider längst vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich. Ich fände es großartig, wenn er zumindest als E-Book wieder aufgelegt werden würde. Bis dahin empfehle ich zur vierten Jagd – der gloriosen Jagd auf seltene und kapitale Bücher – die Suchseite http://www.buchhai.de
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Erste Leseprobe: https://krautjunker.com/2017/10/02/die-dritte-jagd-betrachtungen-eines-pilzjaegers/
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