von Wladimir Solouchin
Ich habe schon viele Male Stinktäublinge von weitem für Steinpilze gehalten, doch noch nie einen echten Steinpilz für einen Stinktäubling. Bei Glaskow findet sich ein Vierzeiler über die Unumkehrbarkeit eines Vergleiches. Es heißt dort, daß zwar ein auf dem Herd pfeifender Teekessel an eine Sirene erinnere, eine Sirene aber niemanden an einen pfeifenden Teekessel denken lasse. So ist es auch hier.
Was macht dem Pilzjäger den Steinpilz noch so teuer? Die Tatsache, daß man jedesmal, wenn man einen entdeckt, zweimal Herzklopfen bekommt. Das erstemal, wenn man einen wunderschönen Steinpilz erspäht und weiß, der ist einem sicher. Man kann nun getrost um ihn herumgehen, sich von verschiedenen Seiten an ihm ergötzen, sich anschauen, wie er in die Umgebung des Waldes eingepaßt wurde. Wie er mit jenem Fichtenzweiglein dort, das ihn den Blicken der Verübergehenden entzieht, eine Einheit bildet.


Und auch mit jener knorrigen Fichtenwurzel, neben der er wächst, mit jenem Ameisenpfad, über den, wie auf einer belebten Autobahn, die Arbeiter des Waldes hin und her hasten. Ja, es gibt vieles, mit dem sich unser schöner Steinpilz verbinden und eine Mikrolandschaft bilden kann. Ein Grashalm, ein Büschel Moos, die zusammengeklebten Nadeln der Fichtenstreu, die er während seines Wachsens aufgewühlt hat, und schließlich seine Nachbarn: der Fliegenpilz, Schleimröhrling, der Stinktäubling.
Man freut sich seines Fundes, doch ganz wohl ist einem nicht dabei. Schön ist er ja, alles was recht ist, aber er könnte vom Wurm zerfressen sein. Man schneidet also einen Pilz ab, und dann findet man innen Mulm oder wenigstens winzige weißliche Maden in unzähligen kleinen Löchern. Mit letzter Hoffnung schneidet man die weißen Rädchen vom Stiel ab. Vielleicht sind dort, so nahe am Hut, keine Maden. Doch auch hier sind Wurmgänge. Nun bleibt noch der Hut selbst. Man zerschneidet ihn und schleudert ihn zu Boden. Nicht dein war die Beute! Vor dir haben schon die widerwärtigen Waldfliegen diesen Pilz entdeckt, ihn erobert und ihre Eier darin abgelegt, aus denen jetzt die noch widerwärtigeren Waldmaden geschlüpft sind.
Dafür bekommst du ein zweites Mal Herzklopfen, wenn du den Pilz direkt am Boden abschneidest und feststellst, das Fleisch des Stiels ist so weiß und makellos wie saure Sahne oder Schweinespeck. Es ist, als hättest du den Pilz zweimal gefunden, hat er dir doch doppelte Jägerfreude beschert.
In allen populären Büchern und Artikeln über Pilze werden die Barbaren von Pilzsammlern verdammt, die die Pilze nicht abschneiden, sondern vollständig, mit dem Wurzelgeflecht ausreißen. Ich habe oft genug auf Ratschläge kluger Leute hören und sie mir hinter die Ohren schreiben müssen, um nicht als Barbar zu gelten. Und das, obwohl ich sehr wohl wußte, daß es eine Sache ist, einen Steinpilz abzuschneiden, eine ganz andere aber, ihn erst leicht im Boden hin und her zu rütteln, bis er sich knirschend vom Pilzlager löst, und ihn dann vorsichtig aus dem tiefen Erdnest herauszuziehen. Dabei kann man sich überzeugen, daß man beim Abschneiden des Pilzes gut die Hälfte (was die Masse anbetrifft) im Boden hätte verfaulen lassen.
Aber da behauptet doch unser großer Mykologe B.P. Wassilkow, ein Wissenschaftler, der sein Leben den Pilzen geweiht hat, der Steinpilz müsse durchaus nicht immer abgeschnitten werden. Auch beim Abreißen nehme das Pilzlager keinen Schaden. Abgerissen werden lediglich die Stränge, die den Stiel des Pilzes mit dem Pilzlager verbinden. Man sollte Wassilkow glauben und nicht auf die Pilzsammler schimpfen, die einen Steinpilz erst abreißen und dann mit dem Messer putzen.
Natürlich gibt es auch Pilze, die man lieber abschneiden als abreißen wird. Zum Beispiel die Reizker, die Butterpilze, die Hallimasche, ja auch die Milchlinge. Schneidet man aber einen Steinpilz ab, bringt man sich um das halbe Vergnügen.
Wenn wir einen Butterpilz oder einen Täubling oder gar einen Reizker abreißen, würde es uns nicht im Traum einfallen, diesen zu beschnuppern und den durchdringenden und feinen Geruch einzuziehen, den dieser, Gott weiß wo, im Boden gefunden und bewahrt hat. Es ist dumm von uns, denn der Butterpilz duftet höchst angenehm, der Reizker riecht herrlich, der Hallimasch strömt Wohlgerüche aus, und der Champignon verblüfft durch seinen Duft. Doch alle diese Pilze treten in hellen Scharen auf, und es wäre einigermaßen komisch, wollte man an jedem Pilz schnuppern. Wenn es hoch kommt, bricht man den ersten Pilz, den man findet, auseinander und riecht daran.
Hat man dagegen einen Steinpilz entdeckt, ihn behutsam abgepflückt und hält dieses feste, kühle, schwere, samtene Gebilde in Händen, dann möchte man ihn als erstes an die Nase führen und langsam und genüßlich die Luft einziehen, auf daß sich zu dem frischen Duft des Morgenwaldes noch der des Pilzes geselle. Da aber wird man eine Enttäuschung erleben. Im Unterschied zu seinen minder edlen Verwandten, den verschiedenen Butterpilzen, fehlt dem Steinpilz nämlich jegliches Aroma, jeglicher Geruch. Ein frischer Steinpilz riecht buchstäblich nach nichts. Er strömt höchstens ein wenig Kühle und Frische aus.
Um so erstaunlicher ist es, daß der getrocknete Steinpilz plötzlich einen sehr kräftigen Geruch verbreitet, ebenjenen unverwechselbaren Pilzgeruch, der bei anderen Pilzen sozusagen schon in wäßrigem Zustand vorhanden ist.
Der Duft getrockneter Steinpilze ist mit nichts zu vergleichen: weder mit dem anderer Pilze noch überhaupt mit irgendwelchen Gerüchen. Deshalb zeichnen sich auch alle Gerichte, denen getrocknete Steinpilze beigefügt sind, durch einen ungewöhnlichen Wohlgeruch und Geschmack aus. In meinen Augen bedeutet jede andere Art der Zubereitung von Steinpilzen als das Trocknen, ein unschätzbares, einzigartiges Geschenk der Natur zu verderben.
Zweifellos sind auch gebratene Steinpilze nicht zu verachten. Wenn man sie auf die gleiche Weise probiert, wie man Wein kostet, ohne die Sorte zu kennen, sozusagen „blind“, wird man feststellen, daß Steinpilze gebraten keinen Deut besser schmecken als Butterpilze, Rotkappen, Birkenpilze, Pfifferlinge, von den Champignons ganz zu schweigen.
Gewiß marinierte Steinpilze sind wohlschmeckiend und schön zugleich. Ihre graubraunen Hüte werden in der Marinade heller, sie nehmen eine zartgelbe Farbe an, und die Stiele bleiben weiß. Und so sehen sie denn im Einweckglas und auf dem Teller aus, als kämen sie frisch aus dem Wald. Sie wirken im Glas viel appetitlicher als marinierte Butterpilze, Pfifferlinge oder Birkenpilze. Aber, Hand aufs Herz, ich könnte nicht sagen, daß ein marinierter Steinpilz irgendeinen besonderen Geschmack hätte, der ihn von anderen Pilzen unterscheiden, ja, über diese erheben würde.
Steinpilze werden praktisch nicht eingesalzen.
Diese Behauptung stimmt natürlich nur bedingt. Jeder Pilz kann universell verwendet werden. Man kann Täublinge, Reizker und Milchlinge braten und Butterpilze und Rotkappen einsalzen. Man kann Champignons, Boviste und Pfifferlinge trocknen und Morcheln marinieren. Mit einem Wort, man kann jeden Speisepilz braten, einsalzen und marinieren.
In Bulgarien habe ich Konfitüre aus Mohrrüben und grünen Tomaten probiert. Auch das ist also möglich. Trotzdem wird mir wohl jeder recht geben, daß man Mohrrüben besser an die Suppe tun und Konfitäre besser aus Erdbeeren kochen sollte.
So ist es auch hier. Natürlich kann man hie und da Milchling und Steinpilz ihre Rollen tauschen lassen, den Milchling also trocknen und den Steinpilz einsalzen. Aber es geht uns um die beste, um die sinnvollste, um die optimale Verwendung dieses oder jener Pilzart.
Und da kommt nur das Trocknen in Frage. Steinpilze werden bekanntlich auf besondere Weise getrocknet. Nicht auf Eisen- oder Kuchenblechen, sondern aufgereiht auf einer Schnur. Früher pflegte man sie auf dünne Kienspäne zu spießen und diese mit den unteren leeren Enden in einen Topf zu stellen, so wie man Blumen in eine Vase stellt. So ragten die Späne mit den aufgefädelten Pilzen wie ein Bündel aus dem Topf. Die Pilze waren natürlich ganz, und einer mußte zum anderen passen. Diese ganze Vorrichtung wurde in einen Ofen gestellt, bei mittlerer Hitze. Die Hausfrau wußte, wann der richtige Zeitpunkt war.
Getrocknete Steinpilze werden auch fäden- oder bundweise verkauft. Auf jedem Markt findet man Händler mit getrockneten Steinpilzen. Eine kleine Schnur kostet einen Rubel, eine größere zweieinhalb, eine sehr große fünf Rubel. Geht man nach dem Gewicht, so sind getrocknete Steinpilze viel teurer als Fleisch und Fisch, teurer selbst als die erlesensten Früchte, als Honig und Nüsse, teurer als alle Lebensmittel, vielleicht sogar teurer als schwarzer Kaviar, obschon dieser jetzt bei uns unwahrscheinlich viel kostet.
Aber sie sind auch ihren Preis wert. Nicht nur, weil eine Bouillon aus Steinpilzen sieben- bis neunmal kalorienhaltiger ist als Fleischbrühe, auch nicht, weil angeblich der regelmäßige Genuß von Steinpilzen als Prophylaxe gegen Krebs dient, sondern weil sich erst getrocknete und dann gekochte Steinpilze mit nichts in der Welt vergleichen lassen. Es sind nicht die Pilze selbst, es ist der Geschmack, den sie jedem Gericht, das man aus ihnen zubereit, verleihen. Meist wird das eine Suppe aus getrockneten Steinpilzen sein.
Alle anderen Pilze sammelt man mit Vorliebe, solange sie jung sind. Einen jungen Butterpilz, eine junge Rotkappe, einen jungen Birkenpilz, einen jungen Reizker, so groß wie ein Dreikopekenstück, einen jungen Stinktäubling. Und nur, wenn man einen großen Steinpilz findet, freut man sich mehr als bei einem jungen und kleinen, vorausgesetzt, er ist nicht madig. Tatsächlich ist die Begeisterung geringer, stößt man auf einen Steinpilz von der Größe einer Walnuß, mag er noch so fest sein. Natürlich freut man sich, ihn abzupflücken, aber irgendwie tut es einem doch wieder leid. Schön wäre es, ließe man ihn unbehelligt, auf daß er heranwachse, breiter und höher, vor allem aber schwerer werde, daß man seine solide kostbare Schwere deutlich spürt. Ein Steinpilz von der Größe einer Teetasse erfreut das Herz schon mehr. Im Korb macht er was her. Ist er aber gar so groß wie ein Teeschälchen, allerdings mit rundem Hut und einem Stiel, ähnlich einer umgstülpten Teetasse, und ist er weder madig noch die Unterseite des Hutes gelb, sondern weiß und fest, dann ist das ein wirklicher Erfolg, eine echte Freude für den Pilzsammler.

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Anmerkungen
Von KRAUTJUNKER existiert eine Facebook-Gruppe.

Titel: Die dritte Jagd – Betrachtungen eines Pilzjägers
Autor: Wladimir Solouchin
Verlag: Aufbau-Verlag; Auflage: 1. Auflage (1981)
Verlagslink: http://www.aufbau-verlag.de/
ASIN: B002HWJ1DG
Übersetzerin: Barbara Heitkam
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Für die Bereitstellung des wunderschönen Fotos für das Titelbild bedanke ich mich einmal mehr bei Roland Letscher.
copyright ©Roland Letscher
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Leider ist dieses wunderbare Buch seit Jahrzehnten vergriffen. Zum Glück ist es meist für schmales Geld antiquarisch erhältlich. Mein Jagdtipp: http://www.buchhai.de/
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Weitere Leseproben:
https://krautjunker.com/2017/10/02/die-dritte-jagd-betrachtungen-eines-pilzjaegers/
https://krautjunker.com/2017/10/17/der-russische-pilzjaeger-ueber-butterpilze/
https://krautjunker.com/2017/11/28/erinnerungen-von-pilzjaegern-aus-russland/
https://krautjunker.com/2018/01/20/der-russische-pilzjaeger-ueber-espen-rotkappen-und-pilzkaviar/
Wunderbar, was der gute Mann zum Thema Pilze schreiben kann. Dankeschön für diesen Buchtipp.
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Danke, daß Du das wunderbare Buch von Vladimir Solouchin in Auszügen vorstellst. Ich habe es als Kind gelesen und konnte wirklich jede einzelne Zeile davon fühlen. So sind wir Pilzjäger!
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Wladimir Solouchin bezieht sich mit seinem Titel auf Aksakow:
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